• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Medizin im Nationalsozialismus (III): Die „Ausschaltung“" (18.08.1988)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Medizin im Nationalsozialismus (III): Die „Ausschaltung“" (18.08.1988)"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Die bisher erschienenen Beiträge:

Prof. Dr. med. Gunter Mann: Bio- logismus — Vorstufen und Elemente einer Medizin im Nationalsozialis- mus (Heft 17/1988)

Prof. Dr. phil. Gerhard Baader:

Rassenhygiene und Eugenik — Vor- bedingungen für die Vernichtungs- strategien gegen sogenannte „Min- derwertige" im Nationalsozialismus (Heft 27/1988)

Als nächster Beitrag ist vorgesehen:

Dr. med. Hans-Peter Kröner: Die Emigration von Medizinern unter dem Nationalsozialismus

1

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Vor 50 Jahren, zum 30. Septem- ber 1938, entzog die nationalsoziali- stische Regierung den 3152 jüdi- schen Ärzten, die damals im „Alt- reich" noch tätig waren, die Bestal- lung. 709 von ihnen durften zwar auf Widerruf weiterarbeiten, aber nicht mehr als „Ärzte" , sondern sie wa- ren zu jüdischen „Krankenbehand- lern" degradiert, die nur noch Juden sowie ihre eigenen Frauen und Kin- der als Patienten haben durften.

Aus heutiger Sicht ein unerhör- ter Vorgang: Ärzte und Ärztinnen, die in Deutschland studiert und die Berufszulassung erhalten, seit Jah- ren und Jahrzehnten den Beruf un- angefochten ausgeübt, bis 1933 nicht selten auch Ämter in Standesverei- nigungen innegehabt hatten, über- dies bis zum „Reichsbürgergesetz"

von 1935 vollberechtigte deutsche Staatsbürger gewesen waren und sich ganz als Deutsche fühlten, die also nicht, wie heute von ahnungslo- sen Zeitgenossen gelegentlich zu hö- ren ist, sozusagen „Gastarbeiter`

— sie verloren die Bestallung, nur weil sie jüdischer Abstammung waren (das Gastarbeiter-Argument diskriminiert übrigens beide Grup- pen gleichermaßen). Daß so etwas möglich war in einem Land, das eine Tradition als Rechtsstaat und Kul- turnation hatte, muß immer wieder Stein des Anstoßes und Anlaß zu Fragen sein. Die „Ausschaltung`

jüdischen und der politisch miß- liebigen Ärzte durch den National- sozialismus, an die im folgenden er- innert werden soll, ist ein dunkles Kapitel in der Geschichte der deut- schen Ärzte im 20. Jahrhundert.

Wie war die Situation vor 1933?

Jüdische Mediziner spielten damals in Deutschland nicht nur in der Wis- senschaft, sondern auch in der ärzt-

lichen Praxis eine wichtige Rolle.

„Der jüdische Arzt", schreibt der Chirurg Siegfried Ostrowski aus der Rückschau, „besaß im Deutschen Reich der Vor-Nazizeit ein solches Ansehen, daß man geradezu von ei- ner Bevorzugung durch weite Kreise der nichtjüdischen Bevölkerung sprechen kann. Das war insbesonde- re in Arbeiterkreisen deutlich, aber auch das Bürgertum hielt seine jüdi- schen Hausärzte, oft durch Genera- tionen, in der Familie." Auch die Statistik belegt es: Vor 1933 dürften im Deutschen Reich bei einem jüdi- schen Bevölkerungsanteil von nur 0,9 Prozent rund 16 Prozent der Ärzte jüdischer Abstammung gewe- sen sein; gut zwei Drittel von ihnen waren niedergelassen. Wie wäre dies möglich gewesen, wenn nicht zwi- schen der nichtjüdischen Bevölke- rung und den jüdischen Ärzten ein enges Vertrauensverhältnis bestan- den hätte!

