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Archiv "Eradikation und Tilgung von Seuchen" (17.11.2006)

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 46⏐⏐17. November 2006 A3115

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as Auftreten der so genannten Vogelgrippe in Südostasien und die Gefahr ihrer weltweiten Ausbreitung hat die Diskussion um die Möglichkeiten der Eradikation beziehungsweise Tilgung bestimmter Seuchen und Seuchenerreger erneut entfacht. Der Wunsch, gefährliche Seuchen auszurotten, ist ein alter Traum der Menschheit. Als Inbegriff einer Seuche galt in früheren Zeiten die Pest hervorgerufen durch Yersi- nia pestis. Eine der bekanntesten Seuchenzüge der Pest war der „Schwarze Tod“ im 14. Jahrhundert, der allein in Europa 25 Millionen Menschen das Leben kostete.

Die Pest hat inzwischen durch hygienische Maßnah- men und die Behandlung mit Antibiotika ihren großen Schrecken verloren. Trotzdem konnte sie bis heute nicht völlig ausgerottet werden, sodass immer wieder kleinere Seuchenherde aufflackern. Aber auch andere Infektionskrankheiten mit Seuchencharakter bedrohen weiterhin Mensch und Tier (1, 2).

Seuchenerreger

In der Infektionsmedizin versteht man unter Seuchen die Anhäufung von gefährlichen Infektionskrankheiten mit der Tendenz zur zahlenmäßigen geographischen Massen- ausbreitung über einen bestimmten Zeitraum. Seuchen sind weiterhin dadurch gekennzeichnet, dass für sie das Kausalitätsprinzip voll zutrifft (siehe Henle-Kochsche Postulate, 1840: Kriterien für die Anerkennung eines Mi- kroorganismus als Erreger einer Infektionskrankheit [8]).

Seuchenerreger sind stets Erreger von Infektions- krankheiten; aber nicht alle Erreger von Infektions- krankheiten sind Seuchenerreger. Der Erreger einer In- fektionskrankheit wird in der Regel erst dann zum Seu- chenerreger, wenn er neben seiner Infektiosität folgen- de Eigenschaften besitzt:

> erhöhte Virulenz prägt die Schwere des Krank- heitsverlaufs

> hohe Kontagiosität führt zu einer raschen Aus- breitung der Infektion

> hohe Widerstandsfähigkeit (Tenazität) gegen äußere Einflüsse

> an Stelle der erhöhten Kontagiosität kann auch die Übertragung durch lebende Vektoren, in denen eine Vermehrung der Erreger stattfindet (Arthropoden-Seu- chen), eine Rolle spielen.

Während Infektiosität (Mindestinfektionsdosis) und Virulenz eines Erregers die Gefährlichkeit einer Infek- tionskrankheit bedingen und für das Zustandekommen eine unentbehrliche Voraussetzung sind, führen Konta- giosität, Tenazität und biologische Übertragung zur ÜBERSICHT

Eradikation und Tilgung von Seuchen

Anton Mayr

ZUSAMMENFASSUNG

Einleitung: Seuchen sind gefährliche Infektionskrankheiten mit der Tendenz zur Massenausbreitung. Methoden: Dis- kussion ausgewählter Literatur. Ergebnisse: Für eine Eradi- kation müssen die folgenden Kriterien erfüllt werden: Der Erreger hat nur einen Wirt und ist genetisch stabil. Er darf nicht ubiquitär sein, wird ohne Zwischenwirt übertragen und führt stets zur Krankheit. Es darf weder eine persistie- rende, latente Infektion noch Subtypen geben. Die WHO hat sich zum Ziel gesetzt, Masern bis 2010 zu eradizieren.

Durch Schutzimpfungen und globale staatliche Hygiene- maßnahmen können derartige Erreger ausgerottet werden (zum Beispiel Pocken). Im Gegensatz dazu kann die Poliomyelitis aufgrund ihrer Epidemiologie nur durch strikt durchgeführte Impfstrategien als Krankheit unter Kontrolle gebacht werden (Tilgung), eine Eradikation ist dagegen nicht möglich. Windpocken, Mumps, Röteln, Herpes zoster, HIV, Pest, Tollwut und Influenza A können voraussichtlich nicht eradiziert werden.

Dtsch Arztebl 2006; 103(46): A 3115–8.

Schlüsselwörter: Masern, Pocken, Poliomyelitis, Schutzimp- fung, Epidemiologie

SUMMARY

ERADICATION AND ELIMINATION OF EPIDEMICS Introduction: An epidemic is an accumulation of dangerous infectious diseases with a tendency to mass dissemina- tion. One example of successful eradication is that of small- pox (variola). Methods: Selective literature review. Results:

Successful eradiation requires the following prerequisits:

The pathogen has only one host and is genetically stable, the pathogen is not ubiquitous, the infection occurs without an intermediate host and is always pathogenic, no per- sistent and latent infection nor subtypes exist, and the disease must be preventable by vaccination. The WHO has a target of eliminating measles by 2010. Polio is unlikely to be eradicated, even with a stringent vaccination strategy since vaccination eliminates the disease but not the infec- tious agent. It is unlikely that chicken pox, mumps, rubella, herpes zoster, HIV, plaque, rabies, or influenza can be eradicated. Dtsch Arztebl 2006; 103(46): A 3115–8.

