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Archiv "Medizin im Nationalsozialismus (VI): Deine Ehre ist die Leistung... - Auslese und Ausmerze durch Arbeitsund Leistungs-Medizin im Nationalsozialismus" (26.12.1988)

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(1)

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

W

ie sich solcher Lei- stungsfanatismus in den einzelnen Fachge- bieten der Medizin durchsetzte und zu welchen Konse- quenzen er jeweils führte, bleibt in weiteren Arbeiten noch zu untersu- chen. Ein tragender Pfeiler dieses leistungsbesessenen Systems war die betriebliche Gesundheitsführung.

Einige ihrer Entwicklungslinien sei- en im folgenden dargestellt.

Verantwortlich für die betrieb- liche Gesundheitsführung waren das Hauptamt für Volksgesundheit und das DAF-Amt für Volksgesundheit.

Beide Ämter wurden bis 1939 in Personalunion von Reichsärztefüh- rer Dr. Gerhard Wagner und dessen Stellvertreter Dr. Friedrich Bartels geleitet. Die erste zentrale Aufgabe dieser beiden Ämter bestand in der Erstellung einer Leistungsbilanz des deutschen Volkes. Bis 1939 wurden mehrere Millionen „schaffender

Volksgenossen" durchuntersucht.

Erwähnt seien die beiden Jahrgangs- Untersuchungen der 1910 und 1911 Geborenen und die sogenannten 4-Gau-Untersuchungen. Sie wurden in enger Anlehnung an die militäri- schen Musterungs-Untersuchungen der Wehrmacht durchgeführt. Die Heeressanitätsinspektion sagte auch die Beteiligung ihrer Ärzte und ihres Apparates bei der Durchführung und bei der Auswertung der Unter- suchungen zu (2).

111 Leistungsbilanz und Leistungskontrolle des deutschen Volkes

Für diese Untersuchungen wur- de 1936 eigens ein Gesundheits- stammbuch eingeführt. Es enthielt

*) Die in Klammern gesetzten Zahlen beziehen sich auf die im Sonderdruck enthaltenen An- merkungen.

eine Sippschaftstafel, die bis 1800 zurückreichte, und drei Gesund- heitsbögen.

In dem Gesundheitsstammbuch wurden alle Eintragungen gesam- melt von der Hebamme über Säug- lingsstellen, Hausärzte, Schulärz- te, HJ- Ärzte , Arbeitsdienstärzte, Wehrmachtsärzte bis zu den Fach- ärzten und Betriebsärzten sowie den Gesundheitsämtern. Nach Gau- Amtsleiter Dr. Hans Rinne sollte das Gesundheitsstammbuch der Par- tei, der Wehrmacht und der Indu- strie zur Verfügung stehen. Es sollte nicht nur für die Zulassung zu einem Lager, einem Ausbildungskurs oder über die Teilnahme am Parteitag die

„medizinisch-hygienische Unterla- ge" bilden, sondern es sollte auch in den Dienst der richtigen Verwen- dung im Arbeitsleben gestellt wer- den (3).

Das Gesundheitsstammbuch war der Weg zur Totalerfassung al- ler „Volksgenossen" mit dem End- ziel einer Erb- und Leistungs-Kartei des ganzen deutschen Volkes. Um eine ständige Leistungskontrolle zu realisieren, wurde in der Haupt-Ab- teilung I des Hauptamtes für Volks- gesundheit an den technischen Vor- aussetzungen dafür gearbeitet, die gesammelten Gesundheitsdaten je- des arbeitenden Deutschen lochkar- tenmäßig zu erfassen und von Holle- rith-Maschinen, den Vorläufern der heutigen Computer, auswerten zu lassen.

Die Jahrgangs-Untersuchung 1910/11 und die 4-Gau-Untersu- chungen waren die ersten Untersu- chungsreihen, deren Auswertung auf diesem Wege erfolgte. Bei die- sen beiden Untersuchungsreihen ging es aber nicht nur um die Erstel- lung einer Leistungsbilanz

Der seit 1936 einsetzende Ar- beitskräftemangel machte ebenso ei- ne Lenkung der Arbeitskräfte im In- teresse der Rüstungs-Industrie sowie den Arbeitseinsatz aller zur Verfü- gung stehenden Volksgenossen er- forderlich. Dazu verlangte Bartels, der diese Untersuchungen leitete, von jedem untersuchenden Arzt, daß er „auch einmal gegen sein me- dizinisches Gewissen" einen unter- suchten Arbeiter davon überzeuge,

„daß er stark genug für die Arbeit

THE N DER ZEIT

Medizin im Nationalsozialismus (VI)

Deine Ehre

ist die Leistung •

Auslese und Ausmerze durch Arbeits-

und Leistungs-Medizin im Nationalsozialismus Peter Reeg

Um die Ziele des nationalsozialistischen Systems nach Autar-

kie und weltweiter Expansion zu realisieren, bedurfte es auch

einer entsprechenden Ausrichtung der Medizin. Dem System

der Gesundheitsfürsorge der zwanziger Jahre wurde vorge-

worfen, den „deutschen Menschen" zum „leistungsverwei-

gernden Bummelanten" und zum „Rentenjäger" erzogen zu

haben. Folgerichtig wurden die Gesundheitsfürsorge demon-

tiert und mit großem propagandistischen Aufwand das neue

System der Gesundheitsführung entgegengestellt. Diese NS-

Gesundheitsführung war von einem ungeheuren Leistungsfa-

natismus geprägt. „Leistungssteigerung zu erbbiologisch und

rassisch erreichbaren Höchstformen" — so wurde im Jahre

1933 die Aufgabe der Ärzte festgeschrieben (1)*).

(2)

sei". Und in zynischer Offenheit er- klärte er: „Wohl müssen wir dabei auch Opfer an Toten in Kauf neh- men. Wir müssen nur dafür sorgen, daß die Menschen ihr Opfer nicht fühlen." (4)

Aufgefordert zu dieser Lebens- vernichtung durch Arbeit waren al- le Betriebsärzte und etwa 25 000 weitere Ärzte, die beim Hauptamt für Volksgesundheit als untersu- chende Ärzte zugelassen waren.

Das waren etwa 70 bis 80 Prozent aller freipraktizierenden Ärzte oder 45 bis 50 Prozent der Gesamtärzte- schaft. (5)

Werner Bockhacker, der Leiter des Amtes für Volksgesundheit der DAF ab 1939, schrieb in der Kom- mentierung der Ergebnisse die- ser Betriebsuntersuchungen: „Im strengen Sinne biologisch und des- wegen ein erstrebenswertes Ziel für die Gesundheitsführung ist aber erst der Zustand, wenn der Zeit-

Die Erziehung

zur Höchstleistungs- fähigkeit

Für die NS-Gesundheitsführung gab es kein effektiveres und billige- res Mittel der Leistungssteigerung als Leibesübungen. „Menschen oh- ne Leibesübungen leben unhygie- nisch, wie ungekämmte und unge- waschene Wilde" (8), erklärte die Deutsche Arbeitsfront 1936. Der Hintergrund für die in die Leibes- übungen gesetzten Hoffnungen wur- de von einem sozialdarwinistischen Menschen- und Gesellschaftsbild ge- prägt, welches auch in der Ärzte- schaft eine weite Verbreitung gefun- den hatte.

Einer Glorifizierung der von Kraft und Gesundheit strotzenden Vergangenheit wurde die Verweich- lichung des modernen Kulturmen- schen entgegengestellt. Der moder- ne Kulturmensch sei ein leistungs- mäßig beschränkter Mensch gewor- den. Und so, wie die harten Bedin- gungen der Natur in der Vergangen- heit zur Auslese der Menschheit ge- führt haben, so könne jetzt der Sport als Selektionsmittel dienen.

Sport als Abhärtung könne die Hälf-

punkt des allmählichen Kräfte- schwundes kurz vor dem Eintritt des physiologischen Todes liegt und der endgültige Kräfteverfall mit ihm zusammenfällt." (6)

Damit war dem Arbeitseinsatz von Rentnern, von Invaliden und Kranken der Weg geebnet, die in den „physiologischen Tod" gehen sollten, denn mit zunehmendem Arbeitskräftemangel ab 1936 starte- ten die Gesundheitsführung und die Deutsche Arbeitsfront eine Propagandaschlacht für die Verlän- gerung der Lebensarbeitszeit und führten den Kampf gegen die so- genannte Früh-Invalidität. Dieser Kampf bestand in erster Linie in einer groß angelegten Erziehungs- kampagne der Arzte gegenüber der Arbeiterschaft. Insbesondere die Betriebsärzte hatten die Aufgabe, die Arbeiterschaft „zum fanati- schen Gesund- und Starkseinwollen zu erziehen". (7)

te aller durch Krankheit verloren- gegangener Arbeitstage einsparen, und nur der schwächliche Mensch erleide Schaden im Produktionspro- zeß, der Starke könne ihm trotzen.

Der von Betriebsärzten kontrol- lierte Betriebssport, bereits in den zwanziger Jahren in Teilen der Groß-Industrie, in vielen Waren- hauskonzernen und bei der Reichs- post eingeführt, wurde im National- sozialismus zielstrebig ausgebaut.

Die Deutsche Arbeitsfront ließ ver- lauten, der Betriebssport könnte

„zu Sparkassen der Volksgesund- heit werden" (9). Eine 10prozentige Senkung des Sozialetats wurde in Aussicht gestellt. Für Bartels war der Betriebssport das entscheidende Mittel zur Volksgesundung, „viel- leicht das beste . . ., sicher aber das billigste, billiger als Krankenbett, Arzt und Früh-Invalidität." (10) Zu- sätzlich erwartete man vom Be- triebssport einen Beitrag zur völki- schen Charakterbildung und Steige- rung der Wehrhaftigkeit. (11)

Ausgeprägter Leistungswille und vollkommene Unterordnung waren gewünschte Tugenden sowohl im Produktions-Prozeß als auch auf dem Schlachtfeld. Dementspre- chend verlangte Bartels, jede Lei-

besübung zum vernünftigen Wehr- sport zu machen: „Wir verlangen nicht schöne Aschenbahnen und ein planiertes Gelände als Sportplatz. Je unzugänglicher und je unebener das Gelände ist, um so besser für den Betriebsausgleichs-Sport . . . Wir brauchen Männer, die in jedem Ge- lände sich bewegen können. Die Franzosen und Russen bauen für uns im Kriegsfall ja keine Aschenbah- nen." (12)

Mit dem Ausbau des Betriebs- Sportes verbunden war eine Kampa- gne für die Erhaltung der Leistungs- fähigkeit bis ins hohe Alter hinein.

Robert Ley, der Leiter der Deut- schen Arbeitsfront, erklärte 1937:

„Wenn es uns nicht gelingt, den 70jährigen noch leistungs- und ar- beitsfähig zu erhalten, dann sollten wir unsere Arbeit aufgeben, dann hat sie gar keinen Wert." (13)

Das Arbeitswissenschaftliche Institut (AWI) der Deutschen Ar- beitsfront veröffentlichte 1938 eine Studie über „Lebensalter und Lei- stungsfähigkeit", die bereits einen Leistungsabfall bei Bergleuten um das 30. Lebensjahr feststellte. Ande- re Berufe, wie Gießer und Schmel- zer, folgten wenige Jahre später.

Das AWI zog den Schluß, daß die Ausrichtung auf Höchstleistung in der Industrie den frühzeitigen Lei- stungsabfall bewirke. Aus den So- zialberichten der Reichstreuhänder der Arbeit ist ebenso die starke Überlastung der Industrie-Arbeiter zu entnehmen. Doch die betrieb- liche Gesundheitsführung zog trotz aller vorliegender Fakten nicht den Schluß, die Leistungsanforderungen der Industrie im Interesse der Ge- sunderhaltung zu senken. Im Ge- genteil, die Leistungsanforderungen wurden gesteigert und die „schaf- fenden Volksgenossen" weiter von der Ärzteschaft trainiert und erzo- gen, um die verlangte Leistungsstei- gerung herauszupressen. „Erreicht werden muß ein ungeheuer fanati- scher Wille, stark und gesund zu sein." (14)

Das AWI der Deutschen Ar- beitsfront erklärte in einer weiteren Studie, ausschlaggebend für die Hö- he der Leistung sei der Leistungswil- le. Entsprechend dieser Aussagen ergoß sich eine wahre Propaganda-

(3)

flut über die Arbeiterschaft. In Arti- keln der Deutschen Arbeitsfront und Parteipresse, aber auch zahlrei- chen Artikeln der ärztlichen Stan- despresse polemisierte man gegen das Sündenleben der Arbeiterschaft, das zu einem Sinken der Leistungs- fähigkeit führe. Alle wurden zu Ab- härtung, Sport und Selbstzucht auf- gerufen.

Hans Hoske (15), beratender Arzt im Jugendamt der Deutschen Arbeitsfront, beklagte, daß ein Drit- tel der Jugendlichen nicht voll lei- stungsfähig sei, und er verlangte, je- der habe seine Lebensweise so um- zustellen, „wie es einer zweckmäßi- gen Arbeitsvorbereitung" zu ent- sprechen habe. Er teilte die 24 Stun- den eines Arbeiters ein in Arbeits- zeit und Arbeitsvorbereitungszeit.

So zu leben sei Pflicht jedes Volks- genossen, denn „allein der Lei- stungswille entscheidet über den so- zialen Wert des Menschen". (16)

Für Bartels war die persönliche Höchstleistung jedes einzelnen nur zu erreichen, „wenn er selbst will".

In diesem Sinne habe die Gesund- heitsführung zu erziehen. Eine deut- sche Einstellung zur Arbeit sei da- durch gekennzeichnet, daß die „Lei- stungsfreude des nordischen Men- schen herausquillt". (17) Wohin ein solcher Leistungsexzeß führte, ma-

Im April 1936 bildete sich eine Arbeitsgemeinschaft aus Deutscher Arbeitsfront, Reichsgruppe der In- dustrie und dem Hauptamt für Volksgesundheit. Hier wurden die Richtlinien der Betriebsärzte erar- beitet. Die Betriebsärzte wurden nach weltanschaulicher Schulung, Auslese und Kontrolle durch das Hauptamt für Volkgesundheit zuge- lassen. Es waren nationalsozialisti- sche Kader-Ärzte, für die die von Reichsärzteführer Wagner ausgege- bene Losung galt, erst braun, dann Fachmann zu sein. Sie waren zustän- dig für die Eignungs- und regelmäßi- gen Kontroll-Untersuchungen, sie leiteten den Betriebssport, sie hat- ten die Arbeiterschaft zum „fanati-

Linkes Foto: Dr. Gerhard Wagner, Hauptamtsleiter für Volksgesundheit der NSDAP, Leiter des Amtes für Volksgesundheit der Deutschen Arbeitsfront und „Reichsärzteführer".

Er starb 50jährig im März 1939. Sein Nachfolger Dr.

Leonardo Conti, damals 38 Jahre alt (Foto rechts), erhielt bereits die Amts- bezeichnung „ Reiähsge- sundheitsführer". Conti verübte 1945 im Nürnber- ger Gefängnis Selbstmord

chen zahlreiche Berichte über Reha- bilitationsmaßnahmen Unfallver- letzter oder chronisch Kranker deut- lich.

In Modell-Heilanstalten, wie in Hohenlychen, wurden zum Beispiel Unfallverletzte wieder auf völlige Arbeitsfähigkeit getrimmt. Beinam- putierte mußten Hürden laufen und

„beinlose Kameraden" so lange schwimmen und trainieren, „daß sie zuletzt — wiederum geradezu spie- lend — den schweren Vorschlagham- mer schwingen konnten." (18)

Wer in diesem Rehabilitations- plan das erforderte Leistungsziel je- doch verpaßte, stand als „nutzloser Esser" unter der Bedrohung durch die Euthanasie.

schen Gesundseinwollen" zu erzie- hen und den Kampf gegen das Bum- melantentum zu führen. Um die Tä- tigkeit der Betriebsärzte zu unter- stützen, gründete die Deutsche Ar- beitsfront in den Betrieben „Ge- sundheitstrupps", die als verlänger- ter Arm der Betriebsärzte ihre Kol- legen auszuspionieren hatten und über alle Beobachtungen — Lei- stungsveränderungen, familiäre, fi- nanzielle oder Alkohol-Probleme etc. — den Betriebsärzten zu berich- ten hatten. Über die Gesundheits- trupps sollten die Betriebsärzte auch in die Freizeitgestaltung der Arbei- terschaft eingreifen.

