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Archiv "Adrenogenitales Syndrom: Ethisches Dilemma einer Therapie" (30.11.2012)

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ADRENOGENITALES SYNDROM

Ethisches Dilemma einer Therapie

Die Behandlung des adrenogenitalen Syndroms sollte einzig und allein der medizinethischen Verpflichtung unterliegen, Leiden zu verhindern.

D

as klassische adrenogenitale Syndrom (AGS) ist eine au- tosomal rezessiv vererbte Stoff- wechselstörung, basierend auf ei- nem Defekt der Nebennierenrinde, der bei den Betroffenen zu einer Virilisierung der äußeren Genitale führt, wobei das innere Genitale weiblich ist. Die pränatale Behand- lung des AGS mittels Dexame - thason kann die intrauterine Ver - männlichung des weiblichen äuße- ren Genitale vermindern und sogar vollständig verhindern. Sie muss jedoch „blind“ beginnen, das heißt vor der Feststellung, ob der Fötus weiblich und vom AGS betroffen ist. Stellt sich heraus, dass der Fötus nicht weiblich ist oder kein AGS hat, wird die Einnahme von Dexa- methason sofort beendet.

Nur jeder achte Fötus profitiert von der Therapie

Die Behandlung ist umstritten, weil nur jeder achte behandelte Fö- tus die Therapie tatsächlich benö- tigt und von ihr profitiert. Inwie- fern Dexamethason die nicht vom AGS betroffenen oder männlichen Föten oder auch deren Mütter schä- digt, ist bisher unklar, da zuver - lässige Daten fehlen. Angesichts dieser Situation betonte die US- amerikanische Endocrine Society

in ihren klinischen Leitlinien von 2010 nochmals den „experimentel- len Charakter“ dieser Therapie.

Ist die pränatale Behandlung des AGS unter diesen Umständen zu- lässig? Diese Frage wird auch in der Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zum Thema „Intersexua- lität“ nicht beantwortet; sie lässt sich – wenn überhaupt – nur vor dem Hintergrund der Alternativen beantworten. Das sind zum einen die operative Korrektur der Genita- lien im Kindesalter (circa erstes Lebensjahr, bei Mädchen mit stark virilisiertem Genitale) und zum an- deren die Genitalkorrektur in der Pubertät. Beide Optionen verfol- gen dasselbe Ziel: ein möglichst unauffälliges weibliches Genitale, eine normale Blasenentleerungs- funktion und Menstruation sowie später eine ungestörte Sexualfunk- tion mit der Möglichkeit einer natürlichen Schwangerschaft und Geburt. Während im Fall von Missbildungen der Harnwege die operative Genitalkorrektur dringend ist, sind geschlechtsangleichende

Operationen kein medizinischer Notfall. Aber sind Genitalkorrektu- ren aus ästhetischen oder sozialen Gründen legitim?

Intersexuelle Menschen kämpfen seit Jahren dafür, dass Intersexuali- tät nicht als Krankheit, sondern als besondere Form der geschlechtli- chen Entwicklung verstanden wird.

Zudem zeigt die moderne Medizin immer mehr Verständnis dafür, dass Krankheiten keine ausschließlich objektiven, messbaren Erscheinun- gen sind, sondern technischen Möglichkeiten sowie subjektiven und kulturellen Interpretationen un- terliegen. Wenn Menschen mit be- stimmten anatomischen Abwei- chungen gut leben und sie nicht darunter leiden, muss die Medizin nicht unbedingt eingreifen. Die Behandlung des AGS sollte einzig und allein der medizinethischen Verpflichtung unterliegen, Leiden zu verhindern.

Die Abwägung, ob man sich für die pränatale Behandlung oder eine der operativen Genitalkorrekturen

Intersexuelle Menschen kämpfen seit Jahren dafür, dass Intersexualität nicht als Krankheit, sondern als besondere Form der geschlechtlichen Entwicklung verstanden wird.

Foto: Fotolia/Fineas [m]

Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 109

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Heft 48

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30. November 2012 A 2411

T H E M E N D E R Z E I T

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A 2412 Deutsches Ärzteblatt

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30. November 2012 chens als Kind und als Frau verbes-

sern. Obwohl die Behandlung seit mehr als 30 Jahren durchgeführt wird, sind die Ergebnisse der dies- bezüglichen Studien allerdings um- stritten, zum Teil auch widersprüch- lich. Es liegen unter anderem Hin- weise auf diskrete, Dexametha - son-assoziierte kognitive Defizite bei den behandelten Kindern vor.

Bei den unnötig behandelten Föten bleibt es also ungewiss, inwiefern sie im Spektrum ihrer Lebens ent - würfe unnötigerweise eingeschränkt werden.

Zur Genitalkorrektur fehlen bis- her randomisierte kontrollierte Stu- dien über die beste operative Me- thode und den idealen Zeitpunkt.

Obwohl die kurzfristigen Ergebnis- se in ästhetischer Hinsicht als gut zu bezeichnen sind, bleibt die Funktionalität der Genitalrekon- struktion im Hinblick auf das sexu- elle Erleben und die Gebärfähig- keit unklar. Die Genitalkorrektur im Kindesalter wird daher in den letzten Jahren stark kritisiert. Kriti- ker sehen sie als eine Verletzung der Menschenrechte auf körper - liche Unversehrtheit, da sie eine irreversible Genitalverstümmelung darstelle, die ohne die Einwilli- gung der Betroffenen vorgenom- men werde.

Eindeutige Erkenntnisse über Nutzen und Schaden fehlen

Eine klare ethische Bewertung der pränatalen Behandlung des AGS ist deshalb schwierig, weil eindeutige wissenschaftliche Erkenntnisse zum Nutzen und Schaden bislang feh- len. Eine erste, klare ethische For- derung ist demgemäß an die wis- senschaftliche Gemeinschaft zu stellen: Weitere Daten müssen dringend gesammelt und kontrol- lierte Studien durchgeführt wer- den, um die Therapieoptionen be- werten zu können. Dafür ist auch die internationale Vernetzung in Datenbanken sinnvoll. Doch auf entscheidet, setzt also voraus, dass

das AGS überhaupt als korrektur- bedürftig angesehen wird. Die Be- troffenen leiden nicht zwingend unter der Uneindeutigkeit des Ge- schlechts. Das Problem ist, dass die Eltern bei der pränatalen Be- handlung und der frühen Operation die Einschätzung künftigen Lei- dens stellvertretend vorwegneh- men müssen. Sollten die Betroffe- nen nicht unter dem AGS leiden, entfallen überzeugende Argumente für eine Korrektur. Die bloße An- dersartigkeit oder die fehlende ein- deutige Zuweisung zu „männlich“

oder „weiblich“ allein reichen dazu nicht aus.

Dem Wohl des Kindes verpflichtet

Sorgeberechtigte Eltern sollten nur in Behandlungen einwilligen, die dem Wohl des Kindes dienen. Die ethische Vertretbarkeit einer medi- zinischen Behandlung bei Ungebo- renen und Kindern kann mit dem Argument der Elternautonomie al- lein nicht begründet werden. Denn dem elterlichen Willen ist nur so- weit zu folgen, als er dem Nach- wuchs keinen Schaden zufügt. Eine Abwägung zwischen dem medizi- nischen Nutzen und dem möglichen Schaden der unterschiedlichen Be- handlungsmöglichkeiten des AGS ist aber nicht eindeutig zu treffen.

Sowohl die pränatale Therapie als auch die zwei postnatalen opera- tiven Eingriffe sind unter medizin - ethischen Gesichtspunkten proble- matisch:

Die pränatale Behandlung er- möglicht bei dem betroffenen AGS- Mädchen die geschlechtliche Ein- deutigkeit und kann somit Störun- gen der Geschlechtsentwicklung sowie gesundheitlichen Problemen vorbeugen. Sie erspart dem AGS- Mädchen eine Genitalkorrektur und eine möglicherweise konflikthafte Geschlechtsentwicklung; sie kann die Lebensqualität des AGS-Mäd-

Ergebnisse, die die empirische Un- sicherheit zu den verschiedenen Verfahren reduzieren, wird man selbst im günstigsten Fall noch ei- nige Zeit warten müssen.

Anhand welcher Kriterien ist bis dahin zu entscheiden? Dies ver- weist auf eine genuine Aufgabe der Ethik: moralisch akzeptable Entscheidungen unter Unsicherheit zu ermöglichen. Da bei den skiz- zierten Behandlungsmöglichkeiten keine Option eindeutig das best- mögliche Ergebnis verspricht, soll- te man die Alternative wählen, die den größten potenziellen Schaden limitiert. Hierbei sind insbesondere irreversible Schäden zu berück- sichtigen.

Unter dem Aspekt der Schadens- vermeidung ist die pränatale Dexa- methason-Gabe kritisch zu sehen, weil sie möglicherweise acht Föten schädigt, aber nur einem nutzt.

Wenn es Optionen gibt, ähnlich gu- te Resultate durch postnatale Ope- rationen zu erreichen, wären sie vorzuziehen. Zumal sich die Be- troffenen dann selbst für oder gegen eine geschlechtsangleichende Ope- ration entscheiden könnten. Damit wäre auch die Autonomie der AGS- Betroffenen respektiert, freilich mit den Risiken, die eine uneindeutige Geschlechtsentwicklung mit sich bringen kann.

Es gilt, eine stets individuelle, wohlabgewogene und sorgfältige Entscheidung zu treffen – vor allem bei kaum unterschiedlich zu be - wertenden Handlungsoptionen. Hier sollten situative Besonderheiten Einfluss nehmen: Sind eine unbe- fangene Kindheit und Jugend bei unklarem Geschlecht bei den gege- benen Eltern möglich? Sehen die Eltern die geschlechtliche Eindeu- tigkeit ihres Nachwuchses als Be- dingung der Möglichkeit für ein

„gutes Leben“? Insofern sind im Rahmen von akzeptablen Optionen auch die Werthaltungen der Eltern und deren Auswirkungen auf die Kinder jeweils im Einzelfall zu be-

rücksichtigen.

Dr. phil. Diana Aurenque, Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

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