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2.3 Phonologie und Morphologie

2.3.5 Die Flexionsformen des deutschen Definitartikels

2.3.5.1 Analyse der Artikelformen

2.3.5.1.3 dem und den

Die beiden Normalformen dem und den weisen in FOLK den höchsten Anteil von Reduktionsformen mit Stammtilgung auf, wobei der Anteil bei dem (m/em 18,7%) viel größer ist als bei den (n/en 5,6%). Unabhängig davon, dass in der Korpusana­

lyse keine Differenzierung nach pronominaler und determinativischer Verwen­

dung vorgenommen wurde, und der Anteil bei s als Determinativ noch wesentlich höher sein dürfte, deckt sich dieser Befund mit den Erkenntnissen anderer ein­

schlägiger Untersuchungen, z.B. Nüblings Recherche zu Vfn. in Korpora geschrie­

bener Sprache (2005: 118), und den Aussagen der Grammatiken zu Vfn. mit den, z.B. in der Duden­Grammatik (2009: 618).

Tab. 17: Relative Häufigkeit von dem- und den-Reduktionsformen mit Stammtilgung nach präpositionalen und nicht-präpositionalen Wortformen

(Abweichungen rundungsbedingt)

vorausgehende Wortform Reduktionsformen dem/den mit Stammtilgung Summe m/em (1002) n/en (469)

Präposition 62,1% 20,4%  82,5%

andere  6,1% 11,5%  17,5%

Summe (1471) 68,1% 31,9% 100%

Auch hier ist die Ursache bei der morphologischen Transparenz zu suchen. Auf­

grund der Existenz homophoner Reduktionsformen des Indefinitartikels laufen die auf den Nasal/Sibilant mit/ohne Schwa reduzierten Formen [ən, əm, n̩, m̩]

ohne overt kodierten Definitheitsmarker Gefahr, hinsichtlich Definitheit morpho­

logisch ambig zu sein. Für die Formen s, es/et gilt das übrigens nicht: Sie sind nie

Indefinitartikelformen, da eine potenzielle morphologische Ambiguität zwischen Definit­ und Indefinitartikel nur im Genitiv bestünde, der Stamm im Genitiv aber nicht getilgt wird. Speziell die Reduktionsformen n/en realisieren in der gespro­

chenen Sprache neben den Artikeln aber noch weitere, ganz verschiedene Ausdrucksklassen. Ermöglicht wird das dadurch, dass i.d.R. alle nötigen Satz­

typ­ und Wortstellungsinformationen zur Verfügung stehen, um die völlig unter­

schiedlichen syntaktischen Funktionen der homophonen Reduktionsformen zu identifizieren. Diese umfassende Polyfunktionalität der Transkriptionsformen n/

en lässt sich auch in FOLK leicht nachweisen: Sie sind belegt als Reduktionsfor­

men der Artikel ein­, den (80,5%), der Abtönungspartikel denn (6,8%), des Prono­

mens ihn (2,3%) und von Interjektionen ähm, hm etc. (1,5%). Bei den übrigen Belegen repräsentieren sie andere Wortarten (z.B. Konnektoren wie und, dann) oder sind im Transkript keinem Lemma zugeordnet (8,8%). Die hohe Frequenz als Abtönungspartikel erklärt sich dadurch, dass „Fragen mit denn […] die Stan­

dardvariante von interrogativen Sprechakten im Deutschen“ (Diewald 2007: 134) darstellen. Dementsprechend folgen alle Vorkommen in dieser Funktion in FOLK in geringem Abstand auf ein W­Element (wie, was, wo etc.), z.B. wie heißt_n des.

Sämtliche Vorkommen des Personalpronomens n/en stehen hingegen unmittel­

bar nach einem Ausdruck, der den linken Satzklammerteil bildet (finites Verb, Subjunktor etc.), oder nach einem darauffolgenden Personalpronomen, z.B.: des-wegen hab ich_n ja gekauft; ich würd_n kaufen. Als Indefinit­/Definitartikel eröff­

net n/en hingegen eine NP, z.B. ich hätt en anderen vorschlag; vielleicht kannst du_n regenschirm noch kurz hochheben. Entscheidend ist, dass die morphologi­

sche Transparenz von n/en aufgrund der Identifizierbarkeit der Wortart und – daraus abzuleiten – der Kasuskodierung nicht beeinträchtigt ist.