Jeder Arbeiter hatte, diesen Vorstellungen zufolge, um seine Ge- sundheitspflicht gegenüber dem Va- terland einzulösen, in seiner Freizeit nur noch das zu tun, was seiner Ge- sundheit (gleich Leistungsfähigkeit)

nutzte. Für Bauern, Schlosser, Handwerker und Büro-Angestellte wurden „berufsspezifische Freizei- ten" gefordert. Individuelle Interes- sen und Neigungen hatten keine Be- rechtigung mehr, jede Minute eines Tages sollte der Gesundheitspflicht unterworfen werden. Die Betriebs- ärzte mit den Gesundheitstrupps hatten in diesem Sinne steuernde und kontrollierende Funktionen.

Weiterhin hatten sie ständigen Kontakt mit den Hausärzten zu hal- ten und die Erkrankten in Listen zu führen. Sie sollten auf die Hausärzte einwirken, um die Krankschreibun- gen zu senken. Ebenso sollten sie die „Gefolgschaftsmitglieder" vom Besuch jüdischer, kommunistischer und weltanschaulich nicht zuverläs- siger Ärzte abbringen.

Die DAF rief offen zum Bruch der ärztlichen Schweigepflicht auf, sie sei nur noch „in gewissen Fäl- len" geboten. Über die Verbindung mit den Hausärzten wurden die Be- triebsärzte die wichtigste Informa- tionsquelle für die Betriebsführung über kranke Gefolgschaftsmitglie- der.

Da die Überwachung der Haus- ärzte aber noch nicht ausreichend funktionierte, wurden die Betriebs- ärzte zunehmend mit Behandlungs- kompetenzen versehen. Mehr und mehr wurden Behandlungsmaßnah- men, die früher der Hausarzt durch- führte, in die Betriebe verlegt. Ex- emplarisch seien hier die Heinkel- Flugzeug-Werke angeführt, die als vorbildlich galten. Die

Behandlun- gen fanden in der Mittagspause oder

nach Arbeitsschluß statt. Kam der betreffende Arbeiter nicht zur Be-

11 Der Ausbau des

Betriebsärzte-Systems

(4)

handlung, so suchte ihn die Werks- pflegerin auf und hielt ihn dazu an.

Diese betriebsgebundene Behand- lung wurde mehr und mehr zur Zwangsbehandlung ausgebaut. Spä- ter wurde die stationäre Kranken- hausbehandlung in „Gesundheits- häusern" von Großbetrieben über- nommen.

Auf diese Art und Weise wurde bei den Hermann Göring-Werken, im Volkswagen-Werk und beim Westwall-Bau die reichsdurch- schnittliche Arbeitsunfähigkeitsdau- er von 22,6 Tagen (1937) auf sechs bis acht Tage reduziert. Bartels er- rechnete einen jährlichen Produk- tionsgewinn von acht Milliarden Reichsmark durch die Behandlungs- maßnahmen im Betrieb. Und auf dem Reichsparteitag 1938 faßte er es so zusammen: „Diese betriebsge- bundene Behandlung, die wir so auf- gezogen haben, ist, wie ich glaube, eine der am meisten die Produktion steigernden Maßnahmen." (19)

Während des Krieges wurden die Behandlungskompetenzen der Betriebsärzte drastisch erweitert.

Sie erhielten von der Kassenärzt- lichen Vereinigung Deutschlands die Funktion von Kassenärzten mit dem Recht auf Krankschreibung. Zusätz- lich wurde in rüstungswichtigen Be- trieben die freie Arztwahl aufgeho- ben. Wie der Soldat in die Revier- stube gehen mußte, so mußte die Arbeiterschaft zu ihrem Betriebs- arzt. 1942 erhielten die Betriebsärz- te sogar die Funktion von Vertrau- ensärzten. Die „verhaßten Gesund- schreiber" waren ihre eigenen Kon- trolleure geworden.

Gab es bis zum Ausbruch des Krieges einige hundert Betriebsärz- te, so fand der eigentliche Ausbau während des Krieges statt. 1943 soll es 5000 und 1944 8000 haupt- und nebenamtliche Betriebsärzte gege- ben haben. (20)

Die Arbeits- und Leistungsme- dizin im Nationalsozialismus führte letzten Endes zur Vernichtung durch Arbeit. Dieser Leistungsexzeß ist NS-spezifisch, doch die Orientie-

rung medizinischen Handelns an Leistungskategorien durchaus nicht.

Dies gilt insbesondere für die Ent- wicklung der Arbeitsmedizin.

