Die Entwicklung der Untersuchung von Aminen und Polyaminen im Pansen ist stark mit der zunehmenden Technik zur Konservierung von Futtermitteln assoziiert. Zu Beginn konzentrierten sich die Untersuchungen auf Histamin als potentielles Agens in der Pathogenese der Pansentympanie (SHINOZAKI 1957). In folgenden ruminalen
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Infusions- und Fütterungsstudien konnten verschiedene Effekte des Aminzusatzes herausgestellt werden (s. Tab. 2.5).
Tab. 2.5: Effekte von Amin- und Polyaminzusätzen und Futtermitteln bzw. der physiologischen Pansenentwicklung auf den ruminalen Amingehalt, die Pansenfermentation und das Tier
Putrescin 100 g/Tier/Tag i. rum. Rind Reduzierte Futteraufnahme
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Die Aufklärung der Pansentympanie war der Beginn der Untersuchungen zu Aminen im Pansen. Für Histamin konnte keine Verbindung zur Pansentympanie hergestellt werden; vielmehr wurde entdeckt, dass neben Histamin auch Methylamin und Tyramin im Pansen durch mikrobielle Fermentationsvorgänge bzw. Aminosäuredecarboxy-lierung entstehen und dass Histamin bei intaktem Pansenepithel nicht gut absorbiert wird (SHINOZAKI 1957).
Aus der vorliegenden Literatur ist ersichtlich, dass Amine mehrfach mit einer Reduktion der Futteraufnahme in Verbindung gebracht werden (COLE 1992; LINGAAS u. TVEIT 1992; VAN OS et al. 1997; PHUNTSOK et al. 1998).
Bei Induktion von akuten und subakuten Pansenazidosen kommt es nachweislich zu einem Anstieg der Amingehalte im Pansen bzw. in der Pansenflüssigkeit in vitro (IRWIN et al. 1979; WANG et al. 2013b). MAO et al. (2016) konnten zudem zeigen, dass die Pufferung des ruminalen pH-Wertes in vitro zu einem geringeren Anstieg der Amingehalte führt, im Vergleich mit pH-Werten im Bereich von subakuten Pansen-azidosen (pH 5,2–5,8).
Auch die mikrobielle Metabolisierung von Aminen im Pansen konnte durch VAN OS et al. (1997) sowie PHUNTSOK et al. (1998) bestätigt werden.
Dies lässt eine entsprechende Verschiebung bzw. Erhöhung des Amin- und Polyamin-stoffwechsels bei der Fermentation von Grassilagen mit reduziertem Reineiweißgehalt vermuten, die durch konzentratreiche Fütterung und Proteinzusatz bzw. Beeinflussung des Proteinstoffwechsels der Mikroflora noch gesteigert werden könnte.
Zudem ist bekannt geworden, dass eine Absorption von Aminen aus dem Pansen nur in sehr geringem Umfang stattfindet, die Pansenwand jedoch durch die vorkom-menden Aminosäuredecarboxylasen in der Lage ist, Polyamine zu synthetisieren (ELIASSEN u. SJAASTAD 2000). Eine Synthese der Amine findet vor allem bei Schädigung des Epithels und bei physiologischen Entwicklungsprozessen statt (ASCHENBACH u. GÄBEL 2000; ELIASSEN u. SJAASTAD 2000).
Auch konnten in der Literatur für Amine in hohen Dosen (> 1,4 g pro Tier und Tag) bei Ziegen toxische Effekte nachgewiesen werden (FUSI et al. 2004, s. Tab. 2.5), deren potentielle Dosis es im Folgenden zu bewerten gilt.
In Abbildung 2.1 ist die Beeinflussung der Polyamine im Pansenstoffwechsel durch zugeführte Futtermittel, ruminale Mikroorganismen, Passage und in geringem Umfang Absorption dargestellt.
13 Cadaverin Putrescin Spermidin Spermin Futter
Proteolyse Aminosäuren Polyamine
Absorption
Epithelintegrität
pH
Passage
Biosynthese Amino-säuren Protein
Katabolismus
Abb. 2.1: Einflüsse auf den Polyamingehalt im Pansen
14 2.2.3 Amine und Bakterien
In einem Milliliter Pansensaft kommen rund 10–50 x 1012 Bakterien, 106 Protozoen und etwa 100.000 Hefen und Pilze vor (SALEEM et al. 2013). Diese Zahlen und die Vielfalt der Organismen und ihrer Relation zueinander verdeutlichen die enormen Möglich-keiten des Pansens, sich an unterschiedlichste Futtermittel anzupassen und erklären, warum bisher nur Bruchteile über die mikrobielle Pansenflora bekannt sind.
Im Zusammenhang mit verschiedenen Studien zu Aminen im Pansen konnte die Mikroflora bereits als wichtige Komponente des Aminmetabolismus bestätigt werden (COLE 1992; DAWSON u. MAYNE 1996; PHUNTSOK et al. 1998; WANG et al. 2013b;
GRESNER et al. 2014). In den Untersuchungen von KUSANO et al. (2008) zur Relevanz von Polyaminen für das Wachstum in Mikroorganismen, Pflanzen und Säugetieren sind die betreffenden Stoffwechselwege für Mikroorganismen beschrieben und es wird aufgezeigt, dass im Unterschied zu pflanzlichen oder Säugetierzellen keine direkte Synthese von Spermidin zu Spermin und umgekehrt möglich ist. Demnach kann ein entsprechender Polyaminmetabolismus auch in der ruminalen Mikroflora angenommen werden. Eine Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse zum Stoffwechsel von Aminen durch die ruminalen und intestinalen Mikroorganismen findet sich in Tabelle 2.6.
Tab. 2.6: Nachweis und Wirkung des Aminmetabolismus in ruminalen Bakterien
Amin Bakterium Nachweis bzw. Wirkung Literatur Putrescin
Cadaverin Bov. Bakterien
Arginin und Ornithin werden zu Polyaminen abgebaut, LDC ist bei saurem pH aktiver als ODC
LEWIS u.
Abbau von Putrescin durch mikrobielle Transaminase und
Diaminoxidase
MICHAELS u.
KIM 1966
Histamin Bov. Bakterien Decarboxylierung von L-Histidin im Pansen
IRWIN et al.
1979 Cadaverin
Putrescin S. ruminantium
PA sind essentielle Bestandteile der Peptidoglycanwand und
damit relevant für das Wachstum
KAMIO et al.
1986
Putrescin
GABA Bov. Bakterien Erste Bestätigung, dass ruminale Bakterien infundierte in Selenomonas und genetische Aufschlüsselung des Bakteriums baut bis zu 70 % der zugelegten
Amine in vitro in präferierter Reihenfolge ab:
Histamin > Tyramin > Putrescin
> Cadaverin
VAN OS 1997
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Fortsetzung Tab. 2.6
Amin Bakterium Nachweis bzw. Wirkung Literatur Cadaverin S. ruminantium
Identifikation der LDC zur Synthese von Cadaverin im Peptidoglycan sowie Darlegung
der Kinetik des Enzyms
TAKATSUKA u. Aminosäuren führt zur Bildung
von Aminen im
Funktion und Bedeutung von Polyaminen für die Ornithin und Lysin und Freisetzung von Aminen unter
konzentratreicher Fütterung Gehalt an Aminen im Pansen, der Gesamtgehalt an Bakterien
ist nicht beeinflusst durch ruminale Bakterien
GRESNER et al.
führt zu einer Steigerung der Amingehalte im Pansen
ZHANG et al.
Zusatz von Sojamehl führt zu höheren Amingehalten im zu Pansenflüssigkeit in vitro führt zu reduzierter Bildung von
Aminen und verringert die Streptococcus-Population
MAO et al. 2016
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Aus der erhobenen Literatur ergibt sich ein noch unzureichender Überblick zum mikrobiellen Metabolismus von Aminen und Polyaminen im Pansen. Bisher ist lediglich die Bedeutung von Polyaminen in der Peptidoglycanwand einzelner Bakterienspezies geklärt. Dass Mikroorganismen an der Biosynthese und am Katabolismus von Aminen im Pansen beteiligt sind, konnte ebenfalls nachgewiesen werden. Darüber hinaus begünstigt ein azidotischer pH-Wert die Bildung von Aminen durch ruminale Mikroorganismen. Um weitere Erkenntnisse zu gewinnen, müssen die Bakterien-spezies im Pansen vorerst genauer charakterisiert werden, wobei der starke Einfluss der Futterzusammensetzung bedacht werden sollte.
