DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT
DIE ÜBERSICHT
L_ Volker Pelzer
und Peter Lemburg
Die Erstversorgung des Neugeborenen bedarf der Rou- tine. Ein Therapiestandard gibt Hebamme und Arzt Richtlinien an die Hand, auch Notfallsituationen sicher zu beherrschen. Atmung und Pulsfrequenz sind verläßliche Indikatoren für den Zustand des Kindes. Das Therapie- schema orientiert sich an diesen Parametern.
Erstversorgung
von Neugeborenen in Notfallsituationen
otsituationen
N
Kindes während der des Geburt sind heute durch apparative Überwachung in den meisten Fällen rechtzeitig zu erken- nen. Insbesondere bei Risikogebur- ten ist es dann ratsam, daß der Ge- burtshelfer frühzeitig die zuständige Kinder-Intensivpflege und den neo- natologisch geschulten Kinderarzt informiert, der unmittelbar post par- tum die Versorgung des Neugebore- nen übernimmt Bei unauffälligem Geburtsverlauf ist für die Erstver- sorgung des Neugeborenen der Ge- burtshelfer zuständig. Er muß daher die erforderlichen Maßnahmen si- cher beherrschen, um im Falle einer unerwarteten kritischen Situation bei dem Kind eine situationsgerech- te Behandlung durchzuführen. Die Reanimation des Kindes mit Intuba- tion, Herzmassage, Infusionstechnik und Medikamentengabe ist daher Bestandteil der geburtshilflichen Ausbildung. Auch von der Hebam- me, dem Anästhesisten und dem Arzt für Allgemeinmedizin werden Grundkenntnisse der Erstversor- gung eines Neugeborenen erwartet.Die Anpassung des Neugebore- nen an sein extrauterines Leben kann unmittelbar nach der Geburt mit Hilfe des Apgar-Scores beurteilt werden. Entscheidend für die Beur- teilung im Notfall aber sind vor al- lem die Atmung und die Herzfre- quenz des Kindes. Sie sind die weit- aus präzisesten Indikatoren von Sau-
erstoffmangel während und kurz nach der Geburt. Wichtig ist ihre ob- jektive Beurteilung im Gegensatz zu den mehr subjektiven Einschätzun- gen von Tonus, Reflexverhalten und Hautfarbe. Für die genaue Zu- standsdiagnostik beim Frühgebore- nen ist der Apgar-Score ungeeignet.
Die Kinder können nicht ohne wei- teres entsprechend ihrer neurologi- schen Reife präzise eingeordnet werden und erhalten überwiegend unterbewertete Score-Ergebnisse, die ihre kardio-pulmonale Anpas- sungsfähigkeit nicht widerspiegeln.
Für die Erstversorgung des Neu- geborenen ist entsprechend einer Empfehlung der American Heart Association eine Abgrenzung in eine Normal- und zwei Problemgruppen sinnvoll, die sich lediglich durch Un- terschiede bei der Atmung und der Herzfrequenz abgrenzen und denen sofort ein entsprechender Therapie- ablauf zugeordnet werden kann.
Ähnliche Empfehlungen gab eine Expertengruppe der WHO und der SAREC (Swedish Agency for Re- search Cooperation, Sarec Report, Stockholm 1985). Für die längerfri- stige Beurteilung der Neugebore- nenadaptation ist der vollständige Apgar-Score weiterhin geeignet.
In einem Fließschema (Abbil- dung) haben wir die Maßnahmen zu- Frauenklinik (Direktor: Prof. Dr. med.
Lutwin Beck) und Kinderklinik (Direktor:
Prof. Dr. med. Eberhard Schmidt) der Universität Düsseldorf
sammengefaßt, die sich aus der obi- gen Einteilung als notwendig erwei- sen. Dabei sind Handlungsablauf und Medikamentendosierung klar fest- gelegt. Eine gefährliche Improvisa- tion im Notfall kann verhindert wer- den, wenn das Schema zur Erstver- sorgung jedem sichtbar zur Hand ist:
• Der Anamnese entspre- chend wird vor der Entbindung bei bekanntem Risiko die Aufgabenver- teilung für das Personal im Kreißsaal festgelegt.
Q Kommt es zur Geburt eines Kindes bei grünem oder infiziertem Fruchtwasser, muß unmittelbar nach der Geburt des kindlichen Kopfes oral und nasal abgesaugt werden.
Auch eine endobronchiale Lavage muß erwogen werden. Wärmeverlu- ste sind strikt zu vermeiden.
O Nach einer „normalen Ge- burt" mit unauffälligem Kind sollte man das Neugeborene sofort zur Mutter geben. Die Abnabelung er- folgt in der Regel bei Ende der Na- belschnurpulsation. Absaugen der Mundhöhle ist in den meisten Fäl- len nicht notwendig, ausgenommen nach Kaiserschnitt-Entbindungen oder wenn sich besonders zäher Schleim im Mund/Rachenraum be- findet, der die kindliche Atmung be- hindern kann. Routinemäßiges Ab- saugen ist somit nicht angebracht.
Die vagale Reizung kann sogar leicht zur Bradykardie führen.
Möchte die Mutter stillen, empfeh- len wir ein frühzeitiges Anlegen noch im Kreißsaal.
Dt. Ärztebl. 86, Heft 7, 16. Februar 1989 (61) A-397
Normales Kind:
komplikationslose Geburt AN unauffällig, 1. Schrei unauffällig
Abnabeln (Säure-Basen-Status)
nur bei Indikation Absaugen
Kind der Mutter geben
Anlegen (?)
Wärmelampe und warme Unterlage
Absaugen
02 über Maske eines Ambubeutels (40 0/0)
Absaugen Abtrocknen des Kindes und
Auskultation
Gruppe I:
Atmung gering oder fehlend Herzaktion >100/min
Lang Abnabeln (Säure-Basen-Status)
Wärmelampe und warme Unterlage
Suprarenin 0,1 ml/kg der Lösung 1:10.000
NaHCO3 (NV-Katheter!) bei pH <7,20 + schwerer Beeinträchtigung
HA 5% (Nabelvene): 5 ml/kgKG bei Bedarf: NV-Katheter (Charr 3,5)
Intubation
1000-1500 g: Charr 12 (Code 2,5) g: Charr 14 (Code 3,0) a) primäre Lungenentfaltung b) Beatmung
Maskenbeatmung a) primäre Lungenentfaltung:
4-5 Züge mit 3 Fingern am Beutel (zähle 21, 22, 23,24,25 beim ersten Hub)
b) danach mit 2 Fingern am Beutel Frequenz 30-40/min
Herzmassage bei Herzaktion <100/min trotz ausreichender Ventilation
(Herz : Beatmung = 15 : 3)
Wichtige Medikamente zur Reanimation
Indikation
Schock
Hypoglycaemie Diabetiker-Kinder Bradycardie (Herzfrequenz .100/min) trotz Herzmassage Herzstillstand metabolische Azidose (pH <7,20 + Klinik)
Atemdepression (auf Grund von Opiatgabe an die Mutter)
Medikament
HA 5%
Glucose 10 0/0 Glucose 5%
Suprarenin (Amp.: 1:1000)
Suprarenin NaHCO3 8,4%: 1 mval =1 ml 6,0%: 1 mval =1,4 ml Naloxon
(Narcanti Neon.) (Amp.: 0,04 mg = 2 ml)
Dosierung
5 ml/kg KG iv. Einzeldosis bis 15 ml/kgKG iv.
4 ml/kgKG iv.
5 ml/kg KG iv. oder wie oben 0,1 ml/kgKG iv. der 1:10 verdünnten Lösung alle 3-5 Min., 0,2 ml/kgKG der 1 :10
verdünnten Lösung in den Tubus wie oben
1 +1 mit Glucose 5 0/0 verdünnt, davon 5 ml über 3 Min. langsam iv.
evtl. wiederholen
0,01 mg/kgKG iv. alle 2-3 Min.
wiederholen bis Erfolg
Geburt Grünes Fruchtwasser
Infiziertes Fruchtwasser
bei Geburt des Kopfes sofort Mund/Nase/Rachen absaugen,
u. U. später Bronchiallavage
Gruppe II:
Atmung gering oder fehlend Herzaktion <100/min
Lang Abnabeln (Säure-Basen-Status)
V. Petzer/ RLembure, Universitatskliniken Düsseldorf
A-398 (62) Dt. Ärztebl. 86, Heft 7, 16. Februar 1989
Bei Kindern, die Anpas- sungsstörungen mit geringer oder fehlender Atmung, jedoch einer aus- reichenden Herzaktion mit mehr als 100 Schlägen pro Minute zeigen, spricht man von der „Problem- Gruppe I" der Neugeborenen. Hier werden zusätzliche Maßnahmen er- forderlich. Spätestens jetzt sind zwei Personen zur Versorgung erforder- lich: Die eine ist für die Herzkreis- lauffunktion sowie Medikamenten- gabe zuständig, die andere sorgt für Atmung, Sauerstoff und Intubation.
In diesem Falle sollte länger abgena- belt werden, um später einen Nabel- venen- oder Nabelarterienkatheter legen zu können. Zur genauen Beob- achtung ist es notwendig, daß das Neugeborene auf einem gut ausge- leuchteten Reanimationstisch mit Wärmezufuhr von oben und unten und Schutz vor Zugluft gelagert wird.
Diese Kinder sollten abgesaugt wer- den. 02-Gabe über den Beutel mit Maske ohne Beatmung dient zur wei- teren Unterstützung. Sollte sich durch diese einfache Maßnahme das Neugeborene nicht spontan erholen, sind Schritte notwendig, wie sie bei der sogenannten „Problem-Gruppe II" obligatorisch sind.
Neugeborene der „Gruppe II" weisen eine fehlende oder unzu- reichende Atmung und eine Herz- frequenz von weniger als 100 Schlä- gen pro Minute auf. Jetzt muß zu- nächst eine Maskenbeatmung durch- geführt werden. Zur Lungenentfal- tung muß das am Beutel befindliche Überdruckventil, das normalerweise bei 20 bis 30 cm H2O automatisch öffnet, mit dem Finger geschlossen werden. Die Beutelkompression er- folgt beim Neugeborenen mit drei Fingern, beim Frühgeborenen nur mit zwei Fingern. Auf die primäre Lungenentfaltung mit Hilfe höherer Drücke folgt die normale Beatmung mit einer Frequenz von 30 bis 40 pro Minute, die in manchen Fällen durch Herzmassage ergänzt werden muß. Dazu wird eine Intubation not- wendig.
Als Methode der Wahl bei der Herzmassage gilt heute das beidhän- dige Vorgehen, wobei die Daumen der unteren Sternumhälfte aufliegen und die übrigen Finger den Brust- korb umfassen. Als Kriterium einer
erfolgreichen Reanimation gilt bei drei bis fünf Atemzügen auf 15 Herzkompressionen, daß die Haut des Kindes rosig wird.
Für eine Beatmung ohne Hilfs- mittel bleibt nur die Mund-zu- Mund/Nase-Beatmung. Es darf hier nicht der volle Atemdruck eines Er- wachsenen angewendet werden.
Man bläst lediglich den Mundinhalt mit geblähten Wangen in das Kind.
Dies entspricht etwa einem Volu- men von 40 bis 60 ml.
Muß das Kind längere Zeit beat- met oder sogar verlegt werden, ist die endotracheale Intubation das si- cherste Verfahren. Die nasotrache- ale Intubation ist weitaus besser zu fixieren, die orotracheale Intubation leichter durchzuführen. Dabei ist zu bedenken, daß eine wirkungsvolle Maskenbeatmung — insbesondere et- wa mit den neuen Laerdal-Masken — eine ausreichende 0 2-Versorgung des Kindes gewährleisten kann.
Zur Schockbehandlung bei der Wiederbelebung ist in den meisten Fällen auch eine Volumenzufuhr notwendig: 5 ml Humanalbumin 5prozentig/kg Körpergewicht kön- nen über einen Nabelvenenkatheter als Einzeldosis infundiert werden.
Der Nabelvenenkatheter bietet ge- genüber dem Nabelarterienkatheter den Vorteil, daß er leichter einge- führt werden kann Über den Nabel- arterienkatheter lassen sich zusätz- lich Blutgasanalysen und Blut- drucküberwachung durchführen.
Natriumbikarbonat als Puffer ist we- gen der erheblichen Risiken, wie in- trakranielle Blutungen aufgrund von Osmolaritätsspitzen, nur bei stren- ger Indikation angezeigt, wobei ein pH-Wert < 7,1 in manchen Fällen noch keine Indikation darstellt.
Wichtig ist auch immer der allgemei- ne Zustand des Kindes. Eine Blind- pufferung ist durch einen unmittel- bar postpartal durchzuführenden Säurebasenstatus zu vermeiden. An- hand des Basendefizites und des kindlichen Schätzgewichtes wird die notwendige Natriumbikarbonatdosis nach der Formel berechnet:
mval NaHCO3 = BE x 0,5 x kg KG (der Faktor 0,5 ist größer als beim Erwachsenen [0,3], da bei Neu- und
Frühgeborenen das Verteilungsvolu- men größer ist). Natriumbikarbonat muß immer langsam und mit 5pro- zentiger Glukose verdünnt (1:1) si- cher in die Nabelvene appliziert wer- den. Nur beim Herzstillstand ist eine
„blinde" Pufferbehandlung gerecht- fertigt.
Beim Herzstillstand oder einer schweren Bradykardie ist das Mittel der Wahl Adrenalin (Suprarenin®), ein Alpha- und Betarezeptorensti- mulator, , der sowohl intravenös als auch über einen endotrachealen Tu- bus appliziert werden kann Um ei- ne optimale Wirkung zu gewährlei- sten, ist vorher die Therapie einer Azidose durch ausreichende Beat- mung und Schockbehandlung not- wendig.
Die Hypoglykämie wird ebenso wie die Hypovolämie nach schweren Depressionszuständen beobachtet.
Es sollte deshalb zu den Primärmaß- nahmen auch die intravenöse Gabe von 10prozentiger Glukose gehören.
Naloxon als Opiatantagonist wird bei Atemdepression aufgrund von Betäubungsmitteln, die die Mutter während der Geburt erhalten hat, notwendig.
Empfehlung zur Verhinderung von Vitamin-K-Mangelblutungen:
1. 1 mg Vitamin K1 s.c. postpar- tal für alle Früh- und Neugeborenen unabhängig von der Ernährungs- form.
2. Wird die parenterale Vit- amin-K-Gabe abgelehnt, sollte Vit- amin K1 (1 mg) mindestens zweimal pro Woche während der ersten drei Lebensmonate gegeben werden (Er- nährungskommission der Deutschen Ges. für Kinderheilkunde; Mschr.
Kinderheilkunde [1986] 134).
Das abgebildete Fließschema kann als selbstklebendes Poster im For- mat DIN A 3 über den Verfasser ko- stenfrei angefordert werden.
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Volker Pelzer Universitäts-Frauenklinik Düsseldorf
Moorenstraße 5 4000 Düsseldorf 1
Dt. Ärztebl. 86, Heft 7, 16. Februar 1989 (63) A-399