Diese Tatsache macht die Be- schäftigung mit den zwölf Jahren des Tausendjährigen Reiches so bitter notwendig, denn es geht darum, Kontinuität, aber auch Divergen- zen, die sich aus der andersartigen politischen und gesellschaftlichen Si- tuation ergeben, offenzulegen und sich der Verantwortung zu stellen.

Der folgende Rückblick über die Entwicklung der Arbeitsmedizin in der Weimarer Republik erhebt nicht den Anspruch einer Gesamt- bewertung. Er greift bewußt nur ein- zelne Facetten dieser Entwicklung heraus, soweit sie mitverantwortlich für den nationalsozialistischen Lei- stungswahn sind, aber in der bisheri- gen Geschichtsbetrachtung keine Beachtung fanden.

Ill Leistungsdebatten in der Arbeitsmedizin der Weimarer Republik

Vergleicht man die Arbeitsme- dizin in der Weimarer Republik mit ihrer Situation vor dem Ersten Welt- krieg, so fand in den 20er Jahren ei- ne vergleichsweise rasante Entwick- lung statt. Neben dem Ausbau des gewerbeärztlichen Dienstes ist der enorme Bedeutungszuwachs der Ar- beitsphysiologie und Arbeitspsycho- logie zu erwähnen. Den Hinter- grund für diesen Aufschwung bilde- te der notwendige Rationalisie- rungsschub der deutschen Industrie nach dem 1. Weltkrieg. Taylorismus und Fordismus hatten in den USA bereits seit vielen Jahren eine Um- wälzung der industriellen Produk- tion auf technischem und arbeitsor- ganisatorischem Gebiet gebracht.

Die deutsche Industrie konnte nur mit ähnlichen Rationalisierungsan- strengungen wieder konkurrenzfä- hig werden.

Der Kapitalmangel im Nach- kriegs-Deutschland und der kriegs- bedingte Verlust an leistungsfähigen Arbeitskräften bildeten einen we- sentlichen Unterschied zu den Ver- einigten Staaten.

Deshalb wurde in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg nicht der ka- pitalintensiven, technischen Ratio- nalisierung der Vorrang gegeben, sondern der Rationalisierung des

„Faktor Mensch". Leistungssteige- rung durch wissenschaftlichen Men- schen-Einsatz und neue betriebliche Menschenführung war das Ziel der deutschen Industrie.

Hier boten sich die neuen Dis- ziplinen der Arbeitsmedizin, die Ar- beitsphysiologie und -psychologie, geradezu an. Der Nestor der deut- schen Arbeitsphysiologie, Edgar Atzler, stellte fest, „führende Indu- strielle verfolgten mit warmem In- teresse unsere Arbeiten". (21) Und 1927 schrieb er: „Härter denn je tobt der wirtschaftliche Konkurrenz- kampf, alles ist auf Steigerung des Arbeitsertrages eingestellt! Gestern verbesserte man die Maschine und die Organisation, heute wendet man seine Aufmerksamkeit dem schaf- fenden Menschen zu, dessen gesam- te Arbeitspotenz man möglichst ra- tionell zu verwerten sucht. Galt bis- her in der Fabrik nur die Stimme des Wirtschaftlers und des Ingenieurs, so leiht man jetzt auch dem Psycho- logen und dem Physiologen willig sein Ohr." (22)

Ende der 20er Jahre berichtete die von Atzler und Max Rubner her- ausgegebene Zeitschrift „Arbeits- physiologie" über die Leistungsstei- gerung durch UV-Bestrahlung und durch Leibesübungen. 1932 wurden Studien über die Leistungssteige- rung durch Kokain veröffentlicht, die am Institut von Oskar Bruns durchgeführt wurden. Derselbe Bruns nahm ab 1938 an den Men- schen-Versuchen der Nationalsozia- listen über den leistungssteigernden Einsatz von Weckaminen, wie zum Beispiel des Pervitins, teil. (23)

In diese Pervitin-Versuche wa- ren auch Otto Graf und Gunther Lehmann vom Kaiser-Wilhelm-In- stitut für Arbeitsphysiologie einge- schaltet, die nach 1945 die Leitung des Max-Planck-Institutes für Ar- beitsphysiologie in Dortmund wei- terführten. In dem Streben nach Leistungssteigerung wurde die labile Grenze zwischen „optimaler" und

„maximaler" Leistung immer ver- waschener. Dies wurde nicht nur

11 Kontinuität

und Divergenzen

(5)

