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Allgemeine Gestaltungsgrundsätze und tätigkeitsspezifische Gestaltung

Perspektive der Wissenschaft

3.2 Allgemeine Gestaltungsgrundsätze und tätigkeitsspezifische Gestaltung

Eine Zielsetzung des Projekts „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche Standortbestimmung“ besteht darin, auf der Grundlage des erarbeiteten wissenschaftlichen Erkenntnisstandes Handlungsoptionen aufzuzeigen und – wo möglich – allgemeine Gestal-tungsgrundsätze abzuleiten. Hierbei sind die wissenschaftlich ermittelte Evidenz und die sich daraus ergebende Relevanz der Arbeitsbedingungen zu betrachten, um eine Priorisierung der im Projekt untersuchten Arbeitsbedingungsfaktoren vornehmen zu können. Grundsätzlich zeigt die Studienlage, dass eine Vielzahl an Befunden mit Bezug zur psychischen Gesundheit vorliegt. Einzelne Faktoren zeichnen sich durch konsistente Zusammenhänge zur psychischen Gesundheit, zumeist in Höhe kleinerer bis mittlerer Effekte, aus, sodass allgemeine Schluss-folgerungen und Gestaltungsaussagen durchaus möglich sind. Zudem sind bestimmte Faktoren nicht nur isoliert wirksam: So kann sich beispielsweise ein angemessener Hand-lungsspielraum auch auf andere Faktoren positiv auswirken. Faktoren dieser Art sind daher für die Gestaltung besonders zu berücksichtigen.

3.2.1 Allgemeine Gestaltungsansätze: Schlüsselfaktoren

Die Befunde zu den Wirkzusammenhängen der Arbeitsbedingungsfaktoren bestätigen, dass Merkmale aus dem Themenfeld „Arbeitsaufgabe“ eine zentrale Bedeutung für die Gestaltung gesundheitsgerechter Arbeit haben. Hier nimmt der Tätigkeitsspielraum mit seinen Kompo-nenten Handlungs- und Entscheidungsspielraum, Aufgabenvariabilität und vollständige Arbeitsaufgaben erwartungsgemäß eine Schlüsselfunktion im Sinne einer Ressource ein. Er geht mit weniger gesundheitlichen Beeinträchtigungen einher bzw. ist mit positiven gesund-heitlichen Outcomes (Wohlbefinden, Motivation etc.) verbunden. Auf der Grundlage der vorgefundenen Evidenz lässt sich für den Tätigkeitsspielraum die doppelte Funktion einer Ressource zeigen, da er einerseits direkt positiv auf die psychische Gesundheit, daneben aber auch indirekt durch die Milderung oder Gestaltung von Stressoren wirken kann.

Einen weiteren Schlüsselfaktor repräsentiert die Arbeitsintensität, insbesondere die quanti-tativen Anforderungen, für die sich kleine bis mittlere Effekte zu Burnout, insbesondere zu dessen Facetten Erschöpfung/Ermüdung und Depersonalisation, zeigen. Hohe quantitative Anforderungen sind auch mit weiteren Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit wie z. B. Depression und Angst assoziiert und stellen damit insgesamt einen Stressor dar.

Defizit an betrieblich erprobtem Handlungswissen

Tätigkeitsspielraum

Arbeitsintensität

Emotionsarbeit gewinnt vor dem Hintergrund zunehmender Interaktionsarbeit an Bedeutung für die psychische Gesundheit und ist damit ein weiterer Schlüsselfaktor. Emotionsarbeit ist Teil einer Vielzahl von Tätigkeiten und damit für einen Großteil der Beschäftigten relevant, vor allem im Dienstleistungsbereich, da hier die Interaktion mit Kunden häufig ein konstituieren-des Tätigkeitsmerkmal darstellt. Sowohl die Diskrepanz zwischen dem erwarteten und dem gefühlten Emotionsausdruck als auch das Oberflächenhandeln sind mit kleinen bis mittleren Effekten vor allem auf Burnout, Arbeitszufriedenheit und Befinden verbunden. Interventio-nen sollten hier u. a. darauf zielen, dass Beschäftigte die Möglichkeit haben, sich besonders schwierigen Situationen auch einmal zu entziehen. Weiterhin könnte die Schulung von Kom-petenzen zum Umgang mit starken, negativen Emotionen hilfreich sein.

Im Themenfeld „Führung und Organisation“ konnte Führung als ein weiterer zentraler Schlüsselfaktor bei der Gestaltung gesundheitlich förderlicher Arbeit identifiziert werden. Es zeigt sich, dass destruktive Führung als Stressor anzusehen ist. Demgegenüber erweist sich aufgaben- und mitarbeiterorientierte Führung auf Basis der Studienergebnisse als präventiv wirkende Ressource, was insbesondere bei Ziel- und Rollenunklarheit und entsprechender Regulationsunsicherheit, die die heutige Arbeitswelt charakterisiert, von Bedeutung ist, da die Führungskraft an der Schnittstelle zwischen der individuellen Arbeitsaufgabe und der Orga-nisation eine zentrale Vermittlungs- und Klärungsrolle innehat. Führung wird im Rahmen des Projekts dementsprechend deutlich weiter verstanden und bezieht sich nicht nur auf das dya-dische Verhältnis von Mitarbeitern und direkter Führungskraft auf operativer Ebene der Orga-nisation, da Arbeitsaufgaben und zentrale Merkmale der Arbeitsorganisation vor allem über Führungsverhalten auf den verschiedenen Ebenen der Organisation, z. B. durch strategische Vorgaben, Strukturen, Regeln, Verfahrensanweisungen, kulturelle Gegebenheiten, Normen und Werte vermittelt werden. Vor dem Hintergrund des hohen Restrukturierungsgeschehens kommt dabei insbesondere dem Umgang mit Phasen der Arbeitsplatzunsicherheit eine hohe Bedeutung zu. Insofern nehmen Führungspersonen auf allen Hierarchiestufen eine zentrale Rolle bei der Prävention (psychischer) Gesundheitsbeeinträchtigungen in der komplexen und dynamischen Arbeitswelt ein. Qualifizierung und Unterstützung operativer Führungskräfte sind dabei ebenso wie strategisch-organisatorische Ansätze weiterzuentwickeln, wobei zu beachten ist, dass den Führungskräften auch ein ausreichender Handlungsspielraum zur Verfügung gestellt wird.

Schlüsselelemente im Themenfeld „Arbeitszeit“ sind die Dauer, Lage und Verteilung der Ar-beitszeit. Sie bestimmen, wie lange Erwerbstätige Arbeitsbelastungen ausgesetzt sind, wirken aber auch selbst als mögliche Stressoren. Es bestehen kleine bis mittlere Zusammenhänge zu psychischen Beschwerden und Leistung in der erwarteten Richtung, d. h., zunehmende Dauer, ungünstige Lage und Verteilung (z. B. Arbeit zu sozial wertvollen Zeiten) wirken nega-tiv auf die psychische Gesundheit.

Demgegenüber sind Vorhersehbarkeit und Planbarkeit von Arbeitszeit zentrale Elemente für Emotionsarbeit

Führung

Arbeitszeit

Zusammenschau aus der Perspektive der Wissenschaft

Die Möglichkeit zur Erholung repräsentiert dabei das zentrale Kriterium, wenn es um Arbeits-zeit geht. Die Dynamik von Belastung bzw. Beanspruchung und darauffolgender Erholung ist ein Kernthema in der Betrachtung von Wirkungszusammenhängen im Themenfeld „Arbeits-zeit“. Dabei hat auch das Detachment eine wichtige Funktion, das kleine bis mittlere Effekte zu fast allen Facetten der Gesundheit zeigt. Das Abschalten von der Arbeit ist nicht nur von der Arbeitszeit und der Ruhezeit abhängig, sondern auch von den Arbeitsbedingungen: So können bei hoher Arbeitsintensität nicht abgeschlossene Aufgaben zur sogenannten Rumina-tion führen, d. h. der gedanklichen Weiterbeschäftigung mit der Arbeit.

Sowohl die Gestaltung der konkreten Merkmale der Arbeitszeit (z. B. Schichtarbeit, lange Arbeitszeiten) als auch die Gestaltung der Schnittstelle von Arbeit und Privatleben (z. B.

Erreichbarkeit) sowie die Kompatibilität der Arbeitszeit zu anderen Bereichen des Lebens (Work-Life-Balance) sind für die psychische Gesundheit bedeutsam. Für bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung wie den Umfang der täglichen und wöchentlichen Höchstarbeitszeit sowie von Erholzeiten innerhalb (Pausen) und außerhalb der Arbeitszeit (Ruhezeit) muss es aufgrund erhöhter Risiken für Unfälle und Fehlhandlungen sowie den dargestellten Auswir-kungen auf die psychische Gesundheit klare, verbindliche und konkret praktizierte Regeln geben. Für andere Faktoren der Arbeitszeit lassen sich auf Basis der ermittelten Erkenntnis-se Empfehlungen ableiten: So sind individuelle Belastungsgrenzen und BedürfnisErkenntnis-se (u. a.

bestimmt durch Lebensphasen und Wünsche nach einer ausgeglichenen Work-Life-Balance) – wo immer möglich – in Vereinbarungen zu Umfang und Lage der Arbeitszeit zu berück-sichtigen. Darüber hinaus sollten bei der Bemessung der Ruhezeit neben der eigentlichen Arbeitszeit auch arbeitsgebundene Zeiten, die z. B. durch Pendeln oder Dienstreisen be-stimmt sind, beachtet werden. Für arbeitsbezogene erweiterte Erreichbarkeit sollte es klare betriebliche und/oder individuelle Regelungen geben, die die Belange von Unternehmen und Beschäftigten mit einbeziehen.

3.2.2 Tätigkeitsorientierte Gestaltung

Die Gestaltung der Arbeitsbedingungen von Beschäftigten ist immer auch eine betriebliche, praktische Herausforderung. Sie wird maßgeblich durch die konkreten Arbeitsaufgaben und deren Ausführungsbedingungen bestimmt. Die Formulierung allgemeiner Gestaltungprinzi-pien kann dabei für den konkreten betrieblichen Kontext einen ersten Zugang darstellen, al-lerdings sind diese Grundsätze tätigkeitsspezifisch und unter Berücksichtigung der jeweiligen betrieblichen Rahmenbedingungen zu konkretisieren bzw. zu ergänzen.

Zur Erleichterung der Ableitung von Gestaltungsaussagen erscheint der Ansatz einer Tätig-keitstypologie sinnvoll, bei der Tätigkeiten nach dem dominierenden Charakter der Aufgabe bzw. nach typischen Belastungskonstellationen beschrieben werden. Das Ziel sollte dabei darin bestehen, ähnliche Tätigkeiten auf der Grundlage von dominanten Schlüsselmerkmalen zu gruppieren und charakteristische Belastungskonstellationen zu beschreiben (z. B. für Füh-rungstätigkeit, Wissensarbeit usw.), um auf dieser Basis konkrete Gestaltungsaussagen unter Berücksichtigung von Branchencharakteristika abzuleiten.

Tätigkeitstypologie und charakteristische Belastungskonstellationen

3.2.3 Gestaltungsprinzipien und Umsetzungsstrategien

Für die betriebliche Praxis ist eine ganzheitliche, systembezogene Analyse und Gestaltung (psychisch) gesunder Arbeit eine große Herausforderung. Insbesondere die betriebsspezifi-sche Umsetzung guter Gestaltung erfordert angemessene Prozesse der Beteiligung. Gleich-zeitig können partizipative Prozesse notwendiges Expertenwissen nicht ersetzen. In der Zusammenführung von Expertenwissen und Einschätzungen der Beschäftigten im Rahmen eines partizipativen Prozesses liegt eine spezielle betriebliche Herausforderung, die zugleich ein wichtiger Erfolgsfaktor für gelingende betriebliche Umsetzungen ist.

Angesichts zunehmend geistiger, interaktiver und qualifizierter Arbeit setzen Beschäftigte verstärkt selbst Ziele. Sie nehmen Einfluss auf die Ausgestaltung ihrer Arbeitsaufgaben und Aufgabenzuschnitte (Wrzesniewski & Dutton, 2001), Subjektivierung der Arbeit/indirekte Steuerung (Moldaschl & Voss, 2003). Dies kann prinzipiell mit positiven wie negativen Aus-wirkungen auf die Gesundheit verbunden sein. Wenn Beschäftigte zum (Mit-)Gestalter ihrer Arbeit werden, erfordert dies zum einen eine entsprechende Qualifizierung, um die Befähi-gung zur Selbstgestaltung zu fördern und potenziell negative Auswirkungen zu vermeiden.

Dabei sind vor allem Selbstregulations- und Sozialkompetenzen gemeint, die auch die pro-aktive Gestaltung der eigenen Arbeit unterstützen.

Ergänzend zu verhältnispräventiven Maßnahmen sollten auch verhaltenspräventive Maß-nahmen an den Stressoren und Ressourcen ansetzen und beispielsweise Kompetenzen zur Entwicklung und zur Nutzung von Ressourcen, etwa eines vergrößerten Tätigkeitsspielraums, vermitteln.

Insgesamt bietet in diesem Rahmen die differenzielle Arbeitsgestaltung die Möglichkeit, die gesundheitsförderlichen Potenziale der Arbeitstätigkeit individuell zugänglich zu machen (Bamberg & Metz, 1998).

Beste Chancen für eine gesundheitlich förderliche Arbeitsgestaltung bestehen bei Neuge-staltungen von Arbeitssystemen, da diese einen prospektiven Ansatz in der Planungsphase ermöglichen. Weitaus häufiger jedoch sind Unternehmen mit der Notwendigkeit einer korrektiven Arbeitsgestaltung konfrontiert.

Die Betrachtung des Themenfelds aus arbeitsmedizinischer Sicht zeigt, dass ergänzend bzw. nachfolgend zur Primärprävention auch in der Nutzung der Systeme Sekundär- und Tertiärprävention ein hohes Potenzial für den adäquaten Umgang mit den gesundheitlichen Folgen psychischer Belastung im Betrieb liegt. Es erscheint hierbei sinnvoll, Betriebe für die psychische Gesundheit in größerem Umfang als bisher zu sensibilisieren, insbesondere für den Umgang mit interindividuellen Unterschieden in der Gesundheit. Dies bedeutet etwa, im Rahmen der betrieblichen arbeitsmedizinischen Vorsorge der Früherkennung von Beein-systembezogene Analyse

und Gestaltung

Selbstgestaltung

differenzielle Arbeitsgestaltung

prospektive Arbeitsgestaltung

Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention

Zusammenschau aus der Perspektive der Wissenschaft

Bei der gesundheitsgerechten Arbeitsgestaltung sollten die folgenden Aspekte berücksichtigt werden: bei psychischen Arbeitsbedingungsfaktoren ist zwar zum Teil eine Reduktion (etwa Daueraufmerksamkeitsanforderungen), häufiger jedoch eine Optimierung der Arbeitsanfor-derungen anzustreben, da – wie etwa bei der Arbeitsintensität – eine Überforderung wie auch Unterforderung gleichermaßen zu vermeiden ist. Mit der Wirkung der Arbeitsbedingungs-faktoren als Ressource oder Stressor ergeben sich auch neue Möglichkeiten für den Arbeits-schutz, da die Förderung bzw. der Aufbau von arbeitsbezogener Ressourcen den Einfluss von Stressoren abmildern, Spielräume für die Selbstgestaltung der eigenen Arbeit eröffnen oder die Entwicklung personenbezogener Ressourcen (zum Beispiel die Selbstwirksamkeitsüber-zeugung, Problemlösungskompetenzen) unterstützen kann.