mer Westfalen-Lippe, die „feste Veran- kerung“ des zahnärztlichen Berufsstan- des in der Gesellschaft. In Richtung Bundesregierung und den Gast der Bundesversammlung, Bundesgesund- heitsministerin Andrea Fischer, kündig- te der neu amtierende Präsident einen politischen Dialog mit konstruktiven Vorschlägen an, um das Gesundheits- wesen bezahlbar und leistungsfähig zu halten: „Wir brauchen neue Impulse in der Gesundheitspolitik. Dazu will ich meinen Teil beitragen.“
Weitkamp will die von Ministerin Fi- scher in Dresden signalisierte Ge- sprächsbereitschaft zum Thema Ver- trags- und Wahlleistungen möglichst bald aufgreifen. Die Eingrenzung des Leistungskatalogs auf ein „vernünftiges Maß“ wäre bereits ein wichtiger Schritt zur weiteren Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems, sagte Weitkamp.
Darüber hinaus sprach sich der neu ge- wählte Präsident für einen Wandel des Versicherungssystems aus und forderte
die Ablösung der geltenden umfassen- den Pflichtversicherung durch eine Ver- sicherungspflicht: „Die dafür notwendi- ge Unterscheidung zwischen Grund- und Wahlleistungen können wir in der Zahnmedizin sehr gut definieren und aufbereiten.“ Der scheidende BZÄK- Präsident Willmes hatte sich zuvor für ein „Gipfeltreffen“ von Gesundheits- politikern ausgesprochen, um einen Modellversuch zur Definition von Grund- und Wahlleistungen zu ermögli-
chen. Jens Flintrop
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A3150 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 97½½Heft 47½½24. November 2000
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ine schottische Familie mit fünf Kindern verlor durch einen Unfall die einzige Tochter. Sie möchte jetzt mithilfe von Präimplantationsdia- gnostik (preimplantation genetic diag- nosis = PGD) garantiert wieder ein Mädchen bekommen. Diesen „Fall“der zurzeit in Großbritannien diskutiert wurde, trug der Vorsitzende des Mar- burger Bundes und Präsident der Ärz- tekammer Hamburg, Dr. med. Frank Ulrich Montgomery, in Berlin vor.
„Direkter Weg zum
qualitätsgesicherten Kind“
Auch wenn in Deutschland die Präim- plantationsdiagnostik nicht zur Ge- schlechtswahl genutzt werden soll, so hält Montgomery die PGD dennoch für den „direkten Weg zum qualitätsgesi- cherten Kind“. Bei einer öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission
„Recht und Ethik der modernen Medi- zin“ drückte er die Befürchtung aus, dass die PGD nicht auf die Paare be- grenzt werden könne, die erbgebun- dene Krankheitsgeschichten vorwie- sen. „Über kurz oder lang werden bei al- len In-vitro-Fertilisations-Maßnahmen PGDs nötig sein“, so Montgomery. Die Entschlüsselung des menschlichen Ge- noms stehe kurz vor ihrer Vollendung.
Damit aber liege eine mindestens ab-
strakte Genkarte vor, in der Aberratio- nen, Variationen und Strickmusteran- omalien des Menschen beschrieben sind. „Jeder von uns ist Träger solcher Anomalien – auch der Gesundeste.“
Der Grundgedanke der genetischen Se- lektion, der dem ganzen Verfahren in- newohne, werde zu einer natürlichen
„Ausmerzung aller Anomalien“ führen.
Prof. Dr. med. Klaus Diedrich, Medi- zinische Universität zu Lübeck, hält die- se Befürchtungen für unbegründet. So sei ein Screening auf mehrere monoge- netische Veränderungen allein aufgrund des normalen Hintergrundrisikos in der Bevölkerung wenig sinnvoll. Die welt- weiten Zahlen demonstrierten außer- dem eindrucksvoll, dass die PGD immer noch eine in der Anwendung sehr be- grenzte Technik sei. Um einem Miss- brauch vorzubeugen, habe die Bundes- ärztekammer (BÄK) im März einen Dis- kussionsentwurf zur PGD (Deutsches Ärzteblatt, Heft 9/2000) vorgelegt, in dem ein Diagnosenkatalog eindeutig ab- gelehnt und in klarer Weise die Diagno- stik vorgegeben werde. Durch eine Bei- behaltung des Verbots der PGD würden möglicherweise deutsche Paare zu kom- merziell orientierten Einrichtungen im Ausland getrieben, auf deren ethische und medizinische Standards man keiner- lei Einfluss habe, befürchtet Priv.-Doz.
