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Archiv "Krankenhäuser: Der Aufstand der Ärzte – und wie es dazu kam" (26.12.2005)

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s galt lange Zeit als undenkbar, dass junge Ärztinnen und Ärzte gegen die unverantwortlich langen Arbeitszei- ten und die viel zu niedrigen Gehälter in den Krankenhäusern und Universitätskli- niken aufbegehren. Einerseits war der Konkurrenzdruck unter den Ärzten zu groß. Wer bei seinen Vorgesetzten in Un- gnade fiel, musste befürchten, dass ihm die Karriere verbaut und/oder der

Arbeitsvertrag nicht verlän- gert wurde.Wegen eines Ärzte-

„Überschusses“ drohte gar die Arbeitslosigkeit. Andererseits konnten die stark belasteten Ärzte davon ausgehen, später für die „harten Lehrjahre“

während ihrer Weiterbildungs- zeit entlohnt zu werden. Denn es lockte eine adäquat bezahlte Karriere in der Klinik oder ei- ne lukrative Niederlassung als Facharzt. Die strengen Hierar- chien in Verbindung mit den guten Berufsaussichten er- stickten Widerstände im Keim.

Doch die Rahmenbedin- gungen änderten sich. 1993 wurde die verschärfte gesetzli-

che Bedarfsplanung in der ambulanten Versorgung eingeführt, die – zumindest für Fachärzte – faktisch in den attraktiven Gebieten eine Niederlassungssperre zur Folge hatte. Die Alternative „Niederlas- sung“ rückte dadurch für die meisten Kli- nikärzte in weite Ferne. Hinzu kam, dass die „eigene Praxis“ wegen der strikten Honorar-Budgetierung, die es streng ge- nommen seit 1989 gibt, finanziell unat- traktiver wurde. So wandelte sich der

„Durchlauferhitzer“ Krankenhaus für viele Ärzte zum Dauerarbeitsplatz. Da- durch wurde es aber auch schwerer, lei-

tende Positionen zu besetzen. Die Nach- wuchsärzte verloren ihre Perspektiven.

Im gleichen Zeitraum wurde dem Krankenhaussektor eine erhebliche Pro- duktivitätssteigerung abverlangt. Bei fak- tisch gleich bleibendem Budget wurden von 1990 bis 2001 insgesamt 9,3 Prozent der Krankenhäuser geschlossen und 24 Prozent der Betten abgebaut. Gleichzeitig

stieg die Zahl der Patienten um 20,3 Pro- zent auf 16,6 Millionen jährlich, während sich die Verweildauer um rund 36 Prozent auf 9,8 Tage reduzierte. Für die Ärzte be- deutete dies, in immer kürzerer Zeit im- mer mehr Patienten versorgen zu müssen – eine enorme Arbeitsverdichtung. Zu- sätzlich stiegen die Dokumentations- pflichten. Den lästigen Schreibkram erle- digten viele Ärzte, wenn sie eigentlich schlafen sollten: während der „inaktiven“

Zeiten des Bereitschaftsdienstes.

In diese Gemengelage hinein fällte der Europäische Gerichtshof (EuGH) am

3. Oktober 2000 eine Entscheidung, wo- nach – zunächst bezogen auf spanisches Recht – Bereitschaftsdienst im Kranken- haus zu 100 Prozent als Arbeitszeit zu wer- ten ist. Am 9. September 2003 bestätigte der EuGH das „Simap“-Urteil für Deutschland: Bereitschaftsdienst sei Ar- beitszeit – auch, wenn der Arzt sich in den Stunden, in denen seine Arbeitszeit nicht beansprucht wird, an der Ar- beitsstelle ausruhen darf.

Hoffnung nach dem EuGH-Urteil

Durch das „Simap“-Urteil rückten die überlangen Ar- beitszeiten der Klinikärzte end- lich in das Blickfeld der Öffent- lichkeit. Bei den überarbeite- ten Ärzten weckte der Richter- spruch vor allem Hoffnung:

Wenn die Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit einzustufen sind, dann müssen sie doch auch als solche vergütet wer- den. Der Frust war umso größer, als durchsickerte, dass dies ein Trugschluss war. Denn der EuGH hatte lediglich die „EU-Arbeitszeitrichtli- nie“ ausgelegt.Diese zielt aber nur auf den Arbeitsschutz der Arbeitnehmer. Vergü- tungsfragen werden nicht geregelt.