Key words: measles, smallpox, poliomyelitis, protective vac-

cination, epidemiology Lehrstuhl für

Mikrobiologie und Seuchenlehre, Tierärztliche Fakultät, Ludwig-Maxi- milians-Universität, München (Prof. Dr.

med. vet. Dr. h. c. mult.

Mayr)

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A3116 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 46⏐⏐17. November 2006

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Anhäufung und Verbreitung von Krankheitsfällen und bestimmen damit den Seuchencharakter. Zu einer Seu- che kann es kommen, wenn der Erreger lediglich eine der letztgenannten Eigenschaften besitzt.

Eradikation und Tilgung

Unter Eradikation versteht man die Vernichtung, das heißt Ausrottung, des Infektionserregers. Gelingt dies weltweit, treten auch die betreffenden Infektionskrank- heiten nicht mehr auf, Erreger und Krankheit sind aus- gerottet.

Ein typisches Beispiel für eine gelungene Eradikati- on sind die Pocken des Menschen (2, 3). Die Variola- Pocken haben die Menschen periodisch immer wieder heimgesucht. So kann ein Pockenausbruch eine unge- schützte Bevölkerung in der Regel um mehr als ein Drittel dezimieren. Die Überlebenden sind lebenslang immun und durch Pockennarben gekennzeichnet (4, 5).

Die Menschenpocken wurden 1978 von der WHO als weltweit ausgerottet erklärt, was 1980 zur Einstel- lung der Pflichtimpfungen gegen die Menschenpocken führte. Die originären Pocken des Menschen sind seit- her nicht mehr aufgetreten. Dieser einmalige Erfolg der Eradikation einer so gefährlichen, die ganze Mensch- heit bedrohenden Seuche war nur durch das nahtlose Zusammenwirken von weltweit konsequent durchge- führten Schutzimpfungen möglich, kombiniert mit staatlichen Maßnahmen sowie durch die Besonderhei- ten der Epidemiologie, Pathogenese und Immunologie des Variolavirus.

Eine Eradikation muss immer den Erreger wie auch die Krankheit betreffen. Der Erreger, das Variolavirus, hatte nur einen Wirt, den Menschen. Die Übertragung erfolgte direkt von Mensch zu Mensch ohne Zwischen- wirte. Wirksame Impfstoffe sind weltweit verfügbar.

Beim Mensch führt die Infektion mit Variolaviren ohne Therapie immer zur Krankheit; es treten keine klinisch inapparenten, persistierend latent verlaufenden Infek- tionen mit Erregerausscheidung auf.

Die Eradikation der Menschenpocken bestätigte die Richtigkeit der theoretisch aufgestellten Kriterien für eine erfolgreiche Ausrottung von Seuchen. Die Schlüs- selkriterien sind dabei:

> der Erreger hat nur einen Wirt

> der Erreger darf in der Umwelt nicht ubiquitär sein

> der Erreger wird direkt ohne Zwischenwirte über- tragen

> im Wirt führt die Infektion stets zur Krankheit

> persistierende latente Infektionen gibt es nicht

> der Erreger darf nicht in verschiedenen serologi- schen Typen und Subtypen auftreten und muss ge- netisch stabil sein

> die Krankheit kann durch weltweite Schutzimp- fungen verhindert werden.

An Stelle von Eradikation wird häufig auch der Be- griff Tilgung verwendet. Tilgung betrifft aber nur die Krankheit, ist also enger gefasst als Eradikation, denn dieser Begriff bezieht sich auf Erreger und Krankheit (2, 6, 7, 8). Im internationalen Schrifttum wird diesbe-

züglich kein Unterschied gemacht, was zu Missver- ständnissen führen kann.

Die Poliomyelitis ist ein typisches Beispiel für eine Infektionskrankheit des Menschen, dessen Tilgung zwar durch strikte globale und regelmäßig durchgeführ- te Pflichtimpfungen möglich sein könnte, dessen Eradi- kation aber unter den heutigen Gegebenheiten nicht möglich ist. Die Poliomyelitis des Menschen kommt in drei Serotypen vor, tritt weltweit auf, kann in bis zu 95 Prozent der Fälle klinisch inapparent verlaufen und wird meist durch fäkal-orale Schmier- seltener Tröpf- cheninfektionen verbreitet. Zusätzlich können auch ko- prophage Fliegen und Schaben Poliