• Keine Ergebnisse gefunden

Betrachtung der Strukturpolitik in gesamtwirtschaftlicher Perspektive:

Eine Beurteilung der Strukturpolitik nur unter dem Gesichtspunkt der Umverteilung zwischen den EU-Staaten verkennt die indirekten Folgen und Ausstrahlungseffekte der Kohäsionsmittel in ge-samteuropäischer Perspektive, aber auch ihre breite strukturelle und strategische Wirkung in und für Deutschland (vgl. Kap. 4.5.2). Nettozahler-Länder der EU wie Deutschland, Frankreich o-der die Nieo-derlande ziehen wirtschaftlich insofern einen Nutzen aus o-der Kohäsionspolitik, weil (infrastrukturelle) Investitionsausgaben oder beschäftigungspolitische Maßnahmen in den ost- und südeuropäischen Empfängerländern eine größere Nachfrage nach Konsum- und Produktions-gütern als unmittelbaren Effekt zur Folge haben, die größtenteils aus den EU-15 Ländern bedient wird.65

Laut einer Studie des polnischen Ministeriums für regionale Entwicklung führe eine Netto-Aus-gabe von 1 Euro, die von den EU-15 Ländern im Rahmen der Kohäsionspolitik in einem der Vise-grád-Ländern ausgegeben wird, im Durchschnitt zu zusätzlichen Exporten aus den EU-15 in die Visegrád-Staaten in Höhe von 61 Eurocent. Die Ausweitung der Handelsbeziehungen zwischen den „alten“ und „neuen“ EU-Mitgliedern verteilt sich jedoch nicht gleichmäßig auf die einzelnen Mitgliedsländer. In absoluten Zahlen hat Deutschland die größten zusätzlichen Exportvorteile (31,5 Mrd. Euro zwischen 2007 und 2013) im Außenhandel mit den Visegrád-Staaten, gefolgt von Italien (6,9 Mrd. Euro), den Niederlanden (6,4 Mrd. Euro) und dem Vereinigten Königreich (4,8 Mrd. Euro).66 Nach indikativen Schätzungen der EU-Kommission in einem hypothetischen Beispiel führt eine Investition der Strukturfonds i.H.v. 1 Euro in Ost- oder Südeuropa sogar zu ei-nem Rückfluss von 70 Eurocent nach Deutschland durch Aufträge für hiesige Unternehmen.67 Damit trägt die Kohäsionspolitik europaweit zum Aufbau von neuen Wertschöpfungsketten, zur Steigerung des Kapitalstocks sowie zu einer Ausweitung des Außenhandels und einer engeren Verflechtung und Interdependenz der europäischen Volkswirtschaften im gemeinsamen Binnen-markt bei. Auch aufgrund der Kohäsionspolitik konnte sich der Europäische BinnenBinnen-markt in den letzten Dekaden in Richtung eines hochgradig spezialisierten, regionalen Wirtschaftraums mit ei-nem intensiven Güter- und Dienstleistungsaustausch weiterentwickeln. Diese enge Verflechtung

64 Koordinierungsausschuss der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (2016), Regionalpoliti-scher Bericht der Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ 2016, S. 16.

65 LSE Enterprise (2011), Study of the Impact of the Single Market on Cohesion: Implications for Cohesion Policy, Growth and Com-petitiveness.

66 Polish Ministry of Regional Development (2011), Evaluation of benefits to the EU-15 countries resulting from the implementation ot the Cohesion Policy in the Visegrad Group countries, Final Report.

67 DER SPIEGEL ONLINE (6.04.2018), Geldentzug für Osteuropa droht Deutschland zu schädigen, DER SPIEGEL ONLINE

(http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/eu-kommission-geldentzug-fuer-osteuropa-wuerde-westen-beschaedigen-a-1201199.html, zuletzt abgerufen: 02.05.18). Die EU-Kommission räumt ein zwar, dass es sich bei dieser Zahl nur um einen „geschätzten Richtwert“

handelt, aber einer neueren Studie zufolge profitiere Deutschland am meisten vom europäischen Handel. Felbermayr, Gröschl, Hei-land (2018), Undoing Europe in a New Quantitative Trade Model, Ifo Working Papers (250) und Dreger (2016), Der wirtschaftliche Nutzen Europas für Deutschland, in: Böttger, Jopp (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Europapolitik, Baden-Baden 2016, S. 77-90.

und Vernetzung beinhalten, dass sich die wirtschaftlichen Entwicklungen der EU-Mitgliedsstaaten gegenseitig stark beeinflussen.68

Insbesondere in Deutschland sind solche makroökonomischen Spillover-Effekte aufgrund der engen wirtschaftlichen Verflechtungen mit den Staaten der EU deutlich zu beobachten; zum Bei-spiel im Automobilsektor. Aufgrund der hohen Exportquote Deutschlands profitiert die Wirtschaft hierzulande unmittelbar von prosperierenden Nachbarländern. Umgekehrt profitiert die EU von einem starken Deutschland, wie eine Untersuchung der Prognos AG gezeigt hat:69 Eine starke deutsche Wirtschaft schafft Wertschöpfung und Beschäftigung in ganz Europa. Allein die deut-sche Nachfrage nach EU-Gütern sorgt innerhalb der Europäideut-schen Union für fast 5 Mio. Arbeits-plätze, während deutsche Importe für eine Wertschöpfung von 240 Mrd. Euro sorgen. Vor diesem Hintergrund kommt der Strukturpolitik eine wichtige Rolle bei der Vertiefung der europäischen In-tegration und des Binnenmarkts zu.70

3.1 Übergeordnete makroökonomische Effekte der EU-Strukturpolitik

Kernerkenntnisse in Kürze:

Makroökonomische Modelle und Simulationsschätzungen deuten darauf hin, dass die Europä-ischen Struktur- und Investitionsfonds71 signifikante und positive Wirkungen auf die Wirt-schaftsleistung und Erwerbstätigkeit in den Zielländern und -regionen ausüben. Diese Wir-kungseffekte verstärken sich über den Zeitverlauf und halten auch über den Abschluss von In-terventionsprogrammen hinaus an (kumulativer Multiplikatoreffekt). Während unmittelbare konjunkturelle Effekte das Ergebnis zusätzlicher Ausgaben infolge einer (kurzfristigen) Nach-fragesteigerung sind, ist die Steigerung der Produktivität als mittel- und langfristiger Wirkungs-effekt auf der Angebotsseite zu nennen.

Es gibt eine große methodologische Bandbreite in den Analysen zu den empirischen

68 Prognos AG (2014), 20 Jahre Binnenmarkt, Wachstumseffekte der zunehmenden europäischen Integration, im Auftrag der Bertels-mann Stiftung.

69 Prognos AG (2018), Die Bedeutung der deutschen Wirtschaft für Europa, im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft.

70 Prognos AG (2017): trendletter – Vorsicht Legislaturfalle. Starkes Europa – starkes Deutschland, Berlin.

71 Rhomolo, Quest und Hermin beziehen sich in der Regel auf die ESI-Fonds als Ganzes, während in dieser Studie die Förderung durch den EFRE im Mittelpunkt steht.

HERMIN Fazit

Die stärksten Effekte treten in Osteuropaauf.

In entwickelten Staaten wie Deutschlandist der Effekt kleiner, aber noch positiv.

Die Ergebnisse von Quest zeigen signifikante Effekte

Multiplikator von 1,1%

bis 2020

Alle 3 Modelle schätzen positive, aber regional

Wirkungseffekten der Kohäsionspolitik. Studien und Untersuchungen verwenden verschiedene methodische Ansätze, die die Tatsache widerspiegeln, dass es keinen optimalen Bewertungsan-satz gibt und dass vielmehr jede Methode ihre eigenen Stärken und Schwächen beinhaltet. Im Allgemeinen kann man und Ex-Post-Bewertungsansätze unterscheiden. Bei Ex-Ante-Ansätzen handelt es sich oft um makroökonomische Modelle verschiedener Art, von denen die bekanntesten im Rahmen der Kohäsionspolitik HERMIN, QUEST und RHOMOLO sind. Abhängig von den jeweiligen Modellspezifikationen und dem gewählten Untersuchungszeitraum und der Fallauswahl können diese Modelle Wachstumseffekte in Höhe von bis zu 6 % für manche Länder oder Regionen berechnen.