Im FOLK­Transkript wurde bei Reduktionsformen mit Stammtilgung, die für einen Artikel oder ein Pronomen stehen, kontextabhängig eine Zuordnung zu einer definiten (d­) oder indefiniten (ein­) Normalform vorgenommen.139 Die Interpretation von n/en und m/em als Definit­ oder Indefinitartikel bzw. definites oder indefinites Pronomen (hier als {Def.}/{Indef.} gekennzeichnet)140 ist in

139 Eine eindeutige Zuordnung ist semantisch gelegentlich schwierig. Darauf weist z.B. auch Hartmann in Bezug auf Präposition­Artikel­Verschmelzungen hin: Je nach Kontext rückt bei nichtspezifischer Interpretation „die Verwendung von Verschmelzungen in die Nähe des unbe­

stimmten Artikels in der nichtspezifischen Lesart“ (1978: 80).

140 Ob Definitheit eine einheitliche grammatische Kategorie darstellt, die mit den Werten {− def.} bzw. {+def.} belegt werden kann oder als Bündel von distinkten Kategorien aufzufassen ist (vgl. ‘identifiability’ und ‘inclusiveness’ bei Lyons 1999), soll an dieser Stelle offen gelassen werden. Für das Dt. und It. sollen die Merkmale, die Definita und Indefinita unterscheiden, je­

weils unter dem Label {Def.} bzw. {Indef.} zusammengefasst werden.

Bezug auf die Transkriptionsformen komplementär verteilt (vgl. Tab. 18). Die häu­

figen Nominativ­ bzw. Akkusativormen n/en werden überwiegend (87,6%) als indefinit interpretiert, wohingegen es bei den deutlich selteneren Dativformen m/

em genau umgekehrt ist (10,6%). Die Quote der definiten Form bei den eindeutig silbisch transkribierten Formen em/en ist geringer als bei m/n, was einen Zusam­

menhang zwischen Silbifizierung und Definitheitskodierung erkennen lässt.

Tab. 18: Zuordnung potenziell ambiger Transkriptionsformen zu def. bzw. indef. Artikeln/

Pronomina in FOLK

Annota-tion potenziell ambige Transkriptionsformen er (78) m

(1027) em (114) n

(6289) en (1192) s

(1278) es/et

(67) e

(486)

def. 96,2% 90,7% 69,3% 7,2% 2,7% 100,0% 100,0% 2,5%

indef. 3,8% 9,3% 30,7% 92,8% 97,3% 0,0% 0,0% 97,5%

Summe 100% 100% 100% 100% 100% 100% 100% 100%

Diese Evidenz aus der gesprochenen Sprache liefert eine plausible Erklärung, warum Reduktionsformen bzw. Präposition­Artikel­Enklisen im M.Sg.Akk. (z.B.

fürn, aufn usw.) viel seltener sind als solche im M.Sg.Dat.: Die Verwendung dieser Formen setzt eine Umkehrung der typischen, frequenziell gefestigten Definit­

heitskodierung des enklitischen n/en voraus. Die starke Kodierungspräferenz [ən, n̩]{Indef.} bzw. [əm, m̩]{Def.} äußert sich auch indirekt bei der Selektion der Reduk­

tionsformen in Abhängigkeit von der phonotaktischen Umgebung. Wo eine enkli­

tische dativische Reduktionsform eines intendierten Definitartikels auf einen wortfinalen Nasal folgt, entsteht eine Sequenz [­n#əm{Def.}], die homophon mit der Indefinitartikelform ’nem [nəm] ist und somit einen Konflikt mit der typischen Definitheitskodierung verursacht (ebenso im Akk.: [­n#ən{Def.}] vs. ’nen [nən]{Indef.}).