„Vfg. Oefunbtriesfübrung bee beutgen Zolfd

eine 23ierteljaimerift beb S2atiptamtei3 für Zolfdgefunblxit Das erlte fielt ber neuen, non Reichsärzteführer Dr. Magner

unb Reichsamtsleiter Dr. Bartels begrünbeten 3eitfchrift für Gefunbheitsführung itt erfehienen. Sie itt las -mabgebenbe Organ auf bem Gebiete brr Gefunbheitsführung unb teilt bie Richtung weilen, in ber ber Inahüte Ginfab bes ar3tes unb aller im Getunbbeitsbientt ttebenben Kräfte 3um Belten ber Gelunbheit unteres Dolkes erfolgen toll.

Der erlte Ruflab ttammt aus ber 3eber bes üetausgebers Dr. gr. Bartels unb bebanbelt bie „Leijtungsanlage, neiltungsberettlehatt unb L.eiltungsbean- f pru ch u n g”. Der Derfaffer geht barin in grober überjetu auf kn 111 e n f dt e n als Zräger alles Schaffens ein, auf feinen CEintab an rechter, Stelle unb feine Gigenlchaft als kalt- barftes Gut unterer Dolksgemeinlchaft. Leithingsanlage unb neittungsbeteitichaft 3um Belten ber ffiefamtheit einzufeen unb ben Schaffenben bock getunb unb leittungsfroh zu erhalten, ilt las Grunbproblem, las lich bunh bie ganze Arbeit zieht.

Churakteriggett bafiir lieb bie Sehlubtäte: „Lichtung nor bem beuttchen Utentehen unb jeiner Arbeitskraft, ben IIHIIen, bieten beutleheil Utenfehen als las inertnollfte Gut unteres Dolkes nicht Schaben nehmen 3u lallen burdl leine arbeit, fonbern ihn feiner Anlage gemtib nicht trab arbeit, fonbern bureb arbeit 311 hticiflter Getunbheit unb neittung 31i entwickeln."

hanblung ber 3rühjeben als praktifch miditigftes Problem 311 torechen.

auf bit 3rage ber „Gefunblicitsführung in ber Jugenberziehung" geht Prof. (Dsinalb Koch DOM Pfuelogitchen leint ber Uninerfität Innen ein unb legt bar, weldie aufgaben für bie Gejunbheit unterer Jugenb noch ihrer Bearbeitung harren.

Das pralitifch to wichtige Gebiet non „arbeit unb Gelunb- heir wirb in 3n3ei auftäten baraeltellt. Der Leiter bes annes für Berufserziehung unb Betriebsführung in ber D135., Prof.

arnholb, ichreibt üben „arbeitsgeliaItung unb Gefunbheitsführung" unb Dr. fiebeltreit nom tjauptaint für Dolksgefuneeii legt leinen umfangreichen unb bis ins ein3elne gehenben ausführungen ben „G e - funbe Utenfehen itt Eifengiebereien" zugrunbe.

aus feiner: nielfältigen praktiten Erfahrung fehöpft hier ber Derfaller unb gibt ein nonftänbiges BRD nom neben unb Zreiben in ber nerarbeitenben Giteninbuftrie. als zugehöriger Anhang gleichlam itt ber zweite Ruffati non Dr. Reb e ft reit

„Urinken in Betrieben, insbefonbere in ibe- be riebe n" anzugeben.

Der getarnte Jnhalt bieten erften ßeftes Iiibt erkennen,

„Durch Arbeit zu höchster Ge- sundheit und Leistung": Aus- riß aus „Deut- sches Ärzteblatt

— Amtsblatt der Reichsärzte- kammer und der Kassenärzt- lichen Vereini- gung Deutsch- lands" vom 11.

Februar 1939

durch die Kokain-Versuche deut- lich. So stellte auf einem gewerbehy- gienischen Vortrags-Kurs der Deut- schen Gesellschaft für Gewerbehy- giene am 9. Juni 1925 in Nürnberg Richard Bolt fest, „Fähigkeiten, die früher gar nicht oder nur vorüberge- hend als Spitzenleistung zur Wir- kung kamen, werden jetzt als All- täglichkeiten von den meisten werk- tätigen Menschen gefordert." (24) Er forderte Menschen, die „diesen Anforderungen unseres Berufsle- bens gerecht" werden könnten. Bei den bestehenden Leistungsgrenzen könne dies natürlich nicht jedem Durchschnittsmenschen gelingen, und er verlangte dementsprechend wissenschaftlich objektivierbare Lei- stungsausleseverfahren für die Ar- beiterschaft.