Der deutsche Gesetzgeber setzte die Vorgabe des EuGH-Urteils zum 1. Januar 2004 um, indem er das Arbeitszeitgesetz entsprechend novellierte. Für bestehende Tarifverträge wurde jedoch eine Über- gangsfrist bis Ende 2005 vereinbart. Die Klinikarbeitgeber bräuchten Zeit, um das Gesetz umzusetzen, hieß es zur Begrün- dung. Das Problem: Um die Folgen der P O L I T I K

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Krankenhäuser

Der Aufstand der Ärzte – und wie es dazu kam

2005 geht als Jahr der Ärzteproteste in die Chroniken ein. Doch noch ist nichts erreicht.

Die Tarifauseinandersetzung geht erst in die entscheidende Phase.

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Gesetzesänderung zu kom- pensieren, seien Tausende zusätzliche Ärzte einzustel- len. Dafür fehlte jedoch das Geld. Erschwerend kam hinzu, dass es inzwischen auch nicht mehr genügend Ärzte gab. Denn viele Nachwuchsärzte waren we- gen der schlechten Arbeits- bedingungen bereits in an- dere Länder oder Berufe geflüchtet. Der sich ab- zeichnende Ärztemangel hatte für die Ärzte auch po- sitive Effekte: Sie waren nun weniger erpressbar, weil schwerer zu ersetzen.

Das revidierte Arbeits- zeitgesetz verbesserte die Arbeitsbedingungen für die Ärzte in den Kliniken nicht. Im Gegenteil: Die wenigen Krankenhäuser, die sich nicht auf die Über- gangsfrist beriefen, streb- ten eine stellen- und ko- stenneutrale Umsetzung der neuen Regelung an.

Dadurch nahm die Ar- beitsverdichtung für die Ärzte weiter zu. Lästig war auch, dass die Ärzte nun zwar jeweils für kürzere

Zeit, dafür aber häufiger im Krankenhaus erscheinen müssen. Die „gefühlte“ Ar- beitszeit habe sich nicht verbessert, klag- ten Betroffene. Und das Schlimmste:Viele Ärzte verdienen seitdem deutlich weniger als bisher. Die Rede ist von bis zu 30 Pro- zent Gehaltseinbußen, die dadurch entste- hen, dass weniger Bereitschaftsdienste als bisher geleistet werden dürfen.

Sparkurs zulasten der Ärzte

Die Situation eskalierte dann an den Hochschulkliniken. Denn anstatt dieser Entwicklung entgegenzuwirken und die Tätigkeit in den Kliniken für den Ärzte- nachwuchs wieder attraktiver auszurich- ten, exerzierten die Länder als Arbeitge- ber einen Sparkurs, der die Klinikärzte be- sonders hart traf. Im Juni 2003 kündigten die Länder zunächst die Tarifvereinbarun- gen zum Urlaubs- und zum Weihnachts- geld, um dann im April 2004 die tariflichen

Regelungen zur Arbeitszeit außer Kraft zu setzen. Für neu eingestellte Ärzte und je- ne, deren Verträge verlängert oder höher gruppiert werden, bedeutete dies: Strei- chung des Urlaubsgeldes, Kürzung des Weihnachtsgeldes auf 60 Prozent und Er- höhung der tarifvertraglichen Wochenar- beitszeit auf 41 bis 42 Stunden (je nach Bundesland). Da die meisten Ärzte befri- stete Verträge abgeschlossen haben, wa- ren schnell sehr viele von dieser Lohnkür- zung um neun bis zehn Prozent betroffen.

Für diese Ärzte war die Schmerzgrenze er- reicht. Nachdem sie das System jahrelang mit unbezahlten Überstunden subventio- niert hatten, empfanden sie die neuen Ar- beitsverträge als Zumutung.