2.2.4 Enzymsysteme
Der Metabolismus von Aminen und Polyaminen in Pflanzen und Tieren ist sehr komplex und durch eine Kette von Enzymsystemen eng reguliert. Neben der Regulation der freien Polyamine durch die Biosynthese und den Katabolismus (s. Abb. 2.2 u. Abb. 2.3) wird der Gehalt auch durch Konjugation sowie Bindung an Ionenkanäle und nachfolgende Modulation selbiger zur Induktion von Stoffwechsel-kaskaden reguliert (CAI et al. 2014). Vielfältige Untersuchungen zu den Enzym-systemen existieren bereits in Pflanzen (s. Kap. 2.2.1), während beim Säugetier in erster Instanz Informationen zu den Enzymsystemen des Polyaminmetabolismus in verschiedensten Geweben herausgearbeitet wurden. Für Pansenmikroorganismen konnte bisher nur bei Selenomonas ruminantium ein Stoffwechselweg zum Einbau von Polyaminen in der Peptidoglycanwand herausgearbeitet werden (KAMIO et al. 1986;
KOJIMA u. KAMIO 2012; LIAO et al. 2014).
Die wichtigsten Enzymsysteme zur Polyaminsynthese und zum -katabolismus sind:
• Arginin-/Ornithindecarboxylase (ADC/ODC: EC 4.1.1.19/ EC 4.1.1.17)
• Spermidin-Synthase (SPDS: EC 2.5.1.16)
• Spermin-Synthase (SPMS: EC 2.5.1.22)
• Thermospermin-Synthase (TSPMS: EC 2.5.1.79)
• Norsperminsynthase (NSPMS: EC 2.5.1.126)
• Kupfer-Amin-Oxydase (CuAO: EC 1.4.3.21)
• Polyaminoxydase (PAO: EC 1.5.3.17)
• Spermin/Spermidin-N1-Adenosyltransferase (SSAT: EC 2.3.1.57)
Aus der Enzymdatenbank BRENDA (BRaunschweig ENzyme DAtabase) wurden Informationen zu pH-Wert, Temperaturbereich und Vorkommen der Enzyme zusammengetragen (s. Tab. 2.7).
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Tab. 2.7: Aktivitätsbereich der Hauptenzyme des Polyaminstoffwechsels
Enzym pH-Bereich Temperatur [°C] Vorkommen
ADC
(EC 2.5.1.126) 7,5 95 Pyrubaculum aerophilum
CuAO
[Internet: URL: http://www.brenda-enzymes.org/] abgerufen am 02.08.2016
* Weitere thermophile Bakterien tolerieren bis zu 100°C
** In Thermotoga maritima bis 90°C (WU et al. 2007)
*** In Arthrobacter aurescens bis 55°C (LEE et al. 2002)
Allen Enzymen gemeinsam ist eine Umsetzung von Substrat in einem breiten Toleranzbereich der Temperatur und des pH-Wertes. Zudem wurden die Enzyme in verschiedensten Organsystemen nachgewiesen, sodass unterstellt werden kann, dass sie auch in der mikrobiellen Pansenflora sowie in der Pansenwand vorkommen.
Erste Erkenntnisse konnten ELIASSEN und SJAASTAD (2000) für die Enzyme ADC und ODC in der Pansenwand darlegen. Das erstlimitierende Enzym für den Polyaminmetabolismus in Pflanzen ist die ADC, während in Tieren und Pilzen die Limitation durch die ODC gegeben ist (TAKAHASHI u. KAKEHI 2010).