Dieser Lösungsvorschlag des Problems „Leistungssteigerung"

war durchaus typisch für die Weima- rer Republik. Die Pflicht des einzel- nen Arbeiters, für den deutschen Wiederaufstieg gesundheitsschädi- gende Höchstleistungen zu erbrin- gen, war durchgängiges Gedanken- gut der meisten arbeitsmedizini- schen Wissenschaftler, der Fabrik- Ärzte, aber auch der Landesgewer- be-Ärzte, wie der Ärzteschaft insge- samt. Dieser Pflicht gegenüber dem Vaterland wurden die Rechte des Individuums klar untergeordnet.

Dies schloß Engagement des einzel- nen Arztes für den Arbeiterschutz nicht aus, es steckte aber die Rah- menbedingungen ab, innerhalb de-

rer Forderungen für den Arbeiter- schutz ihre Grenzen fanden.

Ein bedeutender deutscher Ge- werbehygieniker, der bayerische Landesgewerbearzt Franz Koelsch, forderte 1925: „Wenn wir rationell arbeiten wollen, dürfen wir nur voll- wertige, der geforderten Leistung angepaßte Individuen einstellen."

(25)

In einem 1925 gehaltenen Fort- bildungsvortrag für Berufsberater untersuchte Koelsch den „Einfluß der Erbfaktoren" auf die Berufsar- beit, und er drückte die Hoffnung aus, daß man „schon in einigen Jah- ren ganz anders als heute die konsti- tutionelle Berufseignung pflegen"

werde, und er setzte auf Tests, um die „individuelle Giftempfindlich- keit" des Arbeiters feststellen zu können. (26)

Die bisher erschienenen Beiträge:

Prof. Dr. med. Gunter Mann: Biologis- mus — Vorstufen und Elemente einer Medizin im Nationalsozialismus (Heft 17/1988); Prof. Dr. phil. Gerhard Baa- der: Rassenhygiene und Eugenik — Vor- bedingungen für die Vernichtungsstrate- gien gegen sogenannte „Minderwerti- ge" im Nationalsozialismus (Heft 27/1988); Prof. Dr. Werner-Friedrich Kümmel: Die „Ausschaltung" — Wie die Nationasozialisten die jüdischen und die politisch mißliebigen Arzte aus dem Beruf verdrängten (Heft 33/1988); Dr.

Hans-Peter Kröner: Die Emigration von Medizinern unter dem Nationalsozialis- mus (Heft 38/1988); Dr. Georg Lilien- thal: Medizin und Rassenpolitik — Der

„Lebensborn e. V." der SS (Heft 44/1988).

Die Hinwendung zu den Lei- stungsauslese-Verfahren durch kon- stitutionelle Berufseignungstests in den zwanziger Jahren und die Orien- tierung an der Feststellung der „in- dividuellen Giftempfindlichkeit"

waren ein unheilvoller Entwick- lungsprozeß in der Arbeitsmedizin.

Vom Anspruch, schädigende Ar- beitsbedingungen konsequent zu be- kämpfen, führte diese Entwicklung zu der weiteren Anpassung des Indi- viduums an die schädigenden Pro- duktionsbedingungen. Die Orientie- rung der Eignungs-Untersuchungen an der „erblichen Konstitution"

bahnte den Einbruch der Erb- und Rassenhygiene in die Arbeitsmedi- zin. Ein Einbruch, der die ganze Medizin in der Weimarer Republik kennzeichnete. Die Geschichte der Arbeitsmedizin ist von einer er- staunlichen Kontinuität geprägt.

Dies drückt sich auch im Weg nam- hafter Persönlichkeiten der Arbeits- medizin aus, die, wie Franz Koelsch, E. W. Baader, Edgar Atzler, Gun- ther Lehmann, Otto Graf, Hans Bethge, Fritz Curschmann, Her- mann Gerbis in ihren Funktionen blieben und sich wie auch immer mit nationalsozialistischer Gesundheits- politik arrangierten.

Anmerkungen beim Sonderdruck Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Peter Reeg Pacelliallee 59 1000 Berlin 33

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