Die Gründe für die starke Stel- lung der Juden unter den deutschen Ärzten sind vielfältig und weisen zum Teil weit in die Geschichte zurück:

• der Beruf des Arztes nahm bei den Juden traditionell einen ho-

hen Rang ein; nachdem deutsche Universitäten im 18. Jahrhundert jü- dische Studenten zugelassen hatten, wandten sich diese vorzugsweise der Medizin zu;

• seit dem Mittelalter waren jüdische Ärzte trotz aller kirchlichen Verbote, sie zu konsultieren, und trotz des alten, konfessionell be- gründeten Judenhasses bei Christen sehr angesehen;

• jüdische Akademiker gingen im 18./19. Jahrhundert hauptsäch- lich in freie Berufe, weil sie sich vor der bürgerlichen Gleichberechti- gung der Juden dort am ehesten ent- falten zu können glaubten; als Ärzte in freier Praxis konnten sie nahezu ungehindert eine beruflich wie sozial geachtete Position erringen;

• der Zustrom zum Arztberuf und anderen freien Berufen hielt auch an, nachdem die schrittweise Emanzipation der Juden im 19.

Jahrhundert schließlich zwar zur vol- len rechtlichen Gleichstellung im neuen Deutschen Reich geführt hat- te, diese aber in Wirklichkeit einge- schränkt blieb (zum Beispiel Beam- te, Offiziere).

Repertoire

von Vorwürfen seit dem 19. Jahrhundert

Daß zu viele Ärzte Juden seien, war einer der ersten (und wirksam- sten) Vorwürfe des neuen, auf die Rasse gerichteten Antisemitismus, der im letzten Viertel des 19. Jahr- hunderts entstand und die konfessio- nelle Judenfeindschaft zunehmend überlagerte. Dabei fragte man nicht nach den Ursachen für die starke Vertretung der Juden unter den Ärzten und hätte nie daran gedacht zu überprüfen, ob denn zum Bei- spiel die Zahl katholischer oder pro- testantischer Ärzte dem jeweiligen Bevölkerungsanteil entsprach. An- dere Vorwürfe zeigen deutlich den

„antimodernistischen" Grundzug des Rassenantisemitismus: Juden seien führend beteiligt an gefähr- lichen neuen Entwicklungen in der Medizin, so an bakteriologischen und mit Tierversuchen arbeitenden Forschungen, an der Hypnose, Psy-

Medizin im Nationalsozialismus (III)

Die „Ausschaltung"

Wie die Nationalsozialisten die jüdischen und die poli- tisch mißliebigen Ärzte aus dem Beruf verdrängten Werner Friedrich Kümmel

A-2274 (28) Dt. Ärztebl. 85, Heft 33, 18. August 1988

(2)

choanalyse und Sexualwissenschaft.

Außerdem bezichtigte man sie der moralischen Unzuverlässigkeit, wes- halb sie für weibliche Patienten nicht vertrauenswürdig seien.

Diese schon um 1900 zu einem.

feststehenden Repertoire vereinig- ten Vorwürfe fanden trotz einer rüh- rigen antisemitischen Publizistik bis zum Ersten Weltkrieg in der deut- schen Öffentlichkeit wie unter den Ärzten nur begrenzt Resonanz. Mit der Zunahme des Antisemitismus nach Kriegsende fielen sie jedoch auf fruchtbareren Boden. Der auf- kommende Nationalsozialismus griff sie auf, wobei vor allem das Pro- porz-Argument angesichts der wirt- schaftlichen Schwierigkeiten und des Medizinerüberschusses in der Wei- marer Zeit seine Wirkung, zumal bei den Jüngeren, nicht verfehlte.

Zuwendung deutscher Ärzte zum

Nationalsozialismus

Schon im Juli 1930 erklärte die NSDAP, „nur ein beruflich freier und ethisch hochstehender deut- scher Ärztestand — frei von jüdi- schem Einfluß in seinen eigenen Reihen" könne die Zukunftsaufga- ben bewältigen. „Die Nöte des deutschstämmigen ärztlichen Nach- wuchses . . . werden sofort beho- ben sein, wenn im kommenden Drit- ten Reich deutsche Volksgenossen sich nur von deutschstämmigen Ärz- ten behandeln lassen und für die Zu- lassung fremdrassiger Elemente — schon zum Universitätsstudium — vom Staate entsprechende Bestim- mungen erlassen werden. " Im Auf- ruf des Nationalsozialistischen Deut- schen Ärztebundes vom 23. März 1933 treten dann auch die anderen Anklagepunkte mit aller Klarheit hervor: Kein Beruf sei „so verjudet und so hoffnungslos in volks- fremdes Denken hineingezogen worden" wie die Medizin. „Jüdi- sche Dozenten beherrschen die Lehrstühle der Medizin, entseelen die Heilkunst und haben Generation um Generation der jungen Ärzte mit mechanistischem Geist durchtränkt.