Am 3. September 2004 sorgte zunächst eine kollektive Stellenanzeige von 270 Ärzten der Berliner Charité im Deutschen Ärzteblatt für Aufsehen.Der erste lautstar- ke Protest regte sich in kurze Zeit später in Baden-Württemberg: Am 11. Oktober 2004 riefen die Ärzte der vier Hochschul-

kliniken des Landes ei- nen Warnstreik aus und demonstrierten in der Stuttgarter Innenstadt.

An der Aktion beteilig- ten sich rund 1 000 der 3 000 beim Land be- schäftigten Ärzte – deut- lich mehr als erwartet.

Am 17. Dezember 2004 protestierten knapp 1 000 Ärzte und Pfleger der Philipps-Universität Mar- burg gegen längere Ar- beitszeiten und Gehalts- einbußen. Am 8. März 2005 folgte ein Warn- streik von rund 300 Ärz- ten der Marburger Uni- versitätsklinik.Am 2.Mai legten dann bundesweit 5 000 der insgesamt rund 22 500 Hochschulklinik- ärzte vorübergehend die Arbeit nieder, um sich für eine leistungsgerech- te Vergütung stark zu machen. Diese überwäl- tigende Resonanz auf den Protestaufruf des Marburger Bundes und mehrerer Ärzteinitiati- ven war ein offenkundi- ger Beleg für die Wut,die sich an den Kliniken aufgestaut hat. Den Ländern als Arbeitgebern wurde ein- drucksvoll vor Augen geführt, dass sich die Ärzte nicht alles gefallen lassen. Der vor- läufige Höhepunkt der Aktionen folgte im Sommer 2005: In der ersten Augustwoche beteiligten sich bundesweit 7 000 Hoch- schulklinikärzte an Streiks und Kundge- bungen. Zum nationalen Protesttag am 5. August kamen mehr als 2 000 von ihnen nach Berlin. Die Botschaft: „Wenn sich nichts ändert, sind wir weg.“

Die Aktionen der Universitätsklinik- ärzte übertrafen in mehrfacher Hinsicht alle Erwartungen. Zunächst einmal war das Verständnis der Bevölkerung für die Nöte der Ärzte wesentlich größer als er- wartet. Dazu trug die überraschend ärzte- freundliche Berichterstattung der Medien bei. Auch die Solidarität innerhalb der Ärzteschaft war allen Unkenrufen zum Trotz groß. Innerhalb der Kliniken ent- wickelte sich ein nicht für möglich gehalte- nes neues Wir-Gefühl, über alle Hierar- A

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Jahrelang das System mit Überstunden subventioniert, um dann Gehaltskürzun- gen verordnet zu bekommen: Ärzte der Berliner Universitätsklinik Charité prote- stierten am 28. November 2005 für einen arztspezifischen Tarifvertrag.

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chiestufen hinweg. Nur vereinzelt wurden Fälle bekannt, in denen Chefärzte ihren Assistenzärzten mit OP-Verbot oder Nichtverlängerung ihres Arbeitsvertrages drohten. Vor allem zeigten die Aktionen jedoch, dass Ärzte entgegen allen bisheri- gen Erfahrungen doch bereit sind, in großer Zahl für ihre Interessen auf die Straße zu gehen.

Innerhalb der Klinikärztegewerkschaft Marburger Bund (mb) entwickelte sich ein neues Selbstbewusstsein – mit weitrei- chenden Folgen auch für die Ärzte an den kommunalen Krankenhäusern: Am 10. September 2005 entschied die 108. mb- Hauptversammlung in Berlin, den Tarif- vertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) abzulehnen und die Kooperation mit der Vereinigten Dienstleistungsge- werkschaft (ver.di) zu beenden. Bis dahin hatte ver.di in Vollmacht auch für den mb den TVöD mit dem Bund und den Kom- munen verhandelt (die Bundesländer wa- ren bereits zuvor aus den TVöD-Verhand- lungen ausgestiegen). Nun fühlte sich der mb stark genug, mit den öffentlichen Ar- beitgebern eigenständige Tarifverträge für die Ärzte auszuhandeln. Mit den von ver.di erzielten Verhandlungsergebnissen war der mb völlig unzufrieden gewesen.

