Für den medizinhistorisch Interessierten ist Dresden immer eine Reise wert. Jetzt zeigt das Deutsche Hygiene- Museum eine Ausstellung mit dem Titel „Das große Sterben – Seuchen machen Geschichte“, die man keines- falls verpassen sollte, da die mühsam zusammengetra- genen Dokumente und wei- tere Exponate in solch um- fassender Darstellung sicher- lich lange nicht mehr zu se- hen sein werden.
Historischer Überblick
Die Ausstellung zeigt ei- nen historischen Überblick über die großen Seuchen in ihrem sozialpolitischen Kon- text ausschließlich anhand von Originalia, die nur für drei Monate als Leihgabe zusammengekommen sind, dann aber wieder in Archi- ven und, wenn überhaupt, in einzelnen Museen verstreut wiederentdeckt werden kön- nen. Besonders lobenswert ist, daß die Ausstellungsma- cher gerade nicht opportuni- stisch auf den öffentlich- keitswirksamen Zug der
„neuen Seuchen“ aufge- sprungen sind. Sie haben sich vielmehr strikt an den wenig spektakulären Auftrag ge- halten, die Auswirkungen der Seuchen (von 1348 bis 1995), insbesondere im Hin- blick auf die Ausgrenzung
von Erkrankten, eingehend zu behandeln. Andererseits will sich die Ausstellung nicht auf die Medizingeschich- te beschrän-
ken, sondern über die Ein- beziehung des ökono- mischen und sozialen, po- litischen und religiösen Umfeldes der Epidemi- en generel- le Tendenzen aufzeigen.
Die Aus- stellung be- ginnt mit ei- ner Darstel- lung der Pest in Europa vom 14. bis zum 20. Jahr- hundert. Ge- zeigt werden Handschrif- ten aus dem späten Mit- telalter, un- ter anderem eine Ori- ginalversion des Gutach-
tens, das die Mitglieder der medizinischen Fakultät der Universität von Paris im Auf- trag König Phillips von Frankreich im Jahr 1348 ver- faßten.
Die dort gegebenen Er- klärungen und Therapievor- schläge waren in sich logisch, aber wenig effektiv. Die mei-
sten Menschen suchten des- halb Hilfe im Gebet an Pestheilige, deren bekannte- ste die Heiligen Sebastian und Rochus waren.
Die zweite Abteilung be- handelt die Pocken unter dem besonderen Gesichts- punkt der Entwicklung und Durchsetzung der Schutz-
impfung im 18. und 19. Jahr- hundert, aber auch des mas- siven Widerstands dagegen.
Beide Seiten, Impfbefürwor- ter und Impfgegner, setzten im Kampf gegeneinander die jeweils modernsten Medien ein, die von kolorierten Kupferstichen satirischen In- halts aus dem 18. Jahrhun- dert bis zu Zeitschriften mit dem Titel „Impfgegner“ im 20. Jahrhundert reichen.
Die Cholera wird als Seuche der Industriegesell- schaft des 19. Jahrhunderts dargestellt. Sie betraf vor al- lem die Wohnquartiere der sozialen Unterschichten in den neuen städtischen Bal- lungszentren. Die enge Ver- bindung der damals soge- nannten „sozialen Frage“ mit der Seuche führte zu zahlrei-
chen künstlerischen Stellung- nahmen, wozu Zeichnungen Alfred Rethels und Arnold Böcklins gehören.
Die Tuberkulose wird in der vierten Abteilung unter dem besonderen Aspekt der Wahrnehmung einer Krank- heit dargestellt. Dieser Blick bietet sich an, da die Tuber- kulose seit der Romantik und noch im 20. Jahrhundert als die Krankheit des künstleri- schen Genies und der Bo- heme galt. Gleichzeitig und unabhängig davon wurde dieselbe Krankheit jedoch als typische Krankheit der so- zialen Unterschichten, als Krankheit des Proletariats, als „Volksfeind Nr. 1“ wahr- genommen.
Aufklärung und Prophylaxe
Neuland betritt die Aus- stellung in der fünften und letzten Abteilung. Unter dem Titel „AIDS in Afrika“
möchte sie Einblicke in die vielfältigen und differenzier- ten Bemühungen verschie- dener Organisationen um AIDS-Aufklärung und -Pro- phylaxe geben. Hier werden neben den konventionellen Medien Plakat und Bro- schüre ein Flannelograph gezeigt, vor allem aber auch Skulpturen des Künstlers Zephania Tshuma aus Zim- babwe. In dieser Abteilung wird vor allem deutlich, wie gängige Muster der Seuchen- Aufklärung aus den Indu- strienationen völlig an dem Bewußtseins- und Erfah- rungshorizont der Masse der Betroffenen in den Entwicklungsländern vor- beigehen.
Die Ausstellung ist noch zu sehen bis zum 10. März 1996 im Deutschen Hygiene- Museum Dresden. Der Kata- log zur Ausstellung (Jovis Verlags- und Projektbüro Berlin) umfaßt 352 Seiten mit 320 Abbildungen, davon 110 in Farbe (in der Aus- stellung 35 DM als Paper- back, gebunden im Buchhan- del 58 DM). Martin Wiehl A-400 (64) Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 7, 16. Februar 1996
V A R I A GESCHICHTE DER MEDIZIN
Seuchen machen Geschichte
Von der Pest bis AIDS
Bildtafeln zur Erkennung und Verhütung der Tuberkulose aus der Lehrmittelproduktion des Deutschen Hygienemuseums, Lithographien um 1925, Leipzig Foto: Martin Wiehl