3.1.1 Volkswirtschaftliche Gesamtwirkungen – Modell QUEST und HERMIN

Ziel der Kohäsionspolitik ist es, die Wirtschaftsleistung von Regionen, besonders im Hinblick auf die Entwicklung des BIP, der Erwerbstätigkeit, Arbeitsproduktivität und Investitionen zu verbes-sern. Da diese und andere makroökonomische Faktoren auf regionaler, nationaler und EU-Ebene interagieren und einer Reihe von Einflüssen, sowohl interner als auch externer Art, unterliegen, werden makroökonomische Modellrechnungen angewandt, um die Auswirkungen der Kohäsions-faktoren auf diese Variablen zu untersuchen.

Infobox: Funktionsweise und Limitationen von QUEST und HERMIN:

Zwei makroökonomische Modelle – QUEST und HERMIN – kommen bei der Betrachtung des Konvergenzzieles zum Einsatz. Das QUEST-Modell basiert auf Annahmen aus dem ne-okeynesianischem, allgemeinem Gleichgewichtsmodell, währenddessen HERMIN auf neoklas-sische Elemente auf der Angebotsseite zurückgreift. Die Arbeit mit zwei unterschiedlichen Mo-dellen, die auf unterschiedlichen wirtschaftstheoretischen Prämissen fußen, führt zu robuste-ren Prognosen der Wirkungseffekte der Kohäsions- und Strukturpolitik. Es muss dabei be-rücksichtigt werden, dass weder HERMIN noch QUEST die tatsächlichen Ergebnisse der Kohä-sionspolitik messen, sondern zukünftige Effekte schätzen. Die theoretischen Modellannah-men entsprechen dabei soweit wie möglich der empirischen Sachlage. Bei der Beurteilung der Auswirkungen der Kohäsionspolitik wird zwischen den kurzfristigen Folgen auf der Nach-frageseite und den langfristigen Folgen auf der Angebotsseite unterschieden. Die nachfrage-seitigen Effekte der Struktur- und Investitionsfonds sind vor allem im HERMIN-Modell zu er-kennen. Es lässt sich aber feststellen, dass die Kohäsionspolitik auch unter Berücksichtigung unterschiedlicher Annahmen über die Funktionsweise der Wirtschaft sowohl in kurzfristiger als auch in langfristiger Perspektive positive Auswirkungen auf die Entwicklung des BIP hat.

Die Wirkung der Kohäsionspolitik auf die Volkswirtschaften der EU ist erheblich und Investitio-nen zahlen sich langfristig gesehen positiv aus: Für die EU-12 (ohne Kroatien) wird nach dem QUEST-Modell geschätzt, dass die Investitionen im Zeitraum 2007-2013 ihr Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2015 um 3 % gesteigert haben. Ähnliche Schätzungen werden für das Jahr 2023 prog-nostiziert. Erwartungsgemäß ist die Wirkung in denjenigen Empfängerländern am größten, die auch die größten Fördermengen aus den Europäischen Struktur- und Investitionsfonds empfan-gen. Am Ende des Durchführungszeitraumes für die Programme 2007-2013 (d.h. im Jahr 2015) verzeichneten beispielsweise Lettland und Ungarn ein um rund 3,9 bzw. 3,6 % höheres Bruttoin-landsprodukt-Kopf. Die Europäische Kommission schätzt, dass die Auswirkungen der Pro-gramme von 2014-2020 das BIP von Polen um circa 3,4 % ansteigen lassen wird; jenes von Un-garn wird um 2,8 % bis zum Jahr 2023 zunehmen.72

72 Europäische Kommission (2017), Meine Region – Mein Europa – Unsere Zukunft, 7. Kohäsionsbericht über den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt, Kapitel 6.

Abbildung 19: Auswirkungen der kohäsionspolitischen Programme 2014-2020