Dr. med. Wolfram Henn, Homburg/Saar.
Doch ist es eigentlich gerechtfertigt, einem Embryo, bei dem Behinderungen festgestellt wurden, das Lebensrecht zu verwehren? Nein – ist die deutliche Ant- wort von Karl Finke, Behindertenbeauf- tragter des Landes Niedersachsen. Er betrachtet es „mit Sorge und Kritik, dass Behinderung zunehmend als ein mit mo- dernen medizintechnologischen Metho- den aus der Welt zu schaffendes Übel an- gesehen wird. Menschen mit Behinde- rungen erlebten dies schon heute als eine mangelnde Akzeptanz gegenüber denje- nigen, die dem gesellschaftlichen Leit- bild von Gesundheit, Leistungsfähigkeit
Präimplantationsdiagnostik
Ethisches Dilemma der Fortpflanzungsmedizin
Ärzte, Politiker, Juristen und Theologen diskutierten bei einer öffentlichen Anhörung der Enquete- Kommission des Bundes- tages „Recht und Ethik der modernen Medizin“
über Chancen und Risiken der PGD.
Der neue Geschäftsführende Vorstand der Bun- deszahnärztekammer (v. l. n. r.): Dr. Wolfgang Sprekels, Dr. Dr. Jürgen Weitkamp und Dr. Diet- mar Oesterreich Foto: Kirsch, BZÄK
und Fitness nicht entsprechen.“ Führen- de Fortpflanzungsmediziner und Biolo- gen, wie kürzlich der Nobelpreisträger James Watson, sprächen bereits von ei- nem Recht auf ein nichtbehindertes Kind, so Finke. Ein Recht, das sich zu ei- ner Pflicht zur eugenischen Selektion verkehren könne. Die PGD intensiviere die schon in der pränatalen Diagnostik angelegte Tendenz zur eugenisch moti- vierten Auslese behinderten Lebens und öffne gleichzeitig die Tür zur positiven Eugenik. Studien zeigten zum Beispiel, dass in mehr als 90 Prozent der
Fälle, in denen einer Frau im Rahmen von pränataler Dia- gnostik mitgeteilt wird, sie er- warte ein Kind mit Down-Syn- drom, eine Abtreibung vorge- nommen werde.
Doch diese Schwanger- schaftsabbrüche, die bei fest- gestellter Behinderung nach pränataler Diagnostik auf- grund der medizinischen Indi- kation bis zum Ende der Schwangerschaft möglich sind, könnten gerade durch PGD
verhindert werden, erläuterte Prof. Dr.
jur. Joachim Renzikowski, Universität Halle-Wittenberg. Ein später Abbruch einer „Schwangerschaft auf Probe“ sei nichts anderes als eine künstliche Früh- geburt und mit erheblichen Belastun- gen für die Mutter und die Leibesfrucht verbunden, so der Jurist.
Eindeutige gesetzliche Regelung gefordert
Dr. Hildburg Wegener, Netzwerk ge- gen Selektion durch Pränataldiagnostik, wies allerdings darauf hin, dass die Me- thode der PGD ebenso fehleranfällig wie aufwendig sei. Deshalb werde der schwangeren Frau im Richtlinienent- wurf der BÄK zur Absicherung des Ergebnisses eine Fruchtwasserunter- suchung empfohlen. Ein Schwanger- schaftsabbruch müsse also eventuell trotz Präimplantationsdiagnostik vor- genommen werden. Wegener vertritt außerdem die Auffassung, dass die Inan- spruchnahme einer Präimplantations- diagnostik und ein Schwangerschaftsab- bruch nach pränataler Diagnostik gar nicht miteinander verglichen werden
dürften: „Bei einem Schwangerschafts- abbruch reagieren die Beteiligten auf ei- ne schicksalhaft vorgegebene Situation.