Arztspezifische Interessen seien kaum berücksichtigt worden, insbesondere jun- ge Ärztinnen und Ärzte hätten mit Einkommenseinbußen von bis zu zehn Prozent rechnen müssen, hieß es.

16 000 neue Mitglieder für den Marburger Bund

Als der TVöD zum 1. Oktober 2005 den Bundesangestelltentarifvertrag (BAT) ab- löste, stellte sich die Frage, ob die neuen Regelungen auch für die mb-Mitglieder in den kommunalen Krankenhäusern gel- ten. Die Klinikärztegewerkschaft meinte

„Nein“, weil sie den TVöD letztlich nicht unterschrieben habe. Der Verband der kommunalen Arbeitgeber (VKA) meinte

„Ja“, weil der mb am 9. Februar die noch nicht ausformulierten Eckpunkte für den TVöD noch mitunterzeichnet habe. Des- halb sei der TVöD der legitime Nachfolger des BAT, auch für die Ärzte. Dennoch deutete VKA-Präsident Dr. Thomas Böh- le zunächst an, dass die kommunalen Kli- nikarbeitgeber mb-Mitglieder weiter nach BAT bezahlen würden. Dies bescherte

dem Marburger Bund einen beispiellosen Mitgliederzuwachs um mehr als 16 000 Ärzte (plus 20 Prozent) seit dem 10. Sep- tember 2005 auf jetzt mehr als 90 000 Klinikärzte. Ende Oktober revidierte der VKA dann überraschend seinen Kurs und empfahl den kommunalen Klinikarbeitge- bern, auch die mb-Mitglieder dem neuen TVöD zu unterwerfen – offenbar, weil der

BAT für die Arbeitgeber teurer ist als der TVöD. In dieser Frage, BAT- oder TVöD- Vergütung für mb-Mitglieder, bahnt sich inzwischen eine juristische Auseinander- setzung an.

Offensichtlich beeindruckt von den Un- ruhen an den Hochschulkliniken,waren die Länder als erste öffentliche Arbeitgeber bereit, mit dem mb über einen eigenständi- gen Tarifvertrag für Ärzte zu verhandeln.

Die Verhandlungen mit der Tarifgemein- schaft deutscher Länder (TdL) begannen am 15. September 2005 in Stuttgart. Sie sind noch nicht abgeschlossen. Der mb for- dert die Wiederherstellung tariflich gesi- cherter Arbeitsbedingungen und 30 Pro- zent mehr Lohn für die Ärzte.Die TdL ver- weist auf die leeren öffentlichen Kassen.

Um gegen die ins Stocken geratenen Ver- handlungen zu protestieren, organisierte der mb am 2. Dezember Warnstreiks an 20 Universitäten. Einen viel beachteten Ärz- te-Warnstreik hatte es in der Woche zuvor bereits an der Berliner Universitätsklinik Charité gegeben, wo die „Ärzteinitiative Charité“ für einen arztspezifischen Haus- tarifvertrag kämpft (das Land Berlin war Anfang 2003 aus der TdL ausgestiegen).

Falls die TdL weiterhin nicht zu Zuge- ständnissen bereit ist, will der mb im neuen Jahr weitere Streiks an den Universitätskli- niken organisieren. In der Erwartung, dass die ärztefreundliche Stimmung in der Be- völkerung anhält, könnten diese insbeson- dere die Regierungen in Baden-Württem- berg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt empfindlich treffen. Denn dort sind am

26. März 2006 Landtagswahlen. Da die Ministerpräsidenten nach diesem Termin zurückhaltender in ihrer Unterstützung den Ärzten gegenüber sein dürften,will der mb die Tarifverhandlungen mit der TdL un- bedingt vorher abgeschlossen haben.