Jüdische ‚Kollegen' setzten sich an

die Spitze der Standesvereine und der Ärztekammern; sie verfälschten den ärztlichen Ehrbegriff und unter- gruben arteigene Ethik und Mo- ral . . "

Trotz solcher Verlautbarungen dürfte bei der auffällig starken Zu- wendung deutscher Ärzte zum Na- tionalsozialismus ab 1933 der Anti- semitismus nicht im Vordergrund gestanden haben (immerhin beruhte die Tätigkeit jüdischer Ärzte in den Vorständen von Standesorganisatio- nen vor 1933 auf der Wahl durch Kollegen!). Andere Affinitäten und Anziehungspunkte allgemeinpoliti- scher wie standespolitischer Art, über die hier nicht zu reden ist, müs- sen den Ausschlag für diese Orien- tierung gegeben haben. Das hinder- te aber nicht, daß die Nationalsozia- listen nach der Machtergreifung ihre Ausschaltungspolitik zügig ins Werk setzen konnten, da es unter den Ärz- ten genügend überzeugte Parteigän- ger gab, die keine Bedenken hatten, bei der Verdrängung von Kollegen aus dem Beruf tatkräftig Hand anzu- legen.

Von Anfang an zielte diese Poli- tik nicht allein auf die Juden, son- dern zugleich auch auf die „Marxi- sten" unter den Ärzten, wobei zwi- schen Sozialdemokraten und Kom- munisten nicht unterschieden wur- de. Die doppelte Stoßrichtung traf allerdings nicht selten ein und diesel- be Person, denn während die deut- schen Ärzte in ihrer überwiegenden Mehrheit politisch konservativ ein- gestellt waren, fanden sich nicht zu- fällig in dem 1924 gegründeten

„Verein Sozialistischer ;Slrzte" , der allerdings nur etwa 1500 Mitglieder zählte, relativ viele Juden. Schon 1899 hatte ein jüdischer Arzt über seine Berufs- und Glaubensgenossen geschrieben, sie neigten in der Hoff- nung auf weitere Fortschritte in der tatsächlichen Gleichstellung der Ju- den „fast durchweg liberalen politi- schen Anschauungen" zu, da die an- tisemitische Agitation es „selbst dem loyalsten Juden unmöglich`

„in der heutigen Zeit kon- servative Gesinnungen zu hegen".

Hinzu kam aber auch, daß Juden aufgrund ihrer eigenen Geschichte ein geschärftes Bewußtsein für so- ziale Benachteiligung hatten.

Ausschaltung in

„eigener Regie"...

Den ersten reichseinheitlichen Schritt in der Ausschaltungspolitik vollzogen die Ärzte in eigener Re- gie, ohne direkte Mitwirkung der neuen Regierung und erstaunlich schnell: Nachdem der Nationalsozia- listische Deutsche Ärztebund und die ärztlichen Spitzenverbände am 24. März 1933 die „Gleichschal- tung" der deutschen Ärzteschaft be- schlossen hatten, konnte der Ärzte- bundvorsitzende Gerhard Wagner schon zehn Tage später die Durch- führung eines weiteren, am gleichen Tage gefaßten Beschlusses melden:

„Die Entfernung von Juden und Marxisten aus den Vorständen und Ausschüssen" . Geschah dies noch kaum bemerkt von der Öffentlich- keit, so rückten die jüdischen Ärzte um so mehr ins Rampenlicht, als am 1. April 1933, dem Tag des „allge- meinen Judenboykotts" , vor ihren Praxen wie vor jüdischen Geschäf- ten und den Büros jüdischer Rechts- anwälte SA- oder SS-Männer stan- den, um die Menschen vor dem Ein- tritt zu „warnen". Die Partei for- derte auf zahllosen Kundgebungen die „Einführung einer relativen Zahl für die Beschäftigung der Ju- den in allen Berufen entsprechend ihrer Beteiligung an der deutschen Volkszahl". Ein Slogan wie der „Ei- ne deutsche Frau, ein deutsches Mädchen geht nicht zum jüdischen Arzt!" verrät allerdings, daß es den Nationalsozialisten keineswegs nur darum ging, die Zahl jüdischer Ärz- te gemäß dem jüdischen Bevölke- rungsanteil zu senken. Zielrichtun- gen der Ausschaltungspolitik waren vielmehr auch,

• die jüdischen Ärzte von den nichtjüdischen Kollegen und vor al- lem von den nichtjüdischen Patien- ten vollständig zu trennen,

• sie fachlich und menschlich zu diffamieren,

• ihnen die Berufsausübung durch immer neue Beschränkungen und Schikanen zu erschweren und sie damit zur Berufsaufgabe zu zwin- gen,

• jüdischen Medizinernach- wuchs auf die Dauer völlig zu unter- binden.

Dt. Ärztebl. 85, Heft 33, 18. August 1988 (31) A-2275

(3)

. . . und durch staatlichen Zwang

Diesen Zielen diente eine Viel- zahl von Maßnahmen, die nach dem Boykott vom 1. April 1933 Schlag auf Schlag folgten. Die wichtigsten seien hier genannt:

• Das „Gesetz zur Wiederher- stellung des Berufsbeamtentums"

vom 7. April 1933 bestimmte, daß Beamte „nichtarischer Abstam- mung" und politisch nicht als zuver- lässig betrachtete Beamte in den Ru- hestand zu versetzen seien. Als

„nichtarisch" galt bereits, wer nur einen nichtarischen Eltern- oder so- gar Großelternteil hatte. Das Gesetz wurde wenig später auch auf nicht- beamtete Personen ausgedehnt und hatte zur Folge, daß — hauptsächlich aufgrund des „Arierparagraphen" — eine große, aber nicht näher be- kannte Zahl von Ärzten und Ärztin- nen an Universitäten, staatlichen und städtischen Krankenhäusern, Gesundheitsämtern usw. entlassen wurde (mit Ruhegehalt nur nach mindestens zehnjähriger Dienst- zeit!). Das Gesetz nahm diejenigen aus, die vor dem 1. August 1914 zu Beamten ernannt, Frontkämpfer ge- wesen waren oder deren Vater oder Sohn gefallen war.

• Die Verordnung des Reichs- arbeitsministeriums vom 22. April 1933 erklärte die „Tätigkeit von Kassenärzten nichtarischer Abstam- mung sowie von Kassenärzten, die sich im kommunistischen Sinne be- tätigt haben" , für beendet und ver- bot die Neuzulassung solcher Ärzte.

Bei der Aufstellung der Listen für die Ausschlüsse verfuhren die Kas- senärztlichen Vereinigungen teilwei- se überaus leichtfertig, vor allem beim Vorwurf der kommunistischen Betätigung. Gut die Hälfte der Aus- geschlossenen erhob Einspruch; das Arbeitsministerium, das bemüht war, die Vorschriften nicht zuungun- sten der Betroffenen auszulegen, er- klärte sich mit den Ausschlüssen er- staunlich oft nicht einverstanden und hob in 29 Prozent der Fälle den Ausschluß wegen nichtarischer Ab- stammung und sogar in 69 Prozent wegen angeblicher kommunistischer Betätigung wieder auf. Dennoch verloren bis zum Frühjahr 1934 über

2000 Ärzte und Ärztinnen, überwie- gend wegen nichtarischer Abstam- mung, definitiv die Kassenzulas- sung. Viele von ihnen wurden da- durch zur Aufgabe der Praxis ge- zwungen, zumal auch die meisten Ersatzkassen und privaten Versiche- rungen jüdische Arzte — außer bei jüdischen Patienten — von der Er- stattung ausschlossen. Die freige- wordenen Kassenarztstellen erhiel- ten bevorzugt parteitreue Jungärzte.