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Vielfach wurde in Pflanzen bereits nachgewiesen, dass es zu einer schnellen Erhöhung der Genaktivität für die Polyaminbiosynthese bei Stresseinfluss oder bei Verletzung kommt. So konnten GALSTON und SAWHNEY (1990) einen Anstieg der ADC bei Sorbitolzusatz zu Weizenblättern innerhalb von ein bis zwei Stunden verzeichnen, der zu einem entsprechenden 50fachen Anstieg von Putrescin führte. Auf Verletzung der äußeren Kutikula von Arabidopsis thaliana reagierte die Genregulation innerhalb von 30 Minuten, was einen entsprechenden Polyaminanstieg nach weiteren zwei Stunden zur Folge hatte (PEREZ-AMADOR et al. 2014). Studien zu genetisch veränderten Pflanzen konnten einen höheren Polyamingehalt und eine Stresstoleranz in den entsprechenden Mutanten nachweisen (MOHAPATRA et al. 2010;
Putrescin
Abb. 2.2: Biosynthese der Polyamine
Darlegung der Stoffwechselwege der Polyaminbiosynthese inklusive Enzyme Commission numbers (EC) modifiziert nach BAGNI und TASSONI (2001), KUZNETSOV et al. (2006), KUSANO et al. (2008) sowie TAVLADORAKI et al. (2012):
ADC: Arginin-Decarboxylase (EC 4.1.1.19), LDC: Lysin-Decarboxylase (EC 4.1.1.18), ODC: Ornithin-Decarboxylase (EC 4.1.1.17), PAO: Polyamin-Oxydase (EC 1.5.3.17), SPDS: Spermidin-Synthase (EC 2.5.1.16), SPMS: Spermin-Synthase (EC 2.5.1.22), TSPMS: Thermospermin-Synthase (EC 2.5.1.79), NSPDS/NSPMS: Norspermidin/
Norspermin-Synthase (EC 2.5.1.123/126), APAO: N1-Acetylpolyamin-Oxydase (EC 1.5.3.13), CuAO: Kupfer-Amin-Oxydase (EC 1.4.3.21), MAT: Methionin-Adenosyl-Transferase (EC 2.5.1.6);AAHDL: N-Acetyl-β-Alanin-Amidohydrolase (EC 3.5.1.21), AMADH*: Aminoaldehyd-Dehydrogenase (EC 1.21.19)
(in dieser Arbeit nachgewiesene Amine sind fett hervorgehoben; - - Messung nicht reproduzierbar)
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FELLENBERG et al. 2012). Eine Übersicht zur Enzymregulation bei pflanzlichem Stress und zur Funktion der Enzyme ist bei MATTOO et al. (2015) sowie PATHAK et al. (2015) gegeben.
Der Polyaminkatabolismus dient in erster Linie der Regulation der Polyamingehalte in den Zellen, führt jedoch auch durch Freisetzung von weiteren Abbauprodukten zur Induktion neuer Signalkaskaden. So konnten OBER und KALTENEGGER (2009) die Homospermidin-Synthase (HSS) nachweisen, die aus Putrescin und Spermidin das
Putrescin
Abb. 2.3: Katabolismus der Polyamine
Darlegung der Stoffwechselwege des Polyaminkatabolismus inklusive Enzyme Commission numbers (EC) modifiziert nach BAGNI und TASSONI (2001),
KUZNETSOV et al. (2006), KUSANO et al. (2008) sowie TAVLADORAKI et al.
(2012):
ADC: Arginin-Decarboxylase (EC 4.1.1.19), LDC: Lysin-Decarboxylase (EC 4.1.1.18), ODC: Ornithin-Decarboxylase (EC 4.1.1.17), PAO: Polyamin-Oxydase (EC 1.5.3.17), SSAT: Spermidin/Spermin N1-acetyltransferase (EC 2.3.1.57), TSPMS: Thermo spermin-Synthase (EC 2.5.1.79), NSPDS/NSPMS: Norspermidin/Norspermin-Syn-thase (EC 2.5.1.123/126), APAO: N1-Acetylpolyamin-Oxydase (EC 1.5.3.13), CuAO:
Kupfer-Amin-Oxydase (EC 1.4.3.21), MAT: Methionin-Adenosyl-Transferase
(EC 2.5.1.6); AAHDL: N-Acetyl-β-Alanin-Amidohydrolase (EC 3.5.1.21), AMADH*:
Aminoaldehyd-Dehydrogenase (EC 1.21.19)
(in dieser Arbeit nachgewiesene Amine sind fett hervorgehoben; - - Messung nicht reproduzierbar)
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langkettige Homospermidin synthetisiert, welches dann in die Bildung von Pyrrolizidinalkaloiden bei Senecia spp. einfließt. MOSCHOU und ROUBELAKIS-ANGELAKIS (2014) diskutieren in ihrer Studie eine Funktion des Polyaminabbaus im programmierten Zelltod von Pflanzen und Tieren. Dabei konnte nachgewiesen werden, dass Spermidin die Autophagie in der tierischen Zelle reguliert, jedoch ist wenig über die Mechanismen bekannt. Hingegen scheint Thermospermin bei der Apoptose eine Schlüsselrolle in Pflanzen zu übernehmen. Vor allem das aus dem Polyaminabbau entstehende H2O2 induziert Kaskaden, die zum Zelltod führen können. Zudem führt der Abbau von Polyaminen auch zur Bildung von GABA (s. Abb. 2.3), welches wiederum weitreichende Funktionen bei der Reaktion auf pflanzlichem Stress übernimmt (BITRIÁN et al. 2012).