Es ist daher erwartbar und durch die Korpusdaten bestätigt, dass solche Sequen­

zen vermieden werden und postnasal stattdessen morphologisch eindeutigere Formen bevorzugt werden. Nachweisen lässt sich das mithilfe einer Betrachtung der frequentesten dem­Transkriptionsvarianten em, m, dem, de141 in zwei phono­

141 Grundlage der Unterscheidung von Definit­ und Indefinitartikel ist die im Korpus für jede transkribierte Artikelform vorliegende Zuordnung einer standardorthographischen Form, z.B.

ein, einen, einem, den oder dem. Nach Stichproben zu urteilen ist der Anteil pronominaler (nicht­

determinativischer) Verwendung sehr gering.

taktisch distinkten Kontexten. Unterschieden wurden zu diesem Zweck Sequen­

zen von wortfinalem ­n oder ­m + Definitartikel sowie alle übrigen Sequenzen, bei denen die gesuchten Transkriptionsformen nicht äußerungsinitial stehen bzw.

ihnen keine längere Pause vorausgeht:

Tab. 19: Transkriptionsformen von dem und phonotaktische Umgebung in FOLK (Summe weicht rundungsbedingt ab)

Transkriptionsformen

von dem (5254) vorausgehender wortfinaler Laut

nicht nasal (3840) nasal (1414)

dem, de 74,3% 98,7%

em, m 25,2% 1,1%

andere 0,6% 0,3%

Summe 100% 100%

Die Ergebnisse in Tabelle 19 zeigen sehr deutlich, dass in postnasaler Umge­

bung fast ausschließlich die morphologisch eindeutig als Definitartikel identi­

fizierbaren Formen dem, de (ohne Stammtilgung) stehen. Diese Verteilung kann nicht allein darauf zurückgeführt werden, dass in der Standardlautung silbi­

sche Nasale nach Sonoranten (Duden 2005: 39) vermieden werden. Eine solche Sequenz wäre durch silbisches em artikulatorisch problemlos zu realisieren.

Vielmehr fördert die geringere morphologische Transparenz von n/en im Ver­

gleich zu m/em die Selektion der morphologisch eindeutigen Formen ohne Stammtilgung.

Betrachtet man die Kookkurrenzen der klitischen Definitartikel in FOLK, so liegt der Schluss nahe, dass – zumindest für einen Teil der Sprecher – die redu­

zierten bzw. enklitischen Definitartikel =m{Def.} und =s{Def.} syntagmatisch (aber nicht phonologisch) eine so weit fortgeschrittene Eigenständigkeit besitzen, dass ihre phonologische Form nicht vom unmittelbar vorausgehenden Wort, der potenziellen klitischen Basis, abhängt. Dafür spricht auch die Tatsache, dass diese Formen nicht nur Enklisen mit Präpositionen bilden (vgl. „des trau ich_m johannes jetz au net zu“; „weil ma hier einfach mal net s große motor besteuerge­

rät nehmen wollen“) und s= in FOLK auch in proklitischer Position äußerungs­

initial bzw. nach einer Pause belegt ist (z.B. „(0.59) s steuergerät“). Es handelt sich hier offenbar nicht einfach um phonostilistische Schnellsprechvarianten, sondern um Formen, die der NP spezifische, von den Vollformen dem, das abwei­

chende semantisch­funktionale Eigenschaften verleihen (siehe 2.5.4.4). Über eine solche Selbstständigkeit scheint trotz seiner hochgradigen Polysemie auch =n zu

verfügen, das in determinativischer Funktion allerdings überwiegend die Kodie­

rung {Indef.} besitzt: Der reduzierte bzw. klitische Definitartikel =n{Def.} (n=) ist ebenfalls „frei“, d.h. sein Vorkommen ist syntagmatisch nicht an die Position in der PP gebunden, z.B. „[des sin zwei] teile also_n zweiten teil hab ich leider nich gesehen“; „[n ga]nzen tag“. Die in FOLK erhobenen Frequenzdaten lassen aber keinen Zweifel daran, dass =ɐ und =ə als Definitartikelformen keine solche Selbstständigkeit besitzen: Bei den nicht an eine Präposition gebundenen For­

men handelt es sich fast ausschließlich um klitische Pronomina ([ɐ]) bzw. Non­

Standard­Indefinitartikel ([ə]).