Ursprünglich hatte der Marburger Bund gehofft,bis Ende 2005 einen Tarifab- schluss mit den Ländern verkünden zu können, weil dann die zweijährige Über- gangsfrist für das Arbeitszeitgesetz ablief.

Das Kalkül der Klinikärzte: Wenn es zum 1.Januar 2006 keinen anders lautenden Ta- rifvertrag gibt, gilt das Arbeitszeitgesetz

„pur“, das heißt, ärztliche Bereitschafts- dienste zählen voll zur wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden – und dann würde es teuer. Diesen Plänen hat die schwarz-rote Bundesregierung am 15. Dezember 2005 einen Riegel vorge- schoben, indem sie die Übergangsfrist auf Drängen der Deutschen Krankenhausge- sellschaft um ein Jahr verlängerte. Die Ar- beitgeber sahen sich immer noch nicht da- zu in der Lage,die Vorgabe „Bereitschafts- dienst ist Arbeitszeit“ mit Neueinstellun- gen von Ärzten und alternativen Arbeits- zeitmodellen umzusetzen – und das, ob- P O L I T I K

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A3562 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 51–52⏐⏐26. Dezember 2005

Das Landesarbeitsgericht Köln verbot die für den 13. Dezember 2005 geplanten Ärztestreiks an den Kliniken der Stadt Köln. Daraufhin zog der Marburger Bund seinen bundesweiten Streikaufruf zurück.Aktionen, wie hier an den Städtischen Kliniken Frankfurt am Main-Hoechst, gab es dennoch.

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Deutsches Ärzteblatt (DÄ): Herr Dr.

Montgomery, täuscht der Eindruck, dass Sie persönlich noch sehr lange dafür gekämpft haben, dass der Marburger Bund (mb) den Tarifvertrag für den öf- fentlichen Dienst (TVöD) bis zum Ende mitverhandelt und dann auch mitträgt?

Montgomery:Das haben Sie richtig be- obachtet. Ich muss einräumen, dass ich die Streikbereitschaft unse-

rer Mitglieder unterschätzt habe. Daher war ich lange Zeit überzeugt, dass es op- portuner sei, den TVöD ge- meinsam mit ver.di weiter zu verhandeln. Denn es gab ja nur zwei echte Alternativen:

Entweder wir verhandeln al- lein – dazu muss man streik- bereit sein und vor allem be- reit sein, zu kämpfen –, oder aber wir verhandeln gemein- sam mit ver.di. Gar nicht zu verhandeln stand nicht zur Diskussion.

DÄ:Die Hauptversammlung am 10. Sep- tember hat den TVöD dann einstimmig abgelehnt . . .

Montgomery:Was den TVöD angeht, so war ein langsames Kippen der Zustim- mung zu erkennen. Der TVöD ist am 9. Februar nur als Eckpunkte-Papier an den Horizont gemalt worden. Es gab ei- ne Tabelle, aber wer zu welchem Zeit- punkt an welcher Stelle zu welchen Be- dingungen in diese „hineinhüpft“, stand nicht fest. Es gab Zusagen der Arbeitge- ber, von denen diese nach und nach ab-

gerückt sind.Am Ende war für uns über- haupt kein Fleisch mehr dran am TVöD.

Und dann hat die Hauptversammlung in Berlin völlig zu Recht entschieden, so wollen wir es nicht.

DÄ:Und das war dann auch das Ende der Kooperation mit ver.di . . .

Montgomery: Die Trennung der Ver- handlungsgemeinschaft mit ver.di wird von vielen als ein Riesending betrachtet.

Dazu muss man sagen, dass unsere Erfah- rung mit ver.di eigentlich ausgesprochen gering war.

DÄ:Warum?

Montgomery:Der mb hatte seit den 60er-Jahren eine Ta- rifgemeinschaft mit der Deutschen Angestellten- Gewerkschaft (DAG). Die- se war ursprünglich gezielt gegen die Gewerkschaft Öf- fentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) aufge- baut worden. Die DAG ver- handelte leistungsorientiert.