• Nach dem „Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen" vom 25. April 1933 durften Nichtarier nur noch entsprechend dem nichtarischen Be- völkerungsanteil an höheren Schu- len und Hochschulen vertreten sein.

• Mit einer Anordnung vom 10. August 1933 verbot der Kommis- sar für die ärztlichen Spitzenverbän- de, Gerhard Wagner, arischen Ärz- ten jede Zusammenarbeit mit nicht- arischen Kollegen (Vertretung, Überweisungen, Praxisgemeinschaft und ähnliches).

• Nachdem schon die geänder- te Prüfungsordnung vom 5. Februar 1935 die Zulassung zu den Prüfun- gen sowie die Approbation vom Nachweis der arischen Abstammung abhängig gemacht hatte, verwehrte die neue Reichsärzteordnung vom 13. Dezember 1935, darüber noch hinausgehend, allen jenen die Be- stallung, die wegen ihrer oder des Ehegatten Abstammung nicht Be- amte werden konnten. Damit war jüdischer Medizinernachwuchs defi- nitiv ausgeschlossen. Die Bindung der Berufszulassung an die Vor- schriften des Berufsbeamtengesetzes traf im übrigen den Arztberuf als freien Beruf an der Wurzel, ohne daß dies jedoch in der Ärzteschaft so empfunden worden wäre oder sich gar Widerspruch geregt hätte.

• Mit der „Vierten Verord- nung zum Reichbürgergesetz" vom 25. Juli 1938 wurde, wie erwähnt, al- len noch im „Altreich" verbliebe- nen jüdischen Ärzten zum 30. Sep- tember des gleichen Jahres die Be- stallung entzogen.

Damit waren von den schät- zungsweise 8000 bis 9000 jüdischen Ärzten und Ärztinnen, die Anfang 1933 in Deutschland tätig waren (bei einer Gesamtzahl von 52 500 Ärz-

ten) innerhalb von gut fünf Jahren mehr als 9/io aus dem Beruf ver- drängt worden — immerhin 1/6 bis 1/7 der deutschen Ärzte; nur die 709 jü- dischen „Krankenbehandler" blie- ben noch so lange übrig, bis sie in letzter Minute auswandern konnten oder mit ihren Patienten deportiert wurden.

Emigrantenschicksal

Solche Zahlen lesen sich leicht — wir sind an Statistiken gewöhnt —, aber sie verschweigen, welch tiefe Eingriffe in die Lebensläufe und Fa- milien der Betroffenen sich dahinter verbergen. Deren Schicksale waren höchst unterschiedlich. Wissen- schaftler, die schon einen Namen hatten und noch nicht zu alt waren, fanden relativ leicht an Forschungs- institutionen im Ausland eine neue Stelle. Ungleich schwerer war es je- doch für die große Mehrheit der Ärzte, die in freier Praxis, an Kran- kenhäusern, in Gesundheitsämtern usw. gearbeitet hatten. Ein kleiner Teil versuchte, in andere Berufe überzuwechseln, einige wenige ka- men an jüdischen Einrichtungen un- ter, wieder andere warteten ab und lebten, solange es ging, von Erspar- nissen, nicht wenige aber, vor allem ältere, sahen bald keinen Ausweg mehr und nahmen sich das Leben.

Schon im ersten Jahr der nationalso- zialistischen Herrschaft waren rund 2000 jüdische Ärzte in eine ernste wirtschaftliche Notlage geraten. Gut die Hälfte der „Ausgeschalteten" , hauptsächlich die jüngeren, ent- schloß sich zur Emigration; schon 1933/34 verließen 1700 Arzte und Ärztinnen Deutschland, in den Jah- ren 1936, 1938 und 1939 folgten wei- tere Auswanderungwellen. Ziele waren anfangs hauptsächlich Palästi- na, Frankreich, England und andere vorwiegend westeuropäische Län- der, später in zunehmendem Maße die USA und andere überseeische Länder. Insgesamt dürften 4500 bis 5000 Ärzte wegen ihrer Abstam- mung, dazu noch eine kleinere Zahl aus politischen Gründen ausgewan- dert sein; allein in den USA suchten bis 1942 3600 bis 4000 deutsche und österreichische Ärzte Zuflucht. >

A-2276 (32) Dt. Ärztebl. 85, Heft 33, 18. August 1988

(4)

Bei weitem nicht allen Emigran- ten gelang es, in den Gastländern alsbald wieder in den ärztlichen Be- ruf zurückzukehren, zum einen, weil die Zulassungsbedingungen für Aus- länder angesichts des wachsenden Zustroms deutscher Einwanderer auf Drängen der einheimischen Kol- legen verschärft wurden, zum ande- ren, weil die Zulassungsbestimmun- gen in den einzelnen Ländern ohne- hin sehr unterschiedlich waren.

