• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Tansania: Rehemas Babys – der Wert der Neugeborenen" (25.01.2013)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Tansania: Rehemas Babys – der Wert der Neugeborenen" (25.01.2013)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

A 130 Deutsches Ärzteblatt

|

Jg. 110

|

Heft 4

|

25. Januar 2013

TANSANIA

Rehemas Babys – der Wert der Neugeborenen

Einen eigenen Namen erhalten Neugeborene erst, wenn sie vier Wochen alt sind. Sterben sie vorher, gelten sie als unreif und nicht lebensfähig. Diese traditionellen Vorstellungen erschweren eine gute medizinische Versorgung.

R

ehema legte die saubere Rasierklinge zu den zwei Tüchern und dem Band zum Ab- binden der Nabelschnur. Ein Ge- sundheitsarbeiter, der sogar in ihr abgelegenes Dorf im Süden von Tansania gekommen war, hatte sie gut darüber informiert, was sie zur Geburt mitbringen musste. Als die Wehen einsetzten, machte sie sich rasch auf den Weg, denn zwei Stunden würde sie über Hügel und Felder bis zur nächsten Gesund- heitsstation unterwegs sein. Die Geburt dauerte lange, und es gab kein Benzin für die Verlegung in das drei Autostunden entfernte Krankenhaus.

Als Rehemas Baby endlich ge- boren war, schrie und bewegte es sich nicht. Man sah nur, wie es ver- suchte zu atmen. Die Krankenpfle- gerin erklärte ihr, dass es eine Tot- geburt sei und man nichts tun kön- ne. Eine unglaubliche Trauer kam in Rehema auf. Doch sie wusste, dass sie diese Trauer nicht zeigen durfte, denn ihr Baby galt als „mto- to hajala“, als das Neugeborene, das nicht geschrien hat und nicht le-

bensfähig ist. Somit musste sie ihr Kind ohne Namen, ohne Beerdi- gung selbst in der Erde verscharren und die Gerüchte im Dorf aushal- ten, das sie vielleicht verhext und unfruchtbar sei.

In der Region sterben 31 von 1 000 Neugeborenen

Zur zweiten Geburt machte sich Rehema auf den langen Weg in das Regionalkrankenhaus von Lindi.

Sie brachte ein Mädchen zur Welt, das nur „Baby of Rehema“ genannt wurde und mit einer Infektion auf der Neugeborenenstation lag. Dort lernte ich Rehema bei der Visite kennen, und sie erklärte mir, dass alle Kinder bis zur vierten Lebens- woche nur „Baby of“ heißen und dann erst einen eigenen Namen be- kommen. Stirbt ein Kind in den ers- ten Lebenstagen wird es auch „jala- la“ genannt, was mit „Abfall“ über- setzt werden kann. Ein Neugebore- nes wird erst als reif angesehen, wenn die Nabelschnur abgefallen ist. Dies und die Geschichte ihrer ersten Geburt haben mich sehr be- rührt und vieles erklärt, worüber ich

mich am Anfang meiner Zeit hier im Süden Tansanias gewundert habe.

Seit mehr als einem Jahr küm- mere ich mich im Auftrag des Bun- desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) im Rahmen der technischen Zusammenarbeit mit der Deut- schen Gesellschaft für Internatio- nale Zusammenarbeit (GIZ) um die klinische Versorgung von Neuge- borenen, unterernährten und HIV- infizierten Kindern. Das Regional- krankenhaus von Lindi ist die höchste Versorgungsstufe für eine Region mit einer Million Men- schen. Es erstaunte mich nicht, dass es keine eigene Station für Neugeborene gab, da dies nur in wenigen Krankenhäusern Afrikas der Fall ist. Die Neugeborenen wurden neben den Müttern mitver- sorgt oder eben nicht versorgt. Im- mer wieder starben Babys auf der Mütterstation, ohne dass sich medi- zinisches Personal zuvor um sie ge- kümmert hatte. Auch war kaum Wissen über die Erstversorgung von Neugeborenen nach der Geburt vorhanden, so dass es Fälle gab, in denen der Beatmungsbeutel am Bauch angesetzt wurde. Solche Umstände mussten eine hohe Neu- geborenensterblichkeit zur Folge haben.

Doch in der klinischen Morgen- besprechung, in der eigentlich alle Todesfälle diskutiert wurden, wur- de nie über ein totes Neugeborenes berichtet. Auch in der Statistik des Krankenhauses tauchten die meis- ten toten Neugeborenen nicht auf.

Nach Daten aus der Region, die auf Umfragen unter Müttern basieren, sterben 31 von 1 000 Neugebore- Neugeborene im

Krankenhaus von Lindi: Die Kinder werden inzwischen besser versorgt. Das liegt auch dar an, dass sich das Pflegeper - sonal kritisch mit der

eigenen Einstellung zu deren Wert aus - einandergesetzt hat.

(2)

Deutsches Ärzteblatt

|

Jg. 110

|

Heft 4

|

25. Januar 2013 A 131 nen. Diese Rate liegt um das Zehn-

fache höher als in Deutschland.

Während der Reanimation eines Neugeborenen mit Asphyxie klin- gelte das Handy der Kranken- schwester, die das Kind beatmete.

Sie legte den Beatmungsbeutel zur Seite, um den Anruf entgegenzu- nehmen. Als ich sie später deswe- gen zur Rede stellte, argumentierte sie, dass diese Babys doch ohnehin keine Chance hätten und zu unreif seien. Unwissenheit und Fatalismus prägen die Einstellung Neugebore- nen gegenüber. So schloss sich der Kreis von Rehema aus den Lehm- hüttendörfern Tansanias zur exami- nierten Krankenschwester, die eine vierjährige Ausbildung absolviert hatte. Mir wurde klar, dass Interven- tionen für die Neugeborenen nicht nur medizinische Aspekte, sondern auch das kulturelle und traditionelle Verständnis erfassen müssen. So existieren zum Beispiel in Kiswahi- li auch keine Wörter, um Fehlge- burt, Totgeburt oder den Tod eines Neugeborenen zu unterscheiden.

Tägliche Berichte über die ver- storbenen Neugeborenen in den Morgenbesprechungen führten beim Krankenhauspersonal allmählich zu einem Umdenken. Die Mitarbeiter nahmen zum ersten Mal wahr, dass die Todesrate bei den Neugebore- nen höher war als bei allen ande- ren Patientengruppen. Es folgten Diskussionsrunden, in denen sich das Pflegepersonal mit der eigenen kulturellen Einstellung zum Wert eines Neugeborenen auseinander- setzte. Nur so konnte ich über- haupt Verständnis und Unterstüt- zung für die medizinischen Ver - änderungen im Bereich der Neu - geborenengesundheit bekommen.

Interessanterweise war das ent- scheidende Argument, um das Krankenhausmanagement zu über- zeugen, ein Gedankenspiel. Ich führte ihnen vor, wie sich die Män- nergesundheit in Tansania entwi- ckeln würde, wenn es für Männer keine Stationen in den Kranken- häusern mehr gäbe. Hilfreich war, dass auch die Verantwortlichen im Krankenhaus betonten, dass die Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren gesenkt werden müsse.

Denn 40 Prozent der Kinder unter

fünf Jahren sterben in den ersten vier Wochen ihres Lebens, also als Neugeborene. Von diesen wieder- um sterben fast 50 Prozent am ers- ten Lebenstag.

Neugeborene erhielten erstmals eine Krankenakte

In Abstimmung mit den Mitarbei- tern im Krankenhaus begannen wir, zwei kleine Zimmer für kranke Neugeborene und Frühgeborene einzurichten. Sie erhielten jetzt zum ersten Mal eine eigene Krankenakte und wurden als Patienten registriert und damit auch in der Morgenbe- sprechung erwähnt. Das Pflegeper- sonal der Müttersta tion wurde in Neugeborenen- und Frühgebore- nenpflege und Reanimation ausge- bildet. Allerdings waren die Pflege- kräfte nicht in der Lage, sich neben der Versorgung der Mütter vor, während und nach der Geburt auch noch um die kleinen Patienten zu kümmern. Erst der Einsatz von Pflegepersonal ausschließlich für die Neugeborenen verbesserte de- ren Versorgung deutlich. Weil die

Zahl der behandlungsbedürftigen Neugeborenen rasch stieg, wurde in Kooperation mit dem Krankenhaus und privaten Spendern eine Neuge- borenenstation gebaut, die kurz vor der Eröffnung steht.

60 Prozent der Neugeborenen sterben aber nicht im Regionalkran- kenhaus, sondern in den Gesund- heitszentren der Region und zum größten Teil zu Hause. Um diese Mütter und Kinder zu erreichen, entwickelten wir mit der Hilfsorga- nisation Voluntary Service Over- seas und dem Regional Health Man - agement Team von Lindi das Pro- gramm „No Baby Left Out“. Mit diesem Programm bilden wir das Gesundheitspersonal der entlege- nen Gesundheitszentren in der me- dizinischen Versorgung von Neu- und Frühgeborenen aus und führen ein neuentwickeltes Triage-System ein, welches an das Programm „In- tegrated Management of Childhood Illness“ der Weltgesundheitsorga - nisation angelehnt ist. Außerdem wollen wir in den Dörfern mit Hilfe von Theatergruppen zu Diskussio- nen über die traditionellen Vorstel- lungen von Neugeborenen anregen und über Neugeborenengesundheit informieren. So könnten Babys, wie das von Rehema, nach einer schwierigen Geburt wiederbelebt werden, und Mütter ihre Trauer ausleben, ohne verstoßen zu wer- den. Dies ist sicherlich noch ein langer Weg, aber auch Rehema ist weit gegangen, um ihrem zweiten Kind eine gute medizinische Ver- sorgung zu ermöglichen. Dass „Ba- by of Rehema“ konnte nach sieben Tagen gesund entlassen werden.

Dr. med. Holger Brockmeyer, GIZ Kinderarzt in Tansania Ein eigenes Zim-

mer für Frühge- borene – ein Luxus an afrikanischen Krankenhäusern

Fotos: Holger Brockmeyer

LITERATUR

1. National Bureau of Statistics and ICF Ma- cro: Tanzania Demographic and Health Sur- vey 2010. Dar es Salaam, Tanzania 2010.

2. Lawn J E, Cousens S, Zupan J, et al.: 4 mil- lion neonatal deaths: When? Where? Why?

Lancet 2005; 365: 891–900.

3. Haws AH, Mashasi I, Mrisho M, Amstrong Schellenberg J, Darmstadt GL, Winch PJ:

„These are not good things for other people to know“: How rural Tanzania women’s ex- periences of pregnancy loss and early neo- natal death may impact survey data quality.

Social Science & Medicine 2010; 71:

1764–72.

T H E M E N D E R Z E I T

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

In Deutschland werden bei einer Prävalenz von rund sechs bis sieben Prozent jährlich etwa 50 000 Kinder mit großen Fehlbildungen geboren. Diese Zahl liegt im Bereich der

Unsere Ärzte stehen Ihnen darüber hinaus nach Mög- lichkeit für kurze Gespräche zur Verfügung. Ausführ- liche Arztgespräche vereinbaren Sie bitte über die zu-

Die Bundesärztekammer hat vorgerechnet: Eine Anhebung des Punktwertes um 10 Prozent würde sich allein durch die vorgesehene Absenkung im Laborkapitel im Endeffekt in

Für die Erstversorgung des Neu- geborenen ist entsprechend einer Empfehlung der American Heart Association eine Abgrenzung in eine Normal- und zwei Problemgruppen sinnvoll,

Gesetzliche Regularien für Säuglingsmilchnahrungen Gelingt trotz aller Bemühungen das Stillen nicht oder nur teil- weise oder möchte die Mutter nach informierter Entscheidung

Um dieser tödlichen Ge- fahr vorzubeugen, hat die Ak- tion Kinderbaum eine Liste der Pflanzen erstellt, die am häufigsten Ursachen für Ver- giftungen sind.. Mit ihrer Hil- fe

Nach einer mittleren Beob- achtungszeit von fünf Jahren wurden vier Patienten (9 Prozent) der intensi- viert antihypertensiv behandelten Gruppe dialysepflichtig, verglichen mit

In den allermeis- ten Fällen sind die Neugeborenen dabei auch bei sehr hohen Herzfrequenzen (bis 300/min) kardiorespiratorisch stabil und sollten danach ohne Zeitverzögerung auf