Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 39|
1. Oktober 2010 A 1857KOMMENTAR
Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze, Medizinjournalistin
M
anchmal reicht ein Stichwort.Dann beginnt eine Diskussion in der Öffentlichkeit, die an das kurze Klappern eines aufgezogenen Blech- spielzeugs erinnert. Jüngstes Beispiel:
Die Nierenspende des SPD-Fraktions- vorsitzenden, Frank-Walter Steinmeier (54), an seine im Sommer kurz vor der Dialysepflichtigkeit stehende Ehefrau.
Mit fast mechanistischer Reflexhaftig- keit wiederholten darauf einige Politiker und Ärzte die Forderung, das Trans- plantationsgesetz für die postmortale
Organspende zu ändern: von der Zu- stimmungs- zur Widerspruchslösung.
Organspende in den Blick der Öf- fentlichkeit zu rücken, ist grundsätzlich positiv. Aber die für eine präemptive Transplantation vorgesehene Nieren- spende direkt mit einer grundrechtsre- levanten, politischen Forderung für die postmortale Organspende zu verknüp- fen, grenzt an Populismus. In diesem Fall erzeugt die Verknüpfung, die sicher nicht von Steinmeier intendiert war, ei- nen schlechten Eindruck: Sie sugge- riert, die Lebendspende sei für einen aktiven und prominenten Politiker eine derartige Belastung, dass einer nicht ausreichend zur postmortalen Organ- spende willigen Bevölkerung nun die Sozialpflichtigkeit ihrer Organe aufer- legt werden könne. Schweigen gilt bei der Widerspruchslösung als Zustim- mung zur Organentnahme, Einver- ständnis also als „die Regel“. Derzeit muss es vom Verstorbenen vor Explan- tation bekannt sein oder von Angehöri- gen eingeholt werden.
Eine präemptive Transplantation, wie im Fall der Politikergattin, führt in der Praxis nie zur Zuteilung eines post- mortalen Organs, auch nicht in Län- dern mit Widerspruchslösung und hö- heren Organspenderaten als unseren.
Jeder Patient in Deutschland, der ein fremdes Organ haben möchte, muss auf die Warteliste. Auch für die Emp-
fänger eines lebend gespendeten Or- gans heißt es in den Empfehlungen der Bundesärztekammer, sie müssten
„rechtzeitig“ angemeldet werden, ohne dass „rechtzeitig“ konkretisiert wäre (DÄ, Heft 48/2000). Für Nierenkranke ist die bestehende oder in Kürze erfor- derliche Dialysebehandlung Vorausset- zung für die Aufnahme in die Wartelis- te. Bei der Zuteilung aber ist die Warte- zeit ein Kriterium, und sie beginnt mit dem ersten Tag der künstlichen Blut- wäsche. Auch in den USA, wo Zentren,
anders als in Deutschland, eine von zwei postmortal entnommenen Nieren autonom für eigene Patienten verwen- den dürfen, ist die Nierenimplantation in einen nichtdialysierten Empfänger eine ausgesprochene Rarität.
2009 haben 600 Menschen in Deutschland eine Niere lebend gespen- det – häufig, um einem nahestehenden Menschen die Dialyse zu ersparen und frühzeitig die Versorgung mit qualitativ besseren Organen zu ermöglichen, als es postmortal entnommene im Allge- meinen sein können. Der Gesetzgeber aber hat zum Schutz gesunder Men- schen der postmortalen Organentnah- me Vorrang gegenüber der Lebend- spende gegeben (Subsidiarität). Die Zeit zwischen der Anmeldung zur Auf- nahme in die Warteliste und dem Ter- min für die Lebendspende ist teilweise so kurz, dass die Chance für die Zutei- lung eines post mortem explantierten Organs verschwindend gering ist.
Das Subsidiarität ist in der Praxis al- so nur zum Teil gegeben. Und Kritiker meinen, die Regelung könne zu einer suboptimalen Verwendung der Organe führen. Seit Inkrafttreten des Trans- plantationsgesetzes werde der Vorteil einer Übertragung lebend gespendeter Nieren zunehmend deutlich. Bevor man allerdings erwägt, die Bestimmungen zur Lebendorganspende zu lockern, sollte ein flächendeckendes Register
für Spender und Empfänger eingerich- tet werden, um künftig mit validen, na- tionalen Langzeitdaten über Chancen und Risiken aufklären zu können.
Die postmortale Spende aber bleibt der „Motor“ der Transplantationsmedi- zin: 86 Prozent der übertragenen Orga- ne stammen von Hirntoten. Der ekla- tante Organmangel verstärkt mögli- cherweise allgemein den Druck zur Le- bendspende. Aber auch in Österreich mit seiner Widerspruchslösung und deutlich mehr postmortalen Spendern
pro Million Einwohner als bei uns stam- men 15 Prozent der verpflanzten Nie- ren von Lebendspendern – Trend stei- gend (Deutschland: 21,6 Prozent).
Selbstverständlich gilt es, die post- mortale Organspende zu fördern. Die Frage ist, welche Mittel zu welchem Zeitpunkt Priorität haben sollten. Der Deutsche Ärztetag hat sich in diesem Jahr für die Einführung der Wider- spruchslösung ausgesprochen – nach einer Fünfminutendebatte ein echter
„Schnellschuss“. Die Bundesärztekam- mer hat das Thema auf der Agenda.
„Die Möglichkeiten auf Basis der bestehenden Gesetze sind längst nicht ausgeschöpft“, meint Prof. Dr. med.
Günter Kirste, medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtrans- plantation. „Bei einer optimalen Mitar- beit der Kliniken ließe sich Schätzun- gen zufolge die Zahl der Organspender verdoppeln – ohne Grundsatzdebatten über die Einschränkung der Individual- rechte“, sagt Kirste. Die flächende- ckende Etablierung von Transplantati- onskoordinatoren in für Organspende relevanten Kliniken, deren enge Zu- sammenarbeit mit Intensivmedizinern und eine angemessene Vergütung ge- hörten zum Optimierungspotenzial.
Es spricht vieles dafür, erst einmal Defizite auf bestehender Gesetzes- grundlage zu beseitigen, bevor die Wi- derspruchslösung debattiert wird. ■ ORGANTRANSPLANTATION