Während einige Länder die.Zuwan- derung von Ärzten systematisch un- terbanden, forderten andere eine Wiederholung der ärztlichen Ab- schlußprüfung in der Landessprache oder ein zusätzliches Studium von mehreren Semestern, andere sogar die im Lande vorgeschriebene Rei- feprüfung und dazu ein erneutes vollständiges Studium. Teilweise wurde die Ausübung des ärztlichen Berufs außerdem vom Erwerb der Staatsangehörigkeit abhängig ge- macht, der an zusätzliche Vorausset- zungen geknüpft war. All dies hatte zur Folge, daß die Schicksale der Emigranten sehr vielfältig waren:

Zwischen denen, die nach kurzer Unterbrechung wieder als Ärzte ar- beiten oder gar ihre Karriere fortset- zen konnten, und den anderen, die die Hürden im Gastland nicht über- wanden und sich mit untergeordne- ter Arbeit notdürftig durchschlagen mußten, gab es alle Zwischenfor- men.

Die "Ausschaltung" der jüdi-

schen und der politisch unerwünsch- ten Ärzte nach 1933 war kein blindes. Schicksal, das über die deutschen Ärzte ohne ihr Zutun gekommen wäre, weil der nationalsozialistische Staat es so wollte. Vielmehr verlief sie nicht zuletzt deshalb so zügig, weil genügend parteiergebene Kol- legen von Anfang an bereitwillig, ja teilweise mit Übereifer daran mit- wirkten. Sie haben sich damit zwar keiner Verbrechen schuldig gemacht wie diejenigen, die im Nürnberger Ärzteprozeß angeklagt wurden, aber moralisch haben auch sie sich schuldig gemacht, indem sie beden- kenlos Tausende ihrer Kollegen dis- kriminierten und aus dem Beruf ver- trieben. An der "Ausschaltung"

sich aktiv zu beteiligen, wurde kein Arzt gezwungen.

Der Mut einzelner ...

Die historische Gerechtigkeit gebietet es aber ~uch zu erwähnen, daß unter den Arzten keineswegs allgemeines Einverständnis mit der nationalsozialistischen Ausschal- tungspolitik herrschte. Wie es Pa- tienten gab, die sich der befohlenen Rassentrennung widersetzten und ihrem jüdischen Arzt so lange wie möglich treu blieben, so gab es nichtjüdische Ärzte, die trotz der Verbote mit jüdischen Kollegen wei- ter zusammenarbeiteten. Der Mut einzelner konnte menschliches Mit- gefühl und kollegiale Verbundenheit bezeugen, aber nichts ausrichten ge- gen die Gleichgültigkeit, die Angst und den Opportunismus der großen Mehrheit und gegen den Zugriff des totalen Staates.

Muß man sich nach einem hal- ben Jahrhundert immer noch und immer wieder mit dieser Zeit befas- sen? Kann man nicht endlich einen Schlußstrich ziehen unter die , ,Be- wältigung'' der Vergangenheit?

Warum niemand, weder die Alten noch die Jungen, einer solchen Ver- gangenheit entgehen kann, lesen wir bei Friedrich Nietzsche, der vor über hundert Jahren im 3. Kapitel seines Traktats "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" schrieb:

, ,Denn da wir nun einmal die Resul- tate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verir- rungen, Leidenschaften und Irrtü- mer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich, sich ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrun- gen verurteilen und uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Tatsa- che nicht beseitigt, daß wir aus ihnen herstammen.''