Die ÖTV hatte hingegen immer das Ziel, die Schere zwischen den unteren und den oberen Lohngruppen nicht zu groß wer- den zu lassen.2001 hat sich dann die DAG mit der ÖTV zur Vereinigten Dienstlei- stungsgewerkschaft (ver.di) zusammen- geschlossen. Mit ver.di selbst haben wir eine einzige Verhandlungsrunde erlebt, im Jahr 2003. Deren Kern war eine Pro- zessvereinbarung, die zum TVöD führen sollte. Und damit waren wir damals schon nicht sehr zufrieden. Diese Unzufrieden- heit hat im weiteren Verlauf zugenom- men,bis wir schließlich gesagt haben,jetzt beenden wir die Kooperation.

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Interview mit Frank Ulrich Montgomery

„Die Streikbereitschaft unterschätzt“

Der Vorsitzende der Klinikärztegewerkschaft Marburger Bund über Tarifverhandlungen, Arbeitskampfmaßnahmen und überzogene Erwartungen

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wohl der Gesetzgeber von 2003 bis 2009 schrittweise jährlich 100 Millionen Euro mehr zur Einhaltung des Arbeitsschutzes zur Verfügung stellt. Ab dem Jahr 2009 sind das immerhin 700 Millionen Euro mehr als noch 2002.

Mit den kommunalen Arbeitgebern gibt es bislang noch keine Verhandlungen über einen Tarifvertrag für Ärzte. Um dies zu ändern und die VKA an den Verhand- lungstisch zu zwingen,hatte der mb für den 13. Dezember 2005 Ärzte-Streiks an 100 der 700 kommunalen Krankenhäuser ge- plant. Nachdem das Landesarbeitsgericht Köln diese Arbeitskampfmaßnahme per einstweilige Verfügung am 12. Dezember für die Städtischen Kliniken Köln verbot, sagte der mb vorsorglich alle Streiks ab (protestiert wurde vielerorts trotzdem).

Das Gericht begründete das Streikverbot damit, dass der mb den BAT noch nicht gekündigt habe. Daher herrsche Friedens- pflicht. Für die kommunalen Arbeitgeber könnte sich dieser Erfolg vor Gericht als Pyrrhussieg erweisen:Vertritt die zuständi- ge Richterin so doch indirekt die Auffas- sung, dass die Klinikarbeitgeber jene Ärz- te,die mb-Mitglied sind,nicht zwangsweise in den TVöD überleiten dürfen.

Der mb betrachtet die Streiks an den kommunalen Krankenhäusern nur als auf- geschoben. Er hat inzwischen auf das ge- richtliche Streikverbot reagiert und am 17.

Dezember 2005 beschlossen, gegenüber der Vereinigung kommunaler Arbeitge- berverbände den Bundesangestelltentarif- vertrag zu kündigen. „Mit der Kündigung stellen wir eine klare Rechtssicherheit für Ärzte-Streiks in kommunalen Kranken- häusern her, erklärte der mb-Bundesvor- sitzende Dr. med. Frank Ulrich Montgo- mery. Wegen einzuhaltender Kündigungs- fristen seien Ärzte-Streiks für Anfang Fe- bruar 2006 geplant.Mit der Kündigung des BAT wolle der mb allen etwaigen juristi- schen Winkelzügen der Arbeitgeber den Boden entziehen.Vom VKA und von des- sen Präsidenten Dr. Thomas Böhle ver- langte Montgomery, dem Beispiel der TdL zu folgen und in konstruktive Verhandlun- gen mit dem Marburger Bund einzutreten.

In einer Urabstimmung hätten sich 98,7 Prozent der mb-Mitglieder für Streiks in kommunalen Krankenhäusern zur Er- streitung eines arztspezifischen Tarifver- trages ausgesprochen. Montgomery: „Die- ses gewaltige Potenzial sollte Herr Böhle keinesfalls unterschätzen.“ Jens Flintrop

Dr. med. Frank Ulrich Montgomery (53) ist Oberarzt in der Radiolo- gischen Klinik des Uni- versitätskrankenhauses Hamburg-Eppendorf.

Foto:privat

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