Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 16|
23. April 2010 A 751KOMMENTAR
Prof. em. Dr. med. Hans-Joachim Woitowitz, Institut und Poliklinik für Arbeits-und Sozialmedizin der Justus-Liebig-Universität Gießen
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ie Begutachtung von Berufs- krankheiten gilt zu Recht als die„Achillesferse“ der gesetzlichen Unfall- versicherung. Die dem Verfahren zu- grundeliegenden Kausalitätsnormen und Forderungen nach Vollbeweisen stammen noch aus der Bismarckzeit.
Ihre Einführung war damals für das Akutereignis des Arbeitsunfalls sachge- mäß. Den heute im Vordergrund ste- henden, todbringenden Berufskrankhei- ten werden sie jedoch keinesfalls mehr gerecht. Das Erfordernis einer eigen- ständigen gesetzlichen Berufskrankhei- ten-Versicherung wird jedoch nach wie
vor abgestritten, obwohl allein die Zahl der anerkannten, tödlichen Berufs- krankheiten inzwischen jene der Ar- beitsunfälle um mehr als das Dreifache übertrifft. Laut Unfallverhütungsbericht der Bundesregierung gab es 2008 ins- gesamt 765 tödliche, anerkannte Ar- beitsunfälle, im gleichen Zeitraum aber mindestens 2 430 tödlich verlaufene, anerkannte Berufskrankheiten.
Hauptursache der todbringenden Berufskrankheiten sind die krebserzeu- genden Arbeitsstoffe. Ihre lebensbe- drohlichen Folgen treten erfahrungsge- mäß nach Latenzzeiten von manchmal mehr als 60 Jahren ein. Dennoch wer- den retrospektive Ermittlungen – wie beim Arbeitsunfall – im Vollbeweis ge- fordert. Die todbringenden Noxen wir- ken oftmals Jahre bis Jahrzehnte ein.
Das Ergebnis der Schädigung offenbart sich nicht bereits am Ende einer Ar- beitsschicht.
Das diametral andere Zeitverhalten todbringender Berufskrankheiten wirkt sich in der gesetzlichen Unfallversiche- rung inzwischen jährlich für Tausende Familien negativ aus. Kausalanalytisch gelten todbringende Berufskrankheiten ebenso wie Arbeitsunfälle als bekla- genswerte Folgen unzureichender Prä- vention im Arbeitsschutz. Sozialrechtlich
zwingt das Kausalitätsprinzip somit bei arbeitsbedingt verursachten Erkrankun- gen stets zum Nachweis der Tatum- stände solcher unzureichenden Präven- tion an den individuellen Arbeitsplätzen.
Dies stößt bei einer vor vielen Jahrzehn- ten unzureichenden Prävention im Ar- beitsschutz erwartungsgemäß auf kaum überwindbare Hindernisse. Konsequenz eines solchen Beweisnotstands: Das negative Resultat der arbeitsmedizi- nisch-toxikologischen Zusammen- hangsbeurteilung führt nach den Regeln der „objektiven Beweislast“ zur Ableh- nung als Berufskrebserkrankung.
Die eigenen Erfahrungen beruhen auf vielen Hundert entsprechender Feststellungsverfahren. Eine sozial- rechtlich für die Besonderheiten des Einzelfalls geforderte Objektivierung – oder gar Quantifizierung der Einwir- kung – war und ist retrospektiv dabei normalerweise nicht möglich. Die Dun- kelziffer der durch Ablehnung als Be- rufskrankheit unzutreffend übertrage- nen Folgelasten auf die gesetzlichen Kranken- und Rentenkassen dürfte nach der wissenschaftlichen Datenlage außerordentlich bedeutend sein.
Im Zeitraum von 1978–2003 wur- den im gewerblichen Bereich 25 729 arbeitsbedingte Krebserkrankungen berufskrankheitenrechtlich anerkannt.
Sie weisen als typische „Latenzschä- den“ einen Mittelwert der Latenzzeit von nicht weniger als 37,5 Jahren auf.
Die Standardabweichung beträgt rund 13 Jahre. Infolge ihrer Berufskrebser- krankungen starben 82,1 Prozent der Versicherten bereits innerhalb des Aus- wertungszeitraums.
Unternehmer wurden seit der Bis- marckzeit bekanntlich von ihren persön- lichen Pflichten zur Haftung für die Fol- gen unzureichender Prävention im Ar- beitsschutz befreit. Diese sogenannte Gefährdungshaftung wurde stattdessen
von den Trägern der gesetzlichen Un- fallversicherung übernommen. Nach dem Verursacherprinzip sollte ursprüng- lich auch der für die unzureichende Prävention im Arbeitsschutz verantwort- liche Unternehmer an den sozioökono- mischen Folgelasten wenigstens über entsprechende Zuschläge zum Pflicht- beitrag beteiligt werden. Dieses sozial- politisch angedachte Regulativ der Ar- beitgeberhaftpflichtversicherung stößt bei todbringenden Berufserkrankungen zunehmend ins Leere. Die Folgekosten einer nicht nachweisbaren unzurei- chenden oder unterlassenen Präventi-
on bei Gefährdung durch Humankanze- rogene werden auf die nachfolgenden Generationen abgewälzt.
Bei den arbeitsbedingt todbringen- den Latenzschäden verbleiben dem Er- krankten ab der Diagnosestellung meist nur relativ wenige Lebensmonate. In dieser Zeit sieht er sich dann zur Verrin- gerung des Beweisnotstands obligato- risch für Details seiner Arbeitsbiografie mit dem Grundsatz der objektiven Beweislast konfrontiert. Nach diesem Grundsatz trägt derjenige die Folgen der Nichtfeststellbarkeit einer Tatsache, der aus dieser Tatsache ein Recht oder einen Vorteil herleiten will. Die Konfron- tation betrifft nach seinem Ableben – als dem einzig authentischen Zeitzeugen jener voll zu beweisenden Einwirkungs- kausalität – seine Hinterbliebenen in nochmals weitaus gravierenderer Weise.
Durch die sozialrechtlich erzwunge- ne Ablehnung als Berufskrankheit ent- fallen nicht allein die gesetzlich gere- gelte Lebzeitenrente, das Pflegegeld und gegebenenfalls die Hinterbliebe- nenentschädigung. Der Beweisnot- stand führt darüber hinaus auch zum völligen Verlust jeder gesamtgesell- schaftlichen Anerkennung für den mit dem Tode erkauften Dienst an unserer
„sozialen“ Marktwirtschaft. ■ BERUFSKRANKHEITEN DURCH KANZEROGENE