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anchmal sind es zehn Briefe pro Woche, manchmal kommt gar keine Post. Doch immer, wenn die Krankenschwester Susanne Bern- ges an der St.-Antonius-Klinik in Wup- pertal einen der Umschläge mit dem blauen Formular öffnet, steigt ihre Spannung. Denn die Briefe enthalten das bemerkenswerte Eingeständnis, dass jemandem in ihrem Krankenhaus ein Fehler passiert ist.Diese besondere Hauspost ist seit knapp einem Jahr Teil eines Konzeptes, den Umgang mit Pannen zu reformie- ren. Statt darauf zu hoffen, dass Fehler folgenlos oder zumindest unentdeckt bleiben, können Ärzte und Pflegekräfte der Klinik aktiv kleine und große „Bei- nahe-Zwischenfälle“ melden – anonym, wenn sie wollen. „Seit der Einführung gibt es im Durchschnitt eine Meldung pro Tag“, sagt Bernges. Das Wupper- taler Meldesystem ist ein Beispiel, wie sich an einer einzelnen Klinik praktisch umsetzen lässt, was sich der Deutsche Ärztetag und die Kassenärztliche Bun- desvereinigung jetzt bundesweit zum Ziel gesetzt haben.
Ärzten erscheint das Eingestehen von Fehlern bislang eher als Wagnis, das längst nicht jeder eingehen will. Man- cher befürchtet, dass das Reden über ei- gene Pannen dem Vertrauen der Pati- enten schadet. Hinzu kommt, dass ange- hende Ärzte eher dazu erzogen werden, Fehler zu verdrängen oder zu vertu- schen, weil der übliche Reflex darin be- steht, bei einer Panne einen „Schuldi- gen“ zu suchen und zu bestrafen. Im schlimmsten Fall droht zusätzlich ein öffentlicher Skandal in den Medien.
Doch gerade solche Reflexe sorgen dafür,dass Fehler verschwiegen werden – und verhindern, dass ihre Ursachen wirk- sam beseitigt werden. Entscheidend ist es deshalb, einen geschützten Raum zu
schaffen, in dem keine Strafe droht und Anonymität gesichert ist. Nachdem im Ausland solche Meldesysteme für Beina- he-Unfälle, international oft „Critical In- cident Reporting Systems“ (CIRS) ge- nannt, seit Jahren ohne Schaden für die beteiligten Ärzte funktionieren, kom- men die Dinge jetzt auch in Deutschland in Bewegung. Hausärzte können im In- ternet unter www.jeder-fehler-zaehlt.de dazu beitragen, dass nicht jeder Kollege alle Fehler selbst machen muss.
Häufig „Schnittstellenfehler“
Und die KBV kooperiert mit dem seit 2003 etablierten „CIRS“-Projekt der Schweiz (www.cirsmedical.ch/kbv). Dort wird ein Meldesystem in zwei Varianten eingesetzt: Eine Internet-Version sam- melt Fälle aus der ganzen Schweiz, gleichzeitig gibt es in verschiedenen Kliniken lokale CIRS-Gruppen. Die Wuppertaler St.-Antonius-Klinik ist ein Beispiel, wie das Konzept in einer deutschen Klinik funktionieren kann.
Initiator ist Prof. Dr. med. Johannes Köbberling, ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin. Eingeführt hat er das System als Leiter des Zentrums für Innere Me- dizin. Seit seiner Pensionierung Ende April leitet er an der Klinik die Abteilung „Risiko- und Qualitäts- management“ und ist Partner einer Beratungsfirma für Kliniken.
Die Begründung für die Einführung eines geschützten Meldesystems für Fehler „ist schlicht die Sicherheit der Patienten“, sagt Köbberling. Doch er macht keinen Hehl daraus, dass man ei- ner Klinikverwaltung noch andere Ar- gumente bieten muss, um sie zur Unter- stützung solch eines Konzeptes zu moti- vieren. Etwa 20 000 Euro habe der Auf-
bau in Wuppertal gekostet, die laufen- den Kosten lägen bei einigen Hundert Euro im Monat. Finanziert wird das bis- lang mit Geldern einer Stiftung.
Köbberling ist überzeugt, dass sich solche Investitionen innerhalb weniger Jahre für die Klinik bezahlt machen – auch wenn die meisten Meldungen Er- eignisse beschreiben, die für Patienten wie Klinik letztlich folgenlos waren.
Mal wurde ein auffälliger Laborwert übersehen oder ein Medikament ver- wechselt, häufig sind es „Schnittstellen- fehler“: Einträge in Akten fehlen, Ärzte reagieren zu spät auf Hinweise des Pfle- gepersonals. Internationale Analysen zeigen aber, dass es eine lineare Abhän- gigkeit gibt zwischen der Zahl solcher noch folgenlosen Zwischenfälle und der Zahl handfester Schäden.
„Mit anderen Worten: Um seltene Katastrophen zu verhindern, tut man am besten etwas gegen die häufigen Beinahe-Unfälle“, sagt Köbberling.
Derselbe Fehler, der heute harmlos ist, könne morgen zum Glied in einer Kette werden, die in einer Katastrophe endet.
Und das bedeutet dann auch einen er- heblichen finanziellen Schaden. „Kran- kenhäuser sollten eigentlich ein sehr egoistisches Interesse daran haben, Fehler frühzeitig zu entdecken“, sagt Köbberling. Er vermutet, dass über die Haftpflichtversicherer der Druck stei- gen wird, Systeme zur Meldung von Fehlern einzusetzen.
Besser sei es allerdings, solche Syste- me ohne äußeren Anstoß im Konsens mit dem Personal einzuführen, sagt Köbberling. Auch in Wuppertal ist die Skepsis noch nicht ganz überwunden.
Dem Zentrum für Innere Medizin mit etwa 180 Betten gehören etwa zwei Dutzend Ärzte und 60 Pflegekräfte an;
die anderen Abteilungen beobachten noch, was die Folgen sind.
Entscheidend ist aber nicht, dass Fehler gesammelt werden, sondern dass daraus Konsequenzen folgen. In Wup- pertal treffen sich wöchentlich drei Ärzte und zwei Pflegekräfte, um die Meldungen zu bewerten. Die Umset- zung von Maßnahmen kann für das Qualitätsmanagement durchaus Arbeit bedeuten: Kliniken in der Region St.
Gallen haben aus fast 1 500 CIRS-Mel- dungen über 200 Änderungsvorschläge
abgeleitet. Klaus Koch
P O L I T I K
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A1420 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 2020. Mai 2005