Literatur im Sonderdruck (der beim Verfasser oder der Redaktion ange- fordert werden kann)

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Werner Friedrich Kümmel Institut für Geschichte

der Medizin der Robert Bosch Stiftung

Straußweg 17 7000 Stuttgart 1 A-2278 (34) Dt. Ärztebl. 85, Heft 33, 18. August 1988

Z

um zweiten Mal gescheitert sind die bilateralen Verhand- lungen zwischen der Deut- schen Krankenhausgesellschaft (DKG) und den sieben Bundesver- bänden der gesetzlichen Krankenver- sicherung gemäߧ 19 des novellierten Krankenhausfinanzierungsgesetzes (KHG) über "gemeinsame Empfeh- lungen über Maßstäbe und Grundsät- ze für die Wirtschaftlichkeit und Lei- stungsfähigkeit der Krankenhäuser, insbesondere für den Personalbedarf und die Sachkosten''.

Inzwischen hat die Krankeu- hausgesellschaft zwei als "besonders dringlich" erscheinende Bereiche verordnungsfähige Verhandlungs- konzepte vorgelegt: ein neuentwik- keltes empirisch-analytisches Ver- fahren über die Ermittlung von An- haltswerten für den Personalbedarf in psychiatrischen Krankenhäusern und an psychiatrischen Fachabtei-

Psychiatrie:

Der Bund ist am Zug

Iungen an Allgemeinen Kranken- häusern sowie ein Anrechnungsver- fahren von Schülerionen/Schülern der Krankenpflege auf den Stellen- plan der Krankenhäuser.

~ Auf der Basis des von der DKG vorgelegten Berechnungskon- zeptes hätte sich ergeben, daß allein im Bereich der stationären psychia- trischen Versorgung etwa 5500 bis 7000 Mitarbeiter zusätzlich benötigt würden. Kostenpunkt: rund 800 Mil- lionen bis eine Milliarde DM zusätz- lich p. a. Dabei wurde ein Zusatz- personalbedarf allein von mehr als 5000 Pflegekräften veranschlagt; die übrigen Personalfehlstellen entfallen auf Arzte, Diplom-Psychologen, So- zialarbeiter u. a. ·

Die Krankenkassen ließen die Beteiligten wissen (schriftlich und innerhalb der 50 bereits absolvierten Sitzungen), daß sie weder dem Psychiatrie- noch dem Ärzte-Emp- fehlungskonzept zustimmen. Dauer- Ablehnungsgrund auch hier wieder:

absolute Beitragssatzstabilität, per- manente staatlich oktroyierte Ko-

stendämpfung! HC

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Weiterhin, wenn die Sym- ptome nachweislich in gleicher (oder stärkerer) Intensität bereits vor der Arzneimittelgabe auftraten oder wenn sich herausgestellt hat, daß das

Das änderte sich 1992, als durch den Hinweis eines Zeit- zeugen wieder bekannt wur- de, dass sich 1933 im Keller des Hauses ein Gefängnis der SA befunden hatte, das

Auch in Taiwan haben viele Pa- tienten Angst vor der Therapie mit der Nadel und kommen oft erst nach Versagen westlicher Therapiemetho- den oder bei Unverträglichkeitsreak-

Daß man die Gesellschaft als Körper, als Fortsetzung und Potenz- stufe der Reihe Natur — Mensch an- sehen konnte, war eine Folge dieses übergreifenden Denkens, auch, daß

Aufgefordert zu dieser Lebens- vernichtung durch Arbeit waren al- le Betriebsärzte und etwa 25 000 weitere Ärzte, die beim Hauptamt für Volksgesundheit als untersu- chende

So werden fundierte Grundlagen für die Gesprächsführung ver- mittelt, wobei auch die beson- deren Schwierigkeiten mit ausländischen Patienten be- handelt werden. Zahlreiche

Während Kater für das gesamte Gebiet des Deut- schen Reichs eine erhebliche Differenz ermittelte (protestantische Ärzte sollen zu 49,1 Prozent, katholische Ärzte „nur“ zu

Auch in diesem Zusammenhang fällt wieder auf, daß sich die Krankenhausärzte mehr zurück- halten als die Ärzte im niederge- lassenen Bereich — vielleicht deshalb, weil sie