Bei der PGD liegt keine Schwanger- schaft vor. Die Beteiligten reagieren auf eine Situation, die sie selbst im Wissen um die sich daraus ergebenden Ent- scheidungen erst herbeigeführt haben.“
Auch von Juristen wird diese Ein- schätzung geteilt. „Die Situation des (ungewollt) gezeugten Embryos in vivo ist mit der Situation eines (bewusst und gewollt) erzeugten Embryos in vitro in
keiner Weise vergleichbar“, sagte Dr.
iur. Elke H. Mildenberger, Universität Münster. Deshalb sei es konsequent, wenn das Embryonenschutzgesetz (ESchG) eine künstlich befruchtete Ei- zelle bereits vom Zeitpunkt der Kern- verschmelzung an schütze, im Paragra- phen 218 dagegen dem Interesse einer ungewollt schwangeren Frau Vorrang eingeräumt und nidationsverhütende Maßnahmen nicht bestraft würden.
Ihrer Ansicht nach ist die PGD mit dem Embryonenschutzgesetz nicht vereinbar.
Prof. Dr. med. Karl Friedrich Sewing, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der BÄK, teilt diese Auffassung nicht. Dennoch plädierte er für eine ein- deutige gesetzliche Regelung, um „be- stehende Wertungswidersprüche aufzu- heben oder diese gar nicht aufkommen zu lassen. Die gesetzlichen Regelungen sollten sich aber auch im Blick auf das europäische Ausland ausrichten mit dem Ziel, ethische Schieflagen zu ver- meiden, etwa in dem Sinne, dass es nicht unbedingt ethischen Normen folgt, wenn wir im eigenen Land Entwicklun- gen unterbinden, die im Ausland ge- wonnenen Ergebnisse jedoch im eige- nen Land nutzen wollen.“ Sobald die
gesetzlichen Rahmenbedingungen klar seien, werde zu prüfen sein, ob und ge- gebenenfalls in welcher Weise berufs- rechtliche Regeln zu erarbeiten oder zu modifizieren seien. Sewing betonte, dass an der prinzipiellen Schutzwürdig- keit des Embryos festgehalten werden müsse. Es sei allerdings nicht auszu- schließen, dass in Einzelfällen eine Gü- terabwägung getroffen werden müsse.
Dagegen vertritt Finke die Auffas- sung, dass der dem Grundgesetz zugrun- de liegende Menschenwürdegedanke davon ausgehe, dass ein Em- bryo vom Moment seines Ent- stehens an schützenswert sei.
Der niedersächsische Behin- dertenbeauftragte wies darauf hin, dass ein abgestufter Schutzstatus des Embryos je nach Entwicklungsstadium im Gegensatz zu anderen Staaten in der Bundesrepublik nicht vorgesehen sei. Das deutsche Rechtssystem schütze den Embryo als solchen, betonte auch der Theologe Prof. Dr.
Dietmar Mieth, Tübingen.
Der Präsident der Bundesärztekam- mer, Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hop- pe, begrüßte die „ergebnisoffene“ Dis- kussion bei der Anhörung. „Das ethi- sche Dilemma, Paaren mit hohen gene- tischen Risikofaktoren neue Perspekti- ven öffnen zu können, damit zugleich aber ethische Tabus zu berühren, erfor- dert eine gesamtgesellschaftliche Wer- tediskussion auf breiter Grundlage“, so Hoppe. Er räumte ein, dass ein Patent- rezept für diese Fragen nicht in Sicht sei.
Schließlich dürfe man nicht ignorieren, dass die betroffenen Paare in der Regel weder bewusst auf Kinder verzichten noch sich zu einer Adoption ent- schließen, sondern die PGD in anderen Staaten in Anspruch nehmen. Wenn die PGD in Deutschland zugelassen werden sollte, dann nur, so der Diskussionsent- wurf der BÄK, wenn Rechtssicherheit und ein hohes Schutzniveau über stren- ge und restriktiv zu fassende Zulas- sungskriterien erreicht werden können.
Über die rein medizinischen Aspekte dieses Verfahrens hinaus sei es unver- zichtbar, dass der Bundesgesetzgeber die im Zivil- und Strafrecht notwendi- gen Regelungen vornehme, forderte der BÄK-Präsident. Gisela Klinkhammer P O L I T I K
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A3152 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 97½½Heft 47½½24. November 2000
Baby genetisch ausgewählt
In Frankreich ist zum ersten Mal ein genetisch aus- gewähltes Kind zur Welt gekommen. Das Baby wurde im Béclère-Krankenhaus im südlich von Pa- ris gelegenen Departement Hauts-de-Seine gebo- ren. Damit wurde in Frankreich erstmals die Präimplantationsdiagnostik angewandt. Das Kind ist nicht von der unheilbaren Krankheit betroffen, die einer der Elternteile in sich trägt und mögli-
cherweise übertragen hätte. afp