• Keine Ergebnisse gefunden

3 / 2 0 0 4

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "3 / 2 0 0 4"

Copied!
44
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Liebe Leserin, lieber Leser

Sind es die unliebsamen Mouches Volantes einer überstrapaziert-kurzsichtigen Netzhaut, die die Klarsicht auf die weisse Fläche stören, oder soll der bewusst gesetzte Fliegentupfer vielmehr als Fokussierungshilfe dienen beim Betrachten des quadratisch-gerahmten Bildes?

In Umkehrung erlernter Rezeptionsgewohnheiten laden wir Sie ein, die Lektüre dieserph akzente-Nummer für einmal hinten zu beginnen und sich so, in amüsiert-irritierte Lesestimmung versetzt, dem Schwerpunktthema Ästhetische Bildung anzunähern.

Im «Wettstreit der Schönen Künste», Daniel Lienhards Illustrationen zum Schwer- punkt, setzen sich alle Künste in den Lichtkegel der Aufmerksamkeit, erhalten sich aber trotz heller Beleuchtung etwas von ihrer Sperrigkeit, Vielschichtigkeit und Komplexität, die sich nicht auf den ersten Blick entschlüsseln lässt. Der Kontrast zwischen historischen Figuren und modernem Setting mit heutigem Instrumentarium irritiert, lässt uns innehalten.

Das Schärfen der Aufmerksamkeit für das Unerwartete und die Erweiterung des Wahrnehmungshorizonts formuliert Peter Wanzenried in seiner Standortklärung zur Ästhetischen Bildung als einen von sechs Standards, als Kernkompetenz für das Bestehen in einer vielfältigen und widerspruchsreichen Welt.

Weitere Beiträge beleuchten das Themenfeld von verschiedenen Seiten: Eine his- torische Herleitung des Begriffs «Ästhetische Bildung» eröffnet den Schwerpunkt.

Aus Sicht der Theaterpädagogik und der Musik wird gezeigt, wie in der Praxis authentische ästhetische Erfahrungen und deren Reflexion ermöglicht werden können. Das Pilotprojekt Scribbling Notions macht auf die frühe zeichnerische Entwicklung von Kleinkindern neugierig, und Constanze Kirchners Beitrag betont neben dem Wert eigentätiger bildnerischer Produktion auch die Wichtigkeit der Visual Literacy, der Kulturtechnik, Bilder zu entschlüsseln. Dass diese Fähigkeit nicht nur mit Gemälden, sondern auch etwa anhand der Fotoreportagen des grossen Schweizer Fotografen Werner Bischof trainiert werden kann, zeigt unser Beitrag in der Rubrik «aktuell».

Susan Gürber

3 / 2 0 0 4

2 schwerpunkt

2 Einführung in den Schwerpunkt:

Ästhetische Bildung

3 «Das Moment des Erlebens»: Die Sprache der Pädagogik als ästhetische Sprache

7 Bildnerische Gestaltung und ästhetische Bildung

12 Ästhetische Bildung – jetzt erst recht:

Eine Standortklärung 17 Ästhetische Bildung konkret

23 Scribbling Notions: Pilotstudie zu bild- nerischen Prozessen in der frühen Kindheit

28 standpunkt

Qualifikation: Ungelernt

31 aktuell

31 Multimediales Werner-Bischof-Archiv

36 rezensionen

38 bildungsforschung 40 phzh

40 Interne Forschungs- und Entwicklungs- projekte 2004

41 Werkzeugkiste Computer & Mit der Maus durchs ABC

42 Sinnvoller Einsatz neuer Medien an der Schule

43 Verschiedenes

44 mediensplitter

Ein Kunststück

(2)

0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 0000000000000000 2

p hIa k z e n t e 3 / 2 0 0 4

Ä s t h e t i s c h e B i l d u n g

E i n f ü h r u n g i n d e n S c h w e r p u n k t

Der Schwerpunkt «Ästhetische Bildung» schafft einen Rahmen, in dem wissenschaftliche Grundlagen für die Verortung des Ästhetischen im Kontext von Lernpro- zessen entwickelt (Arts in Learning) und eine kritische Diskussion um Wirksamkeit und Lehrbarkeit künstleri- scher Arbeitspraxis im Kontext von Schule und Öffentlich- keit geführt werden können (Learning in Arts).

Seit Mitte der achtziger Jahre hat sich die Diskussion um das Ästhetische wiederbelebt.

Das gilt sowohl für die Debatten in der Philosophie, der Psychologie, den Erziehungswissenschaften als auch der Musik, der Literatur, dem Tanz, dem Theater, gilt für Gestaltung und Bildende Kunst.

Man gewinnt leicht den Eindruck, als hätte die Frage nach der Bedeutung des Ästhetischen zu keinem andern Zeitpunkt eine solche Wirkungsmächtigkeit ent- faltet wie heute. Dieser Blick täuscht: In gleichem Mass wie die Ästhetisierung der Lebenswelten zunimmt, wächst auch deren Zerstörung.

Es scheint – wie oft in Krisensituationen – dass das Ästhetische zur Beruhigung sozial unübersichtlich gewor- dener Situationen (Lenzen 1990), eingesetzt wird, denn nicht zuletzt sind das, was als Lifestyle oder Design auftritt, Elemente gesellschaftlicher Normierung.

Wie nun ist ein Forschungsschwerpunkt «Ästhetische Bildung» an der Pädagogischen Hochschule Zürich zu ver- orten, dass er nicht eben zu einem Kompensations- und Beruhigungsinstrument gerät? Dass etwas von der Irritation, die in den Verfahrensweisen der Gegen- wartskunst aufscheint, sich auch in pädagogischen Pro- zessen verlebendigt und zum Nachdenken anregt? – denn die Spannung zwischen der zeitgeistigen Proklama- tion des Ästhetischen und der Marginalisierung

ästhetischer Erfahrung im Bildungsprozess ist nicht zu übersehen.

Arts in Learning– Learning in Artsumspielt sprachlich das Problem der Differenz in den generell als unvereinbar geltenden Disziplinen Kunst und Pädagogik.

In Arts in Learninggeht es darum, die Bedeutung zu klären, die die «Versprechungen des Ästhetischen» (Eh- renspeck 1998) für Bildungsprozesse allgemein haben. Im Zentrum stehen jene Anteile am theoretischen und empirischen Forschungsdiskurs, die Psychologie und Pä- dagogik seit dem 19. Jahrhundert für sich reklamieren.

Rebekka Horlacher unternimmt den Versuch einer histori- schen Herleitung des Begriffs «Ästhetische Bildung»

und verweist auf deren Verwurzeltsein im deutschen Ide- alismus. Sie betrachtet die Auswirkungen der romanti- schen Haltung – das Ästhetische als innerweltliche, aber immer ausstehende Lösung – und deren spätere, un- heilvolle Instrumentalisierung im sozialen und politi- schen Kontext. Ihr kritisches Nachfragen, inwiefern das

zeitgenössische Bildungsgeschehen unbemerkt weiter davon beeinflusst wird, könnte den Blick schärfen für verdeckte Anachronismen und vorschnelle Popularisie- rungen.

Die seit den siebziger Jahren in Deutschland einsetzende Reflexion ästhetischer Erziehungskonzeptionen, ihre Befreiung aus musisch-arationalen Vereinnahmungen, öffnet der theoretisch-berufspraktischen Forschung neue Wege.

Peter Wanzenried entwirft in seinem Text eine Vorstel- lung davon, wie in der gegenwärtigen Diskussion um Bil- dungsstandards ästhetisches Lernen in einer der Vielfalt und Heterogenität verpflichteten Schulkultur zu veran- kern wäre.

Konkret nachvollziehbar wird Learning in Artsin den Arbeitsbeispielen von Mathis Kramer-Länger und Chris Wirth. Hierzulande haben bis in die jüngste Vergan- genheit hinein die Bereiche Theater, Tanz, Musik

Gestaltung und Kunst Forschungsfragen – als theoretische Fragen – den Erziehungswissenschaften überlassen.

Das erklärt sich zum einen Teil dadurch, dass in all die- sen Gebieten ein forschendes Verhältnis den Umgang mit der Materie selbst bestimmt – also forschendes Lernen als Praxis im Mittelpunkt steht – zum andern, dass diese Bereiche bis jetzt im akademisierten Lehr- und For- schungsbetrieb keinen Ort hatten.

Es gilt darum, aus den Ressourcen der einzelnen Diszipli- nen heraus empirische Forschungsansätze zu entwi- ckeln, die die Leibgebundenheit ästhetischer Erfahrung reflektieren und – wie Constanze Kirchner – nach Mitteln und Methoden suchen, Genaueres über ästheti- sche Rezeptions- und Produktionsweisen zu erfahren.

Der künstlerische wie auch der kindliche Schaffens- prozess stellen bis heute eines der diffusesten wissen- schaftlichen Probleme dar. Das laufende Projekt

Scribbling Notions untersucht, welche Bedeutung die sich festigenden Bildzeichen im frühkindlichen Entwicklungs- geschehen haben.

Im Versuch von Konturierung und Abgrenzung der beiden Positionen Arts in Learningund Learning in Artshoffen wir eine Spannung produktiv zu machen und einen Beitrag zur Frage zu leisten, in welcher Weise das Ästhe- tische tatsächlich und nachweisbar Auswirkungen auf Bildungsprozesse hat.

Ruth Kunz

Dozentin für Bildnerisches Gestalten an der Pädagogi- schen Hochschule Zürich

(3)

Der Vorwurf, Schule fördere die «Verkopfung»

und «Technisierung», ist keine Erfindung der neueren Zeit. Die damit verbundene Forderung nach ganzheitlicher Bildung durch Einbezug der nichtintellektuellen Fähigkeiten sollte durch den «Lernbereich Ästhetik» mit den Fä- chern Sport, Theater, Kunst, Musik abgedeckt werden. So plausibel dies scheinen mag, so wenig war dieser Weg gefeit vor ideologischen Fehlinterpretationen, wie am Beispiel der Spra- che der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik – immer noch die dominante Sprache der Päda- gogik – gezeigt werden soll.

Die oft zitierte «empirische Wende»1 der (deutschsprachi- gen) Erziehungswissenschaft in den 60er-Jahren hat gegenüber den philosophisch dominierten Reflexionen al- ternativen Forschungsmethoden die Tür geöffnet – parado- xerweise aber die grundlegenden Topoi der dominieren- den Geisteswissenschaftlichen Pädagogik kaum tangieren können. Das lag schon am Programm dieser Wende, die – folgt man Brezinka (1971) – Erziehungsphilosophie vor-

wissenschaftlich-pädagogisch definierte, während For- schung erziehungswissenschaftlich sein sollte. Die be- wusst verfolgte Abstinenz der «Erziehungswissenschaft»

von den zentralen Fragestellungen erlaubte es der Geistes- wissenschaftlichen Pädagogik, ihre Sprache nicht nur in ihrer nie ausgestorbenen Tradition fortzuführen, sondern auch in der empirischen Forschung zu implementieren.

Nur so lässt sich erklären, dass zentrale Topoi wie «Auto- nomie», «Bildung» oder «pädagogischer Bezug» noch im- mer – mehr oder weniger bewusst – als zentrale Kate- gorien pädagogischer Reflexion benutzt werden (vgl. Bürk- ler 2003; Horlacher 2004).

Im Vergleich zu Theorieanalysen oder Ideologien spielen in der Analyse von Sprachen nicht Argumente oder Begriffe die Hauptrolle, sondern deren Kontext, aus dem sie generiert werden oder eben «zur Sprache kommen»

(Tröhler 2003). Dieser Kontext ist im Falle der Geisteswis- senschaftlichen Pädagogik wesentlich durch ästhetische Kategorien bzw. Grundanschauungen bestimmt, die in der Theoriebildung selber kaum und in der Sekundärliteratur fast gar nicht reflektiert worden sind. Rekonstruiert man allerdings die «geistigen» Vorbilder dieser Pädagogik, näm- lich die Diskussionen bei Johann Gottfried Herder (1744–1803), Wilhelm von Humboldt (1767–1835) oder den Neuhumanisten, die pädagogische Erfahrungen zu äs- thetisieren versuchten, so erstaunt die ästhetisierende

0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

0

p hIa k z e n t e 3 / 2 0 0 4

3

Von Rebekka Horlacher

Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Zürich, Institut für Historische Bildungsforschung

Fotomontagen: Daniel Lienhard, Zürich

« D a s M o m e n t d e s E r l e b e n s »

D i e S p r a c h e d e r P ä d a g o g i k a l s

ä s t h e t i s c h e S p r a c h e

(4)

Grunddisposition der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik schon weniger. Historisch gesehen heben sich die neuhu- manistischen Philosophen und Pädagogen damit auch von den Philanthropen ab, die zur selben Zeit auf ganz andere Konzepte wie Nützlichkeit, Brauchbarkeit und berufsorien- tierte Ausbildung setzten, und damit auf reelle Bedürfnisse der Zeit reagierten. Die sich etablierende Kaufmanns-, Bür- ger- und gehobene Handwerkerschicht brauchte Nach- wuchs, der nicht nur Lesen, Schreiben, Rechnen und La- tein konnte, sondern sich auch mit ökonomischem Denken und angemessenem Verhalten bekannt gemacht hatte, und der die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse des 17. und 18. Jahrhunderts gewinnbringend umsetzen konnte.

Die für das 20. Jahrhundert massgebliche Kanonisie- rung der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik vollzog sich in der Weimarer Republik, wobei Herman Nohl (1879–

1960) zu den wichtigsten Exponenten gehörte, der neben der Nachwuchsbildung und eigener Publizistik gerade auch über Medien wie wissenschaftliche Buchreihen, Handbücher und Zeitschriften seiner ästhetisierenden Pä- dagogik die Bahn öffnete. Im Folgenden soll er als Vertre- ter dieser Pädagogik untersucht werden, die bis heute das Reden und Denken über erzieherische Prozesse prägt. Da- bei steht sowohl das Verhältnis von Ästhetik und Pädago- gik allgemein als auch in der (engeren) Kombination von

«ästhetischer Bildung» im Zentrum der Darstellung.

Der Begriff der «ästhetischen Bildung»

Ästhetische Bildung ist, dies zeigt ein Blick in die Ge- schichte, über die Zeiten ein veränderbares Konzept, wel- ches sich von einer massgeblichen Akzentuierung der er- zieherischen Seite im 18. Jahrhundert zu einer verstärkten Betonung des bildnerischen Aspekts im 20. Jahrhundert entwickelt hat und dabei auch die inhaltliche Ausformu- lierung einige Male geändert hat. Ausgangspunkt einer Be- griffsgeschichte von ästhetischer Bildung (oder Erziehung) sind dabei in der Regel die Briefe über die ästhetische Er- ziehung (1795) von Schiller, welche die Erziehung des Menschen und der Menschheit wesentlich an den Umgang und die Erfahrung mit Kunst anbinden. Hauptziel dabei ist für Schiller die Verwirklichung der politischen Freiheit.

Eine weitere wichtige Quelle sind Herders Briefe zur Beförderung der Humanität(1793–1797). Zentral in diesen Briefen ist die Idee der Humanität, womit die «Menschlich- keit des Menschen» gemeint ist, die, verknüpft mit dem Gedanken der Totalität menschlicher Kräfte und Fähigkei- ten, «für die ästhetische Erziehung und Bildung ausschlag- gebend geworden ist» (Franke 2000, S. 698). Damit ver- bunden ist immer auch eine Kritik an einer einseitigen Ausbildung des Menschen in intellektueller Hinsicht, die zwar einerseits den Fortschritt in Wissenschaft und Tech- nik ermögliche, andererseits aber auch zu einer geistig- moralischen Verarmung führe. Nicht zuletzt um dieser be-

fürchteten Verarmung entgegenzuwirken, setzte sich im Curriculum der Schule seit dem beginnenden 20. Jahrhun- dert der «Lernbereich Ästhetik» durch, worunter in der Re- gel die Schulfächer Sport, Theater, Kunst und Musik ver- standen werden (vgl. Selle 1986). Diese Zuweisung der äs- thetischen Dimension an bestimmte Unterrichtsfächer führte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Be- anstandungen. Die Argumentation der Kritiker versuchte dabei mit Rückgriff auf Schiller und BaumgartensÄsthetik (1750) den ästhetischen Anspruch auf das gesamte Lernen auszudehnen, ja diesen sogar zum Fundament allen Ler- nens zu machen. In diesem Sinne weitete sich die ästheti- sche Erziehung zunehmend zu einem «kulturpädagogi- schen Entwurf» aus, der sich selber als ästhetisch-politisch verstand, wenngleich er curricular auf das Fach Kunst be- schränkt blieb (Franke 2000, S. 699).

Charakteristisch für die Auffassung der Geisteswis- senschaftlichen Pädagogik von Ästhetik ist nun die Fokus- sierung der ästhetischen Erziehung auf den Aspekt der mu- sisch-literarischen Erziehung. Diese musische Erziehung versteht sich einerseits als in der pädagogischen Tradition der antiken Griechen stehend, anderseits (mitunter auch damit verbunden) versteht sie sich als «Gemeinschaftser- ziehung» und stellt damit an sich selber den Anspruch, die zwischenmenschlichen Beziehungen zu fördern. «Mit die- sen vorrangig praxisorientierten Zielvorstellungen ist die musische Erziehung eine Gegenbewegung zur Gefährdung des Menschen durch ‹Technokratie›, ‹Leistungsdenken›,

‹Vermassung› und die ‹Hast› des Lebens in der modernen Welt» (Franke 2000, S. 719). Damit eröffnet sich für die mu- sische Erziehung ein weites Tätigkeitsfeld, indem sie sich als Hüterin der Ganzheit versteht, die sie, bevorzugt in schulischen oder ausserschulischen, aber in der Regel in- stitutionellen Kontexten, Kindern und Jugendlichen ver- mitteln will. Sie sieht sich dabei immer auch als Kompen- sation der postulierten Einseitigkeit der äusseren, wirt- schaftlichen, technischen Welt oder als Prävention und Stärkung der Ganzheitlichkeit im Hinblick auf eine gefähr- liche Erwachsenenwelt. Diese kompensatorische Funktion der musischen Erziehung hat sich zudem in der Reformpä- dagogik bemerkenswert einfach mit völkischen, nationa- len oder totalitären politischen Systemen verbinden las- sen, wohl auch deshalb, weil sie sich selber als unpoli- tisch verstand und damit eine wichtige Dimension der äs- thetischen Erziehung des 18. Jahrhunderts nicht weiter ge- pflegt hat.

Die ästhetische Dimension der Geisteswissen- schaftlichen Pädagogik: Herman Nohl

Herman Nohl habilitierte sich 1908 bei Rudolf Eucken2 in Jena mit einer Schrift zum Thema Die Weltanschauungen der Malerei. Darin versucht er, von der Philosophie ausge- hend, «die Stilgegensätze zu interpretieren als die ver-

(5)

schiedenen möglichen Auseinandersetzungen des Men- schen mit der Welt», wobei er besonders betont, dass «das schönste Geheimnis der Kunst» sei, «dass sie zwar aus dem Menschen» stamme, «aber in seinen Zwecken nicht»

aufgehe (Nohl 1908/1920, S. 11). Er moniert auch die Auf- fassung der Tradition, die davon ausgehe, dass die Male- rei, im Gegensatz zur Literatur, keine Möglichkeit der Welt- anschauung hätte. «Weltanschauung» bedeutet für Nohl,

«den Sinn der Wirklichkeit zu deuten» (ebd., S. 12). Diesen Irrtum will er mit seiner Abhandlung widerlegen. Dazu beschreibt er drei Typen der Weltanschauung in der Male- rei, nämlich die dualistische, die pantheistische und die naturalistische, denen je verschiedene Auswirkungen auf das Verhältnis Kunst – Betrachter zugesprochen werden.

Die pantheistische Malerei etwa zieht den Betrachter völ- lig in ihren Bann, «Kunstwerk und Beschauer werden eins» (ebd., S. 62), während bei der dualistischen Weltan- schauung die Distanz (Ehrfurcht) zwischen Bild und Be- trachter das charakteristische Merkmal ist und bei der na- turalistischen Malerei die Gefühle überhaupt nicht invol- viert werden. Trotzdem, oder gerade deswegen, zeige sich hier «die einfache Empfindung von der Kraft und Wahrheit der Wirklichkeit» (ebd., S. 63). Aus diesen Überlegungen zieht Nohl – und dies ist für die Frage nach dem Verhältnis von Ästhethik und Pädagogik zentral – das Fazit, dass das Entscheidende an der Weltanschauung der Malerei das Er- lebnis sei, «dass alles, was zu sagen ist, in dem Erlebnis und der Darstellung dieser Erscheinung liegt, dass diese Erscheinung sich dem Mut des starken Individuums offen- bart» (ebd., S. 82). Damit trennt Nohl Ästhetik von Wissen, Vernunft und rationaler Argumentation. Das Moment des Erlebnisses wird das Entscheidende, verbunden mit der Betonung des «Muts des starken Individuums», den es braucht, um diese ästhetische Erfahrung überhaupt reali- sieren zu können. So wird die Charakterbildung zum wich- tigsten Element der Pädagogik.

Auch in seiner, für die pädagogische Tradition wich- tigen Kompilation zweier Aufsätze aus dem Handbuch für Pädagogik in ein Buch Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorieerhält die Ästhetik durch die Kunsterziehungsbewegung eine wichtige Bedeutung zuge- sprochen. In dieser Schrift versucht Nohl erstens, die Re- formbewegungen der Pädagogik an der Wende vom 19.

zum 20. Jahrhundert zu systematisieren und daraus zwei- tens eine «Theorie der Bildung» zu formulieren. Für ihn sind dabei drei unterschiedliche Formen der pädagogi- schen Bewegung sichtbar: die «pädagogischen Volksbewe- gungen» (Jugendbewegung und Volkshochschulbewe- gung), die «pädagogischen Reformbewegungen» (Kunst- erziehungsbewegung, Arbeitsschulbewegung, die Bemü- hungen um Schulverfassungen, die Landerziehungsheim- bewegung) und ganz allgemein die «pädagogische Bewe- gung in der Schule». Die Kunsterziehungsbewegung nimmt

für Nohl eine besondere Rolle ein, weil sich in der Kunst immer wieder «das neue Lebensgefühl» und der «schöpfe- rische Gestaltungswille» zeigt; beides Elemente, die nicht nur an der Wende zum 20. Jahrhundert, sondern sowohl in der Renaissance als auch im Sturm und Drang die Re- formbewegungen massgeblich beeinflusst hätten (Nohl 1933/1987, S. 38).

Der in der Kunst sichtbare Aufbruch sei dabei primär ein Anliegen der betroffenen Künstler gewesen, die sich mit ihrer neuen Kunstauffassung gegen das «Alexandri- nertum der Zeit mit ihrem Gelehrtenideal» gewendet hät- ten, das sich aber bald zum Motor einer ganzen Reformbe- wegung aufgeschwungen hätte. Die sich daraus ent- wickelnde Kunsterziehungsbewegung mit ihren Kunster- ziehungstagen habe nun speziell in der Hamburger Lehrer- schaft grosse Resonanz gefunden. Zentral sei die Erkennt- nis, «dass das Kind nach seiner seelischen Art dem Künst- ler verwandt» sei (ebd., S. 42). Dies wird paradigmatisch in Carl Götzes Kind als Künstler (1898) formuliert. Götze geht davon aus, dass das Kind künstlerisches Potenzial besitzt, dies zeige sich in den spielerischen Aktivitäten wie Zeichnen, Basteln, Bauen und in seiner Phantasie. An diese Ansätze der «Selbsttätigkeit» knüpft die Kunsterzie- hungsbewegung an und will diese Erlebnis-, Gestaltungs- und Ausdruckskraft im Kind bewahren und entwickeln.

Nohl fasst die Kunsterziehungsbewegung nicht nur auf die klassischen «Disziplinen» konzentriert auf, sondern sub- sumiert darunter auch die Bewegungen, die sich um die körperliche Ertüchtigung kümmern, wie etwa die Wander- vogelbewegung oder die Gymnastik. Damit spricht er der nicht intellektuellen Erziehung eine hohe Bedeutung zu, ganz im Sinne der Lebensphilosophie seines Lehrers Eu- cken, der damit eine «Gegenwelt» zur technisierten Um- welt schaffen wollte.

Ästhetik als Gegenkonzept zur Moderne

Dazu passt, dass sich die (pädagogischen) Modernisie- rungsbewegungen in Deutschland in der Regel abseits der Grossstädte wie Berlin abspielten (Werner 2003). Nicht zu- letzt Jena übernimmt in diesem Kontext eine wichtige Rol- le. Hier verbrachte Nohl seine Jahre als Privatdozent und traf mit seinen Vorlesungen, die die zeitgenössischen Kunst- und Kulturbewegungen im Gegensatz zu den etab- lierten Professoren integrierten, den Geschmack und den Nerv der Studierenden. «Seine Kollegs und Übungen über die Geschichte der Philosophie, Ethik, die Entstehung des Historischen Bewusstseins sowie Ästhetik wurden einer der intellektuellen Treffpunkte der freistudentischen Sera- leute» (ebd., S. 295). In diesem Kontext von Kultur- und Lebensreform, konzentriert an vielfältigem künstlerischem Schaffen, entfaltete sich ein Konzept von ästhetischer Bil- dung, das wenig mit der Förderung von handwerklichen Fähigkeiten der Kinder zu tun hatte, sondern vielmehr mit

(6)

der freien Entfaltung der als natürlich angesehenen künst- lerischen Anlagen des Kindes. Dies, verbunden mit einer dualistischen Vorstellung von Kunst als Rückzugsort vor den Herausforderungen und Bedrohungen der technischen Welt, bildet den Nukleus der ästhetischen Bildung, die da- mit auch als Gegenwelt gestaltet wurde und sich bis heu- te als eine ideale Projektionsfläche für alle möglichen Vor- stellungen erweist, die untereinander zwar sehr disparat sein können, sich aber im Einvernehmen darüber finden, dass sie die einzigen Entfaltungsmöglichkeiten für nicht- intellektuelle Fähigkeiten und Kräfte im Umfeld der Schu- le seien.

Das Problem dabei scheint mir nicht, dass die Schule auch Ort der Förderung nichtintellektueller Fähigkeiten sein soll, sondern dass in dieser Argumentation eine Art ästhetischer Totalität mitschwingt, die rhetorisch ihre Wurzeln in der Gegenbewegung zu einer als «technisiert»

und «verkopft» bezeichneten Moderne hat, aber letztlich ein Konzept vertritt, das nicht diskutier- oder gar aushan- delbar ist, sondern stillschweigendes Einverständnis vo- raussetzt. Diese antiintellektualistische Totalität oder Ganzheit, die jenseits von Intellektualität konzipiert ist, ist zwar ein sehr attraktives Konzept, da sie aber der ra- tionalen Argumentation nicht zugänglich ist, anfällig für

«Verführung». Aufgrund dieses Hintergrundes wäre viel- leicht auch darüber nachzudenken, ob ästhetische Bildung wirklich der einzige Ort ist, an dem sich nichtintellektuelle Fähigkeiten im schulischen Kontext entfalten können, oder ob der hier aufgestellte Dualismus ein theoretisches Kons- trukt ohne empirische Basis sei, welches zwar eine histori- sche Berechtigung hat, unabhängig vom historischen Kon- text aber seinem Inhalt und Ziel verlustig gegangen ist.

1 In den 60er-Jahren wurden konkrete Fragen nach der Effizienz der Bildungseinrichtungen laut. Zur Verbesserung des Bil- dungswesens hatte die Geisteswissenschaftliche Pädagogik mit ihrer Methode des Verstehens und der Auslegung der Er- ziehungswirklichkeit und ihrer Ideen keine weiterführenden Beiträge beibringen können. Vor diesem Hintergrund kam es in Bezug auf das Forschungsparadigma zur Ablösung der geis- teswissenschaftlichen Richtung. Sie wurde eingeleitet durch die Forderung nach einer «realistischen Wendung in der pä- dagogischen Forschung» (Roth 1963, S. 109). Heinrich Roth for- derte eine empirische Sozial- und Personenforschung und zog einen Trennungsstrich zwischen ‹idealistischer› und ‹realisti- scher› Pädagogik. Damit wurde auf die Empirieabstinenz der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik und ihre geringe Beach- tung von Fragen der Bildungseffizienz reagiert. Die Forderung nach einer erziehungswissenschaftlichen Empirie führte dazu, dass die methodische Vorrangstellung der Hermeneutik zwar verloren ging, nicht aber die Sprache des Denkens, die trotz der empirischen Orientierung von der geisteswissenschaft- lichen Tradition bestimmt blieb.

2 Rudolf Christoph Eucken (1846–1926) studierte in Göttingen und Berlin Philosophie. Sein Interesse galt zuerst der Aristote- les-Forschung und Untersuchungen zur philosophischen Ter-

minologie, in den Jahren 1885–1888 entwickelt er eine Kultur- philosophie und wird der wichtigste Vertreter der Lebensphi- losophie. Diese will die Seele des Menschen vom einseitigen Intellektualismus und der Pseudokultur des Technischen be- freien. Seine Grundlinien einer neuen Lebensanschauung (1907) stellen die endgültige Hinwendung zur Ausarbeitung ei- ner neuen Metaphysik des Geistes dar. Er lehnt jede Form des Intellektualismus in der Philosophie ab und propagiert einen (nachkantianischen) «neuen Idealismus», den er «schöpferi- schen Aktivismus» nennt. Nicht das Individuum, sondern die gemeinsame schöpferische Lebenskraft aller Menschen soll aktiviert werden, wobei die Philosophie zu dieser Lebensan- schauung anhalten soll. Er wird damit zum Initiator der neu- idealistischen Bewegung, die sich hauptsächlich an Fichte orientiert (Tröhler 2004).

Quellen

Baumgarten, Alexander Gottlieb:Aesthetica (1750). [Reprint] Hil- desheim 1986

Götze, Carl: Das Kind als Künstler. Ausstellung von freien Kinder- zeichnungen in der Kunsthalle zu Hamburg.Hamburg 1898 Herder, Johann Gottfried: Briefe zur Beförderung der Humanität

(1793–1797). Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden, Band 7. Frankfurt 1991

Nohl, Herman: «Die Weltanschauungen der Malerei» (1908). In:

Herman Nohl:Stil und Weltanschauung.Jena 1920, S. 3–83 Nohl, Hermann: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und

ihre Theorie(1933). Frankfurt am Main 1987

Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen(1795). Stuttgart 2000

Literatur

Brezinka, Wolfgang: Von der Pädagogik zur Erziehungswissen- schaft.Weinheim/Basel 1971

Bürkler, Sylvia: Autonomie – Schlagwort für pädagogische Ideen?

Ursprung und Auswirkungen der Autonomiedebatte in der Zwischenkriegszeit in Deutschland. Unveröffentlichte Liz.- Arbeit Universität Zürich 2003

Franke, Ursula: Bildung/Erziehung, ästhetische. In: Karlheinz Barck/

Martin Fontius/Dieter Schlenstedt/Burkhart Steinwachs/ Frie- drich Wolfzettel (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe: histori- sches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 1. Stuttgart 2000, S. 696–727

Hellmuth, Eckhart/Ehrenstein, Christoph von: «Intellectual Histo- ry Made in Britain: Die Cambridge School und ihre Kritiker». In:

Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 149–172

Horlacher, Rebekka: Bildungstheorie vor der Bildungstheorie. Die Shaftesbury-Rezeption in Deutschland und der Schweiz im 18.

Jahrhundert. Würzburg 2004

Roth, Heinrich: «Die realistische Wendung in der pädagogischen Forschung». In:Die Deutsche Schule55 (1963), S. 109–119 Selle, Gert: «Lernbereich Ästhetik». In: Dieter Lenzen (Hrsg.): En-

zyklopädie Erziehungswissenschaft, Band 3. Stuttgart 1986, S. 210–227

Tröhler, Daniel: Geschichte und Sprache der Pädagogik. Der deut- sche Weg und seine Probleme. Ms Zürich 2003

Tröhler, Daniel: «Politische Moral und deutsche Pädagogik. Die geisteswissenschaftliche Pädagogik und ihre Sprache.» In:

Detlef Horster/Jürgen Oelkers (Hrsg.): Pädagogik und Ethik.

Opladen 2004 (im Druck)

Werner, Meike G.: Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin-de-SiècleJena. Göttingen 2003

(7)

Die Produktion von bildnerischen Werken setzt Prozesse voraus, in denen Einfallsreichtum, Kreativität und Fantasie zusammenspielen müssen. Aber auch die Rezeption setzt eine ak- tive Auseinandersetzung mit dem betrachteten Bild voraus. Im Folgenden wird gezeigt, wie im ständigen Wechselspiel von Rezeption und Pro- duktion alle involvierten Prozesse im Rahmen von ästhetischer Bildung reflektiert und ge- schult werden können.

Ästhetische Erfahrung gilt als Voraussetzung ästhetischer Bildung. Tritt zur Erfahrung die Reflexion, das Einordnen, Strukturieren, Kategorisieren von Erfahrenem in subjektiv bedeutsame Kontexte, werden Prozesse ästhetischer Bil- dung angebahnt. Das bedeutet auch, dass gelernt werden muss, die eigenen ästhetischen Fähigkeiten zu entdecken, zu schätzen und zu erweitern. Als Äquivalent zum ratio- nal orientierten Weltzugang wird der anschauliche, emo- tional geprägte sinnliche Zugriff auf die Wirklichkeit aus- gebildet. Dazu gehören Kenntnisse über historische und zeitgenössische Kunstwerke sowie über die ästhetischen Phänomene unserer Umwelt. Das Erschliessen und Verste- hen, Geniessen und Sich-vergnüglich-Aneignen von künstlerischen, musikalischen und literarischen Werken in ihrer Vielschichtigkeit kann ästhetische Erfahrungen er- möglichen. Darüber hinaus sollen Sensibilität, Fantasietä- tigkeit, Imaginationskraft und Kreativität ebenso entfaltet werden wie das kritische, emanzipierte Sich-Zurechtfin- den und Verhalten in einer von Bildern und visuellen Me- dien bestimmten Welt. Selbstbestimmtes, erfahrungsoffe- nes und interdisziplinäres Arbeiten sind wesentliche Vo- raussetzungen für einen Unterricht, der Intensität und Aufmerksamkeit, Auseinandersetzung und Sinnkonstitu- tion verlangt. Unterricht kann dann auf ästhetische Weise bildungswirksam werden, wenn Staunen, Aufmerksam- keit und Neugier geweckt, Widerstand und Irritation er- zeugt, Genuss und Sinnhaftigkeit in Aussicht gestellt wer- den. Im Folgenden werden jene Prozesse ästhetischer Bil- dung skizziert, die mit der Rezeption von Bildender Kunst und der bildnerischen Produktion einhergehen.

Ästhetische Erfahrung in Rezeptionsprozessen

Besonderer Erläuterung bedarf die Spezifik jener ästheti- schen Erfahrung, die nur im Dialog mit symbolisch-prä- sentativen Ausdrucksformen Bildender Kunst existiert.

Diese ästhetische Erfahrung basiert auf der spezifischen, singulären Struktur eines künstlerischen Objekts und ist nur dort zu gewinnen. «Ästhetische Erfahrung im engeren Sinn unseres Verhaltens zur Kunst wurzelt in der ästheti- schen Qualität von Erscheinungen der Dingwelt, in denen ein Vorgang zum Gipfel, eine Erfahrung zur Erfüllung ge- langt ...» (Jauss 1991, S. 192). Als Gegenstände ästheti- scher Erfahrung sind die materielle Substanz, der am Werk sichtbare Produktionsprozess, die Gestaltung und deren Sinnenhaftigkeit sowie die künstlerischen Bezugssysteme zu bezeichnen.

Das Spezifische der ästhetischen Erfahrung im Um- gang mit Kunstwerken wird aus kunstwissenschaftlicher Perspektive mit dem Begriff der Anschauung charakteri- siert, die sich nicht nur auf den visuellen Sinn beschränkt, sondern vielmehr einen nichtbegrifflichen, holistischen Zugriff meint. Die Identität eines Bildes liegt in seiner An- schaulichkeit, im «sinnlich organisierten Sinn» (Boehm 1996, S. 149). Rezeptionsästhetisch gewendet formuliert Bätschmann (1988, S. 126): «Anschauung ist die produkti- ve Tätigkeit des Subjekts am Bild». Diese aktive Leistung des Betrachters im Prozess ästhetischer Erfahrung verortet Rüdiger Bubner (1989, S. 36) zwischen den Polen An- schauung und Begriff. Gemeint ist ein «zwangloses Spiel der Reflexion» (ebd., S. 91), das sich zwischen den be- grifflich nicht fassbaren ästhetischen Phänomenen und den Versuchen, diese Wesenszüge verbal zu erläutern, be- wegt: «Flüchtete sich die Reflexion in den Begriff, so gäbe sie die Basis der ästhetischen Erfahrung auf und tauschte das Reich der Kunst gegen die Selbstgewissheit des Den- kens. ... Die begriffliche Aussage verfremdet die Lebendig- keit der Begegnung mit Kunst, so dass die Reflexion von der Leere des abstrakten Begriffs wieder zur Unmittelbar- keit der Anschauung zurückstrebt. Dort vermeinte sie doch zu haben, was der Begriff nicht zu fassen imstande ist»

(Bubner 1989, S. 65).

Die ästhetischen Phänomene verweigern sich dem sprachlichen Zugriff und sind nur in ihren simultanen, sinnlich-symbolischen Beziehungen untereinander erfahr- bar. Ausgangspunkt der ästhetischen Erfahrung am Werk ist der subjektive Zugang, der nicht nur durch Motiv oder Material, Komposition oder Farben, Produktionsverfahren,

B i l d n e r i s c h e G e s t a l t u n g u n d ä s t h e t i s c h e B i l d u n g P o t e n z i a l e ä s t h e t i s c h e r E r f a h r u n g i n R e z e p t i o n s - u n d P r o d u k t i o n s p r o z e s s e n

Von Constanze Kirchner

Professorin für Kunstpädagogik an der Philosophisch- Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg

(8)

Handlungsvollzüge, kunstgeschichtliche Bezüge ausgelöst wird, sondern auch Offenheit beim Betrachter erfordert.

Die subjektiv bedeutungsvollen Empfindungen, Erfahrun- gen und Assoziationen bilden Anknüpfungspunkte für die weitere Begegnung mit dem Werk: Sinnstiftende Deu- tungsbewegungen tragen in Korrespondenz mit der Werk- struktur zum Erschliessen des Sinns bei. Dabei sind die Deutungen keineswegs beliebig, sondern an die materiel- len, kompositorischen und motivischen Vorgaben des künstlerischen Objekts gebunden. Die Kommunikation über ein Werk geschieht vorwiegend sprachlich. Auch wenn der ästhetisch produzierte Sinn nicht in Sprache übersetzbar ist, trägt der Austausch über ein künstleri- sches Objekt durch die weitergehende Beschäftigung damit zum tieferen Verständnis bei. Insbesondere die prozessua- le Konstitution des Sinns durch den Rezipienten, in die auch die eigenen Produktionserfahrungen eingehen, ist Bestandteil der ästhetischen Erfahrung. Voraussetzung für diese Sinnkonstitution ist die Bereitschaft, Ungewohntes wahrzunehmen, Irritationen zu schätzen, neugierig zu sein, Kontexte zu bilden, zu geniessen, kontemplativ zu versinken und Neues aufzunehmen.

Das Kennen lernen historischer und zeitgenössischer Kunstwerke gehört zu den grundlegenden Inhalten des Kunstunterrichts. Es werden hierdurch nicht nur Gestal- tungsprozesse hinsichtlich Motiv, Technik oder Material angeregt und damit die Ausdrucksrepertoires erweitert, sondern es entwickeln sich auch Werkverständnis und Deutungsrepertoire. Viele Modelle für den Umgang mit Kunstwerken bevorzugen neuerdings die Beschäftigung mit zeitgenössischer Kunst – befasst sich Gegenwartskunst doch mit den Problemen unserer Zeit (vgl. Kirchner 2001).

Der Dialog mit Kunst und über Kunst bedeutet, dass Ein- drücke in Sprache gefasst werden, dass Aussagen über Wirkungen begründet werden, Absichten abgeleitet und Einzelelemente wie Materialien, Motive, Gegenstände, bildnerische Mittel in grössere Zusammenhänge eingeord- net werden. Darüber hinaus gilt es, gestalterische Struktu- ren zu erkennen, Motive Themen zuzuordnen, zu kategori- sieren sowie gesellschaftliche Kontexte zu erschliessen, in die ein Werk eingebettet ist. Genau diese Fähigkeiten ver- langt die letzte PISA-Studie unter dem Stichwort «Lesekom- petenz». Zukünftig soll darüber hinaus auch die «visual li- teracy» geprüft werden – die Fähigkeit, Bilder zu ent- schlüsseln, wie sie im Umgang mit Kunstwerken geschult wird.

Kinder und Jugendliche besitzen ein besonderes äs- thetisches Vermögen zur Kunstrezeption, denn sie sind Forscher, sie sind neugierig und wissensdurstig, sie den- ken vielseitig und mit allen Sinnen. Ihre Vorstellungen von der Wirklichkeit sind noch nicht starr festgelegt, son- dern flexibel, sie haben, wenn sie in die Schule kommen, noch keine eng vorgefassten Sichtweisen. Kinder und Ju-

gendliche sind Spielexperten, die mit Fantasie, Kreativität und Experimentierfreude ungewöhnliche Vorstellungswel- ten entwickeln. Ihre Einbildungskraft und ihr Ideenreich- tum tragen dazu bei, Bedeutungen zu erforschen und Sinnschichten zu entdecken. Widerständiges lockt zur Er- kundung. Dieses ästhetische Vermögen bedarf der konti- nuierlichen Förderung, andernfalls wird es von anderen, diskursiv angelegten Denkstrukturen überlagert und geht langfristig verloren.

Die vielfältigen Strategien zeitgenössischer Kunst können zugleich Anlass sein, das Ausdrucksvermögen zu erweitern und zu individuellen bildnerischen Kommuni- kationsformen zu finden. Die materielle Substanz vieler Werke hat einen solchen Aufforderungscharakter, dass Kinder und Jugendliche animiert werden, sich nicht nur für die Herstellungsverfahren zu interessieren, sondern auch die eine oder andere Ausdrucksform selbst zu erpro- ben. Speziell für Jugendliche, die oft unzufrieden mit ih- rem zeichnerischen Darstellungsvermögen sind, können die Gestaltungsformen zeitgenössischer Kunst eine enorme Bereicherung für die eigenen Ausdrucksmittel bedeuten.

Darüber hinaus interessiert Kinder und Jugendliche natür- lich all das, was die eigene Lebenswelt berührt: Men- schen, Beziehungen, Umwelt, Tiere, Politik und Vieles mehr. Entscheidend für das Interesse der Schülerinnen und Schüler an der Kunstrezeption ist eine geeignete Werkauswahl, die ästhetische Erfahrungen auszulösen vermag.

Ästhetische Erfahrung in Produktions- prozessen

Kinder und Jugendliche zeichnen und malen, formen, bauen und konstruieren. Sie drücken sich durch Bewegung und Tanz aus, sie sammeln unterschiedlichste Dinge, sie stellen skurrile Objekte aus gefundenen Materialien her, sie fotografieren, entwickeln Collagen etc. Tätowierung, Piercing, Mode sind ebenso Gegenstandsbereiche, die Schülerinnen und Schüler interessieren, wie Naturerfah- rung und sinnliche Materialerprobung, der Umgang mit Medien, das Spielen und Inszenieren. Dieses Spektrum bildnerischer Tätigkeiten gilt es – ausgehend von den Interessen der jeweiligen Lerngruppe – zu nutzen, zu för- dern und zu erweitern.

Die bildnerische Produktion unterstützt nicht nur das Erweitern des individuellen Ausdrucksrepertoires, son- dern auch das Entwickeln von differenzierter Wahrneh- mungsfähigkeit, ästhetischer Sensibilität und Bildkompe- tenz, die das kritische Urteilsvermögen einschliesst. Das anthropologisch verankerte, genuine Mitteilungs- und Ausdrucksbedürfnis dient der Verarbeitung, Klärung und dem Verständnis von Lebenswirklichkeit. Das Erlebte fin- det eine nonverbale Form des Ausdrucks. Es wird vom nichtkommunikablen Inneren nach aussen gebracht, bild-

(9)

nerisch geformt und damit kommunikabel. Das Hervorge- brachte wird auf diese Weise zu einem Gegenüber, das mit Distanz betrachtet und reflektiert, geteilt und miteinander besprochen werden kann. Diese Funktion des bildneri- schen Ausdrucks bezieht sich nicht nur auf das Zeichnen und Malen, sondern auf das gesamte Spektrum bildneri- scher Aktivitäten (Performance, plastisches Gestalten, Rauminstallationen). Gerade für Grundschulkinder bein- haltet der nichtsprachliche, bildnerische Ausdruck die Möglichkeit, Träume, Wünsche, Ängste, Fantasien darzu- stellen, die sie (noch) nicht in Sprache fassen können.

Voraussetzung für die ästhetische Erfahrung in Pro- duktionsprozessen, die sich oftmals in Selbstvergessen- heit, Versunkenheit und lustvollem Tun zeigt, ist jedoch weniger das gewählte Motiv, sondern vielmehr der Dialog mit dem Material: Denn die Idee für eine bestimmte Dar- stellungsweise bzw. für ein gestaltetes Produkt folgt einem Ausdrucksbedürfnis, das sich im Zusammenspiel mit dem Materialangebot (Zeichenstift, Papier, Holz, Papier usw.) entwickelt. Im Produktionsprozess wird das Material zwar verfügbar gemacht, jedoch nur in der Weise, wie es das Material erlaubt. Den für die ästhetische Praxis genutzten oder aber zur Verfügung gestellten Materialien und Verfah- ren kommt insofern eine wichtige Funktion zu: Die stoff- lichen oder auch immateriellen Reize fordern ebenso wie die angewandten Techniken in besonderer Weise zum äs- thetischen Tun auf und können konkrete Ideen und Ge- danken anstossen.

Der Gestaltungsprozess darf nicht als mechanistisches Herstellungsverfahren verstanden werden, sondern als geistige Tätigkeit, die im Umgang mit dem Material Ausbil- dung erfährt. Das Wechselspiel von Idee, Zufall und Her- vorbringung, von Materialspuren, die Assoziationen auslö- sen, Erinnerungen anstossen und die Bildfindung weiter- treiben, das Suchen und Finden von Formen sowie das Er- proben ungewöhnlicher, unkonventioneller Lösungswege sind Faktoren, die den prozessualen Charakter der Werkge- nese konstituieren. Das Material wirkt im Produktionspro- zess als sinnkonstitutives Element, spezifische Materialrei-

ze bieten bestimmte ästhetische Erfahrungs- und Erkennt- nischancen. Das gestalterische Tun kann damit ein Prozess sein, der von Intensität und Flexibilität, Vergnügen und ausgeprägter Intentionalität sowie von fantasievoller Vor- stellungsbildung gekennzeichnet ist. Der Prozesscharakter bindet die volle Aufmerksamkeit und Konzentration, da je- de bestimmte ästhetische Handlung eine erneute ästheti- sche Bezugnahme verlangt. Mit diesem Dialog geht eine ge- dankliche Beschäftigung einher, die sowohl kompositori- sche als auch inhaltliche Elemente umfasst. Dieses ge- dankliche Befasstsein, das mit der sinnlich basierten, d. h.

visuellen, taktilen, und körperlich zum Teil anstrengenden Produktion verwoben ist, konstituiert die ästhetische Er- fahrung.

Einfallsreichtum, Fantasie und Kreativität

Einfallsreichtum, Fantasie und Kreativität sind wesentli- che Bestandteile ästhetischer Erfahrung. Versucht man das Zusammenwirken von Fantasie, Kreativität und Einfalls- reichtum zu beleuchten, wird deutlich, dass die miteinan- der vernetzten Prozesse kaum auseinander zu dividieren sind. Während die Kreativität meist mit kognitiven Prozes- sen in Verbindung gebracht wird (Problemlösungsstrate- gien, Flexibilität usw.), werden der Fantasie eher holisti- sche, leibsinnlich fundierte Attribute wie Imaginationsfä- higkeit, Intuition o. Ä. zugeschrieben. Kreativität ist die Kraft, die über die Fantasie hinaus originell und flexibel Wirklichkeit gestaltet: «Kreativität kann sozusagen die Strategie sein, mit deren Hilfe Fantasie Realität verändert.

Fantasie lehrt das Wünschen. Ohne Kreativität, ohne krea- tives Verhalten bleiben die Wünsche schöne oder schlim- me Träume» (Otto 1980, S. 18). Nimmt man den Begriff

«Kreativität» wörtlich, so ist damit das Potential, etwas herzustellen, etwas zu produzieren gemeint (lat.: creare

‹erzeugen›). Die Fantasie dagegen existiert als eine Vorstel- lung. Im Unterschied zur Fantasie ist die Kreativität der Motor, der tatsächlich etwas hervorbringt – ein gestaltetes Objekt, eine neue chemische Formel, ein Musikstück. Die Kreativität wird letztlich an einem erzeugten Produkt ge-

(10)

Klett. Ich weiss. Stark in Lehrmitteln

vom ersten Schuljahr bis zur Matura.

Mehr darüber auf www.klett.ch oder im Newsletter

‹Rundgang›. Zu bestellen im Internet oder unter 041 726 28 00.

Klett

Klett und Balmer AG Verlag Zug

Töpfern? KERAMIKBEDARF michel

www.keramikbedarf.ch

8046 Zürich . Tel. 01 372 16 16

Produkte - Auswahl - Fachberatung

Brennöfen, Ofenzubehör, Drehscheiben, Maschinen, Werkzeuge, Tonabscheider, Ton und Töpfereibedarf

Unterhalt - Kontrolle - Nachrüstung

Wir sorgen für Funktion und Sicherheit beim Töpfern - seit 30 Jahren. Die Servicestelle - auch für Ihren Ofen !

Service!

Neu : über 150 streichfertige, giftklassenfreie

Glasuren :

ART-CLAY-SILVER Modelliermasse

RAKU 1030°C 1150°C 1250°C

Wir sind umgezogen!

Wettingerwies 7/Zeltweg, Zürich

Dienstag bis Freitag 10 – 18 Uhr, Samstag 10 – 16 Uhr Telefon 043 305 61 00, Fax 043 305 61 01 www.lernmedien-shop.ch, lernmedien-shop@phzh.ch

Lehrmittelverlag des Kantons Zürich Pädagogische Hochschule Zürich Stiftung Bildung und Entwicklung

Inserate

(11)

messen. Die Fantasie resultiert aus dem Imaginationsver- mögen und der Erinnerungsfähigkeit zugleich, und zwar im Kontext jener emotional bestimmten Erfahrungsqua- litäten, die neben dem visuellen Bild die erinnerte Vor- stellung und die davon ausgehende Fantasie prägen: Ge- ruch, Bewegung, Geschmack, Schmerz, Freude, Berührung, Geräusche, Tonlage einer Stimme etc. Fantasie basiert auf dem subjektiven Erfahrungshintergrund der Person.

Es gilt als unbestritten, dass zur ästhetischen Bil- dung die Entwicklung von Imaginationsvermögen (Einbil- dungs-/Vorstellungskraft) und Fantasietätigkeit gehören.

Als zentrales Ziel ästhetischer Bildung nennt Kaspar H.

Spinner (2004) speziell das Wechselspiel von sinnlicher Wahrnehmung und Imagination. Mit diesem Wechselspiel wird vorrangig die passive, eher rezeptive Seite ästheti- scher Erfahrung beschrieben, denn es beleuchtet lediglich den Prozess des «Etwas für wahr Nehmen» (Gadamer) bis hin zur Vorstellungsbildung und Imagination. Der aktiv vom Subjekt konstruierte und gestaltete Anteil an ästheti- scher Erfahrung, der Einfallsreichtum, Fantasietätigkeit und schliesslich auch kreatives Vermögen benötigt, um et- was hervorzubringen, kommt dabei jedoch zu kurz. Gera- de im Bereich des bildnerischen Gestaltens können die produktiven, selbst generierten und leibsinnlich fundier- ten Komponenten ästhetischer Bildung in besonderem Masse gefördert werden. Es sind jene Komponenten, die zur aktiven Gestaltung von Lebenswirklichkeit einen ent- scheidenden Beitrag leisten.

Bildnerische Produktion und Rezeption basieren zwar auf dem Wechselspiel sinnlicher Wahrnehmung, Imagination, Anschauung und Fantasietätigkeit, erfordern jedoch zugleich geistige Tätigkeit, das Erfassen anschau- licher Strukturen, das Zuordnen, Kontexte bilden, Sinn stiften, Begriffe finden, wieder fallen lassen, staunen, Neugierde, Widerstand, Versenkung – sowohl im Rezep- tions- als auch im Produktionsprozess. Dies verlangt die Aktivität des Subjekts, die einfallsreiche Konstruktion von Sinn. Dieser Sinnkonstruktion dann in der Auseinander- setzung mit Material und Verfahren eine bildnerische Struktur zu verleihen, ist eine anspruchsvolle geistige Leistung. Darüber hinaus basiert ein weiterer Anteil an äs- thetischer Erfahrung im Produktionsprozess auf dem Lust- gewinn und den Kompetenzgefühlen, die durch kreatives Tun entstehen. Um diese fundamentale Bedeutung der bildnerischen ästhetischen Erfahrung in Lehr-/ Lernpro- zesse überführen zu können, ist die eigene bildnerische Produktionserfahrung der Lehrenden unverzichtbar. Die bildnerische Praxis ist das Fundament der auf Anschau- ung fussenden ästhetischen Bildung. Nichtsprachliches, leibgebundenes ästhetisches Denken ist ein Erkenntnis- modus, der auf Fantasie und Einbildungskraft, Symbolisie- rungsfähigkeiten und Anschauung rekurriert. Dieses äs- thetische Vermögen kann durch die bildnerische Produk-

tion ausgebildet und gestärkt werden.

Literatur

Bätschmann, Oskar: Einführung in die kunstgeschichtliche Her- meneutik(1. Aufl. 1984). Darmstadt 1988

Boehm, Gottfried: «Bildsinn und Sinnesorgane». (Erstveröffentli- chung 1980). In: Stöhr, Jürgen (Hrsg.): Ästhetische Erfahrung heute. Köln 1996

Bubner, Rüdiger: Ästhetische Erfahrung. Frankfurt am Main 1989 Fatke, Reinhard: «Phantasie». In: Kochan, Barbara/ Neuhaus-

Siemon, Elisabeth (Hg.): Taschenlexikon Grundschule. König- stein/ Ts. 1979

Jauss, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Her- meneutik.Frankfurt am Main 1991

Kirchner, Constanze: Kinder und Kunst der Gegenwart: Zur Erfah- rung mit zeitgenössischer Kunst in der Grundschule.Seelze 1999. 2. Aufl. 2001

Kraemer, Rudolf-Dieter/ Spinner, Kaspar H.: «SynÄsthetische Bil- dung in der Grundschule». In: Kaspar H. Spinner (Hg.): SynÄs- thetische Bildung in der Grundschule. Eine Handreichung für den Unterricht.Donauwörth 2002

Otto, Gunter: «Aneignung und Veränderung der Wirklichkeit auf dem Weg der Phantasie». In: K+U 60/1980

Seel, Martin: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff ästhetischer Rationalität.(Originalausgabe 1985). Frankfurt am Main 1997 Spinner, Kaspar H. (Hg.): «Ästhetische Bildung multimedial». In:

Bönnighausen, Marion/ Rösch, Heidi (Hg.): Intermedialität im Deutschunterricht. Hohengehren 2004

(12)

Ä s t h e t i s c h e B i l d u n g – j e t z t e r s t r e c h t

E i n e S t a n d o r t k l ä r u n g i n d e r a k t u e l l e n S c h u l e n t w i c k l u n g

Von Peter Wanzenried

Dozent für Pädagogik und Allgemeine Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Zürich

Kunst ist wichtig. Diese Aussage würde wohl jede/r Bildungspolitiker/in unterschreiben.

Trotzdem geraten die musischen und gestalten- den Fächer in einer Zeit der Standardisierung von Lernzielen wieder vermehrt unter Druck.

Entscheidungen für die Zukunft der ästheti- schen Bildung stehen an. Der vorliegende Bei- trag mischt sich in die aktuelle Diskussion ein und zeigt, dass sich trotz künstlerischer Frei- heit in den verschiedenen Ausdrucksformen und trotz der Offenheit von Kunst Bildungs- standards für ästhetische Bildung formulieren lassen.

In der heutigen Diskussion über die Wirksamkeit unserer Bildungssysteme erhalten die Fragen nach der Bedeutung und nach dem Stellenwert «Ästhetischer Bildung» neue Di- mensionen. In der Schweiz laufen Bestrebungen zur Koor- dination und Verbesserung der Steuerungsmöglichkeiten in unseren Bildungssystemen seit 2003 im Rahmen des Projektes «HarmoS» der Erziehungsdirektorenkonferenz.

Auch der LCH engagiert sich im Rahmen dieses Projektes, um die Interessen der Lehrerinnen und Lehrer in die fol- genreiche Entwicklungsarbeit einzubringen. Zunächst sol- len verbindliche Bildungsstandards formuliert werden, auf die der Unterricht auszurichten ist. Diese sollen in fachübergreifenden und fachspezifischen Kompetenzen konkretisiert und mit validierten Vergleichsarbeiten über- prüfbar gemacht werden.

Zur aktuellen Schulentwicklung

Soll Forschungs- und Entwicklungsarbeit zur «Ästheti- schen Bildung» nicht eine Alibifunktion erfüllen und fol- genlos bleiben, hat sie sich in diesen Diskurs um den Kernauftrag unserer Volksschule vernehmlich einzubrin- gen. Dies scheint angesichts neuester Entscheidungen dringlich und brisant.1

Der Beirat des HarmoS Projektes – ein Expertengre- mium – beantragte, neben den vorgesehenen Fächern Erst- sprache, Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissen- schaften ein weiteres Fach für die Formulierung von Bil- dungsstandards und Kernkompetenzen zu berücksichti-

gen. Zur Diskussion standen unter anderem Musik und Werken/Gestalten. Vorgeschlagen wurde nach Analyse lau- fender Arbeiten «Werken/Gestalten», da die Reorganisation in diesem Fachbereich dadurch einen wichtigen symboli- schen und innovativen Impuls erhalte. Musik und Sport könnten dem gegenüber stärker auch auf externe Unter- stützung zählen.

Diesem Ansinnen ist der Vorstand der EDK mit einem Beschluss vom 29. April 2004 entschieden entgegengetre- ten: «Aufgrund der sehr grossen Erwartungen in das vor- rangige Projekt HarmoS und mit Blick auf die terminlichen Ziele und finanziellen Möglichkeiten, [...] wird unterstri- chen, dass sich das Projekt HarmoS auf die vier ‹kogniti- ven› und fundamentalen Disziplinen zu beziehen hat.»

Damit wird unmissverständlich klar, dass sich unsere oberste bildungspolitische Instanz eine verengende Lese- art der PISA–Studie zu eigen macht und gewillt ist, der fortschreitenden Marginalisierung ästhetischer Bildungs- aufgaben mit amtlicher Definitionsmacht Nachachtung zu verschaffen. Eine solche Entscheidung dürfte Signalwir- kung haben auf allen Ebenen der Schulentwicklung.

Kein Wunder sind die Vertreter des LCH, die sich im- mer für ein breites Bildungsverständnis eingesetzt haben, und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Arbeitsgrup- pen, die weit gediehene Vorarbeiten zur Formulierung von Kompetenzprofilen für Musik und Werken/Gestalten gelei- stet haben, verärgert und desillusioniert.

Der Einsatz für die Anliegen ästhetischer Bildung heisst unter solchen bildungspolitischen Rahmenbedin- gungen eindeutig «Gegen den Strom schwimmen». Grund- lage für solches Engagement müssen gegenwartsbezogene, überzeugende und konsensfähige Begründungen sein, wa- rum weder eine Verengung der Bildungsdiskussion auf Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften noch ei- ne kurzgreifende Instrumentalisierung der künstlerischen Fachdisziplinen zugunsten allgemeiner Schlüsselkompe- tenzen hingenommen werden kann. Notwendig ist eine Besinnung auf den spezifischen Stellenwert ästhetischen Lernens für die individuelle Entwicklung der Heranwach- senden, für die Gestaltung unserer Unterrichts- und Schul- kultur sowie für das Zusammenleben in der heutigen Ge- sellschaft. Dazu sollen hier Ansätze zusammengefasst werden, die im Rahmen von Forschung und Entwicklung zur «Ästhetischen Bildung» zu konkretisieren und zu über- prüfen sind.2

(13)

Dimensionen ästhetischer Bildung

Ästhetische Erfahrungen als Erweiterung einschränkender Wahrnehmungsmuster

Ästhetische Erfahrungen ermöglichen in Ergänzung zu All- tagserfahrungen und zu wissenschaftlichen Erfahrungen einen spezifischen Zugang zur Welt. Heraustreten aus dem üblichen Kontext und aufmerksam werden auf unerwarte- te Aspekte und Sinnesmodalitäten erweitert den gewohn- ten Wahrnehmungshorizont: Verlangsamtes Lauschen und Schauen, aufmerksames Tasten und Bewegen erschliessen fremde und oft irritierende Wirklichkeitsaspekte. Wolfgang Welsch weist auf das untrennbare Doppel von Ästhetik und Anästhetik hin, um die spezifische Bedeutung solcher Erfahrungen in der heutigen, von Medien geprägten Welt herauszuschälen. Sensibilität für sinnliche Wahrneh- mungsphänomene und die Fähigkeit zum Ausblenden, zu Empfindungslosigkeit (zur Anästhesierung) bedingen sich nach dieser Auffassung wechselseitig. Alles Wahrnehmen ist spezifisch und nur möglich, weil anderes nicht wahr- genommen wird. Da grundlegende Wahrnehmungsmuster als kulturelle Grundbilder eigentliche «Fallen» darstellen, gilt es, ihnen auf die Spur zu kommen. Welsch plädiert daher für eine «Kultur des blinden Flecks», um über solche Fixierungen hinauszukommen. Eine so akzentuierte Äs- thetik schärft die Aufmerksamkeit für das Unübliche, das Unerwartete und Fremde.3Dies sind Kernkompetenzen für das Leben in einer vielfältigen und widerspruchsreichen Welt.

Spielräume erkunden, erweitern und begrenzen

Eine zweite grundlegende Dimension ist die Orientierung an der Metapher des Spiels in einem ursprünglichen Sinne des Wortes. Was «Spiel» hat, klemmt nicht und lottert nicht: mit Gleichgewicht und Rhythmus spielen, um im- mer wieder eine neue Balance zu finden; Materialien, Far- ben, Formen als vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten aus- probieren, spielerisch in fremde Rollen schlüpfen, seinen Imaginationen und Assoziationen spielerisch folgen, um Grenzen des Denkbaren zu ergründen und neue Lösungen

zu suchen: all dies sind Chancen zur Erweckung und zur Erweiterung der in jedem Menschen angelegten Ressourcen. In einem zeitlich, örtlich und materiell limi- tierten Raum für «ernsthaftes Tun-als-ob» eröffnet sich ei- ne alternative Wirklichkeit, in der Neues, Befreiendes, Ir- ritierendes, der Sprache kaum Verfügbares, seinen Aus- druck finden darf. Klaus Mollenhauer formulierte von sei- nem Verständnis ästhetischer Bildung her Ähnliches: «Äs- thetische Symbole sind metaphorisch. Eben deshalb sind sie bildungstheoretisch relevant. Sie erfordern das Herstel- len des Produktes als ein ‹Als ob›, als ein Vorschlag auf Probe, als ein Spiel mit Möglichkeiten. […] In diesem Spiel geschieht Mannigfaches. Nicht nur Selbstbezüge, gleich- sam nach innen hin, werden konturiert, sondern auch Wahrnehmungscharakteristiken, Erinnerungsspuren, Mit- teilungsgesten. Damit derartiges zum Vorschein kommen kann, ist eine intensive Konzentration […] erforderlich.

Ästhetische Symbole sind also nicht einfach dahin geäus- serte Ausdruckshandlungen, sondern Gestalten, die be- reits eine Bildungsspur in sich tragen.»4Das wohlbemes- sene «Spiel» immer wieder zu finden, braucht aus dieser Sicht ein Übungsfeld, für die eigene Erkundung und Erfin- dung vielfältiger Wechselwirkungen in unserer Alltags- welt und für die Ausweitung beengender Handlungsspiel- räume. Ein solcher Proberaum ermöglicht ressourcenorien- tierte Entwicklung und trägt bei zur Identitätsfindung in einer veränderungsreichen Gesellschaft.

Ausdrucksformen der Künste verstehen und anwenden Dazu bieten die Ausdrucksmöglichkeiten und «Sprachen»

der Künste ein spezifisches Potenzial an, das es zu erken- nen und zu nutzen gilt.5Lesen und Schreiben zu lernen ist daher auf den Umgang mit den Symbolsystemen der Küns- te auszudehnen, woraus der Schule ein erweiterter Alpha- betisierungsauftrag erwächst. Sprachen der Künste bleiben nahe an den Phänomenen. Strichführung, rhythmische Phrasierung, szenische Einzelheiten etwa, machen Bezug- nahmen möglich, die der Vielfalt der Erscheinungsformen entsprechen, statt sie zu verallgemeinern und zu kategori-

(14)

sieren. Sie setzen Akzente und verdichten. Statt reduktio- nistischer Eindeutigkeit und absolut gesetzter Bezüge wird Vielschichtigkeit, Mehrdeutigkeit und Differenz zum Aus- druck gebracht. Unsere Alltagssprache, die Begriffe und Modelle der Wissenschaften wie auch die Ausdrucksfor- men der Künste bis hin zur sparsamen und gleichnishaf- ten Sprache spiritueller Sinnsuche haben also je ihre spe- zifischen Bildschärfen und führen zu einem andern Welt- verständnis. In diese komplexen Wirkungsweisen ver- schiedener Symbolsysteme Einblicke zu gewinnen, ist als dritte unverzichtbare Aufgabe ästhetischer Bildung zu um- reissen. In unserem multikulturellen Umfeld und ange- sichts der heutigen Medienpräsenz ist dies von entschei- dender Bedeutung für den Aufbau differenzierter Wissens- strukturen.

Eigenständige Werke gestalten.

Nach dem Prinzip der Werkorientierung kann es keines- falls angehen, es beim kühnen ersten Wurf, der vorläufi- gen Skizze, der gelungenen Improvisation bewenden zu lassen. Sich auf gestalterische Schaffensprozesse einzulas- sen und dabei um Formgebung zu ringen, in der Wieder- holung und Veränderung gefundener Muster neue Erfah- rungen zu sammeln, noch Vages und Zweifelhaftes zu er- gründen und zu verdichten: all das gibt dem ästhetischen Lernprozess eine weitere Dimension. Bei diesem auf ein Werkerlebnis ausgerichteten Gestalten ist auch nachhalti- ges Üben ein unabdingbarer Teil. «Wo man nur auf den schöpferischen Ausdruck bedacht ist, entsteht sehr bald die Gefahr der Nachlässigkeit. Nur in diesem Bangen um das Gelingen ist das Können echt. […] Es erstarrt, wo es zur Sicherheit des Gekonnten wird.»6Darin, wie ernst wir diesen Aspekt des Lernprozesses nehmen, zeigt sich das Bemühen um Verbindlichkeit. Erst wo wir über die Gunst des Augenblicks und den Spass am gelungenen Happening hinausgehen, wird der Einsatz von Spielformen und künstlerischen Ausdrucksmitteln zur nachhaltigen Lerner- fahrung. Die Ausrichtung auf die entstehenden Werke er- zeugt den notwendigen Aufforderungsimpuls für diese Phase des Herausarbeitens des noch Ungeformten, des Ringens um Verdichtung und Prägnanz. Erst dieser Prozess der Aneignung führt zur Erfahrung, im eigenen Gestalten wirksam zu werden und vermag, dauerhafte neue kogni- tiv-emotionale Strukturen zu legen.

Werkgemeinschaft und kulturelle Teilhabe

Solche Werke erfüllen jedoch nicht nur einen individuel- len Zweck. Sie sind auf Präsentation in der Klassen- oder Schulgemeinschaft und auf kulturelle Teilhabe ausgerich- tet. Aus dem Atelier wird der Ausstellungsraum, aus dem Proberaum die Bühne. Die entstandenen Werke sollen ei- nen würdigen Rahmen finden und ernst genommen wer- den. Sie sollen in den Dialog gebracht und zum Teil einer

gemeinsamen Lerngeschichte gemacht werden. Solche Prä- sentationen sind als Austausch von Geschenken zu verste- hen, als Begegnung zwischen Menschen, die ihre Werke andern aussetzen, und solchen, die sich als verstehende Zeugen darauf einlassen. Aus diesem Wechselspiel soll beides erwachsen: die Bereitschaft, sich mit dem entstan- denen Werk als Ausdruck eigener Wirklichkeiten zu iden- tifizieren, und die Fähigkeit, sich davon zu distanzieren.

Präsentation und Feedback gehören aus dieser Überzeu- gung heraus notwendigerweise zu einem ästhetischen Lernprozess, der im konstruktivistischen Sinne zur Erwei- terung vorhandener Schemata führt. Entscheidend ist, dass in dieser Phase eine Werkgemeinschaft entsteht, in der die einzelnen Beiträge über ihre individuelle Bedeu- tung hinausweisen und zur Teilhabe an diesem Kreis und an der kulturellen Entwicklung in einem weiteren Sinne führen.

Interdisziplinäres Zusammenwirken als kultureller Auftrag So verstandene Ästhetische Bildung bedarf der interdiszi- plinären Zusammenarbeit von Lehrkräften mit Spezialis- tinnen und Spezialisten für gestalterische Fächer, für Theater-, Musik- oder Museumspädagogik, mit Künstlerin- nen und Künstlern, die für erweiterte kulturelle Angebote an Schulen beigezogen werden, sowie mit Therapeuten und Therapeutinnen, welche geübt sind in der Diagnose, Prävention und Kompensation mit kunst- und ausdrucks- orientierten Mitteln. In interdisziplinärer Zusammenarbeit lassen sich Ansätze kombinieren, die den Heranwachsen- den helfen, unsere komplexe Welt aus verschiedenen Per- spektiven zu betrachten und zu verstehen. Dies kann zur Herausforderung und Chance werden für Kooperation im Dienste der Entwicklung gemeinsamer Schulkultur und in der Öffnung der Schule zu ihrem Umfeld hin.

Wie weiter?

Mit den umrissenen sechs Dimensionen aktueller ästheti- scher Bildung schlage ich Ausgangspunkte vor für den interdisziplinären Diskurs und zur Klärung gemeinsamer Bildungsanliegen über die spezifischen Kompetenzprofile der einzelnen Kunstdisziplinen hinaus. Daraus versuche ich sechs Bildungsstandards zu gewinnen, die der Veren- gung des Blickes auf Messbares und Vergleichbares etwas entgegensetzen (vgl. Kasten S. 15) Dies ist ein erster Ver- such, sich in die aktuelle Schulentwicklung glaubwürdig einzumischen und bildungspolitische Überzeugungsarbeit zu leisten.

Dass eine Konkretisierung solcher Ziele in fachspezi- fische Kompetenzen und entsprechende Beobachtungskri- terien durchaus möglich ist, belegen beispielhaft zwei vorliegende Konzepte:

Der «Rahmenplan darstellendes Spiel» als Teil des Bildungsplanes Grundschule der Stadt Hamburg7 formu-

(15)

000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000 000000

liert eine Reihe von überfachlichen Kompetenzen, die als Ziele des darstellenden Spieles anvisiert werden sollen. Er beschreibt dazu spezifische Gestaltungsfelder wie Darstel- ler, Ensemble, Raum und Bild, Zeit, Sprache und Sprechen, Gräusch, Klang und Musik, Szenische Komposition, welche den Erfahrungs-, Spiel- und Handlungsraum des Theaters verdeutlichen. Auf diesem Hintergrund werden Beobach- tungs- und Beurteilungskriterien definiert, die von folgen-

den Fragen ausgehen:

• Stellen die Kinder Rollen dar und bleiben sie in der Rolle?

• Agieren die Kinder als Teil der Spielgruppe?

• Stimmen die Kinder ihr Spiel auf der Bühne mit Raum, Bühnenbild, Requisiten und Kostüm so ab, dass sich ein Gesamtbild ergibt?

• Gestalten die Kinder Tempo und Rhythmus auf der Bühne?

• Unterscheiden die Kinder im Spiel Alltagssprache von der Theatersprache und beziehen sie alles Sprechen auf der Bühne auf den Zuschauer?

• Gestalten die Kinder ihr Spiel als Einheit von Musik, Sprache und Bewegung?

• Nutzen die Kinder das Wissen über den Zusammenhang von Form und Inhalt für ihr Spiel?

Die Orientierung dieses Rahmenplanes an einem Verständ- nis «ästhetischer Bildung», das den von mir umrissenen Dimensionen weitgehend entspricht, dürfte offenkundig sein.

Als zweites Beispiel seien die «Kompetenzen im Fach Musik für Volksschullehrer/-innen»8 angeführt, welches von der Arbeitsgruppe Musikpädagogik NW EDK/EDK-Ost unter der Leitung von Peter Rusterholz für die Pädagogi- schen Hochschulen entwickelt wurde. Obwohl hier unver- kennbar musikspezifische Kompetenzen mit dem entspre- chenden fachlichen Wissen und Können im Zentrum ste- hen, schimmert die Orientierung an einem Grundver- ständnis «ästhetischer Bildung» durch, das mit der hier vertretenen Position durchaus vereinbar ist. So werden für das musikdidaktsiche Handeln folgende Ziele formuliert und weiter konkretisiert:

• Die Studierenden können Lernsituationen schaffen, in denen eine Differenzierung der akustischen Wahrneh- mung ermöglicht wird.

• Den musikalischen Ausdruckswillen der Schülerinnen und Schüler können sie durch Anleitung zum musikali- schen Produzieren sinnvoll fördern.

• Sie initiieren, leiten und entwickeln das Singen und Mu- sizieren und Bewegen.

• Sie können dazu anleiten, musikalische Inhalte in ein anderes Medium umzusetzen – und umgekehrt.

• Sie stellen den Aufbau, Struktur, Herkunft und Funktion von Musik in Umwelt und Gesellschaft fassbar dar.

Wie kann es gelingen, «ästhetische Bildung» im skizzier- ten Sinne als eigenständige und unverzichtbare Perspekti- ve der Unterrichts- und Schulentwicklung wirksam zu ver- treten? Gegenüber bildungspolitschen Entscheidungsin- stanzen, die dafür Rahmenbedingungen schaffen müssen, wie auch gegenüber den Lehrkräften, die sich über stan- despolitische Partikularinteressen hinaus für ein derart er- weitertes Bildungsverständnis engagieren müssten. Wie kann der Forschungs- und Entwicklungsschwerpunkt «Äs- Sechs Standards für ästhetische Bildung (ein Versuch)

• Die Lernenden lassen sich auf ästhetische Erfahrungen ein. Sie werden auf unerwartete Aspekte und Sinnesmo- dalitäten aufmerksam und differenzieren ihre Alltagser- fahrungen. Dadurch erweitern sie ihre Wahrnehmungs- horizonte im Hinblick auf das Leben in einer vielfältigen und widerspruchsreichen Welt.

• Die Lernenden erkunden, erweitern und begrenzen ihre Handlungs- und Gestaltungsspielräume. In einem Übungsfeld und Proberaum für spielerisches Tun-als-ob entdecken und erproben sie vielfältige individuelle Ressourcen, Ausdrucks- und Wirkungsmöglichkeiten im Hinblick auf ihre Identitätsentwicklung in einer pluralis- tischen und unsicheren Welt.

• Sie lernen dabei, die spezifischen Ausdrucksmöglichkei- ten der Künste als Erweiterung alltags- und wissen- schaftssprachlicher Kommunikationsformen zu verstehen und selbst zu nutzen. Sie erkennen, wie vielschichtig, mehrdeutig und differenziert künstlerische Symbolsyste- me wirksam werden. Sie werden aufmerksam auf das Zu- sammenspiel von ästhetischen und funktionalen Aspek- ten im Alltag.

• In der Gestaltung eigner Werke und Aufführungen erle- ben die Lernenden exemplarisch die Bedeutung von An- strengung und Übung im Ringen um Form, Funktion, Prä- senz und Verdichtung. Sie machen so die für eine gesun- de Entwicklung bedeutsame Erfahrung der Selbstwirk- samkeit.

• Gegenseitiges Vorstellen der entstandenen Werke und Aufführungen in der Klassen- und Schulgemeinschaft führen zu exemplarischen Auseinandersetzungen mit an- dern Sichtweisen und zur Wertschätzung von Vielfalt.

Dies erlaubt aktive Beteiligung am lokalen kulturellen Geschehen und Teilhabe an der multikulturellen Ent- wicklung unserer Traditionen.

• Ästhetische Bildung als interdisziplinäre Zusammenar- beit von Lehrkräften mit Spezialistinnen und Spezialisten für die verschiedenen Kunstdisziplinen und mit Fachper- sonen aus dem kulturellen Umfeld bildet eine Grundlage gemeinsamer Schulkultur und trägt zu Öffnung der Schu- le bei.

© Peter Wanzenried, 26.6.2004

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Nicht nur kalendarisch ging es mit ihm zu Ende, sondern auch seine Tage als Europäi- sches Jahr der Menschen mit Behinderungen waren gezählt - Grund genug für mich, ein

Dann rufen Sie an unter 02831/98412 oder schreiben Sie an PVP-Petra, Viern- heimerstr. attraktive Witwe würde sich sehr freuen das neue Jahr als Paar erleben zu können. Sie ist

Sie werden sich dafür einsetzen, dass ph akzente weiterhin eine attrak- tive Plattform für Diskussionen in der Bildungslandschaft bleiben wird..

Dies erfordert eine Verschrän- kung von zwei Erkenntnisebenen: erstens der empirischen Ebene – was weiss man über den Identitätsbildungspro- zess von Kindern und Jugendlichen,

1) Karten mit schwarzen Zahlen der Reihe nach auslegen. Jeder schwarzen Zahl eine passende rote Zahl zuordnen, so dass das Ergebnis immer 5 ist. 2) Karten an zwei Spieler

For read, sense, or end status byte operations, the control unit sends the request in signal to the multiplexer channel, and the channel responds only if the

In der Diskussion wurde deut- lich, dass die Arbeit mit behin- derten Jugendlichen und vor allen Dingen ihre Vermittlung in Ausbildung und Arbeit einge- schlossen in Werkstätten

Damitsollen be- hinderte Menschen in den nächsten 1 1⁄2 Jahre in sieben Seminarblöcken dazu qua- lifiziert werden, Tourismusunternehmen, Hotels, Gaststätten oder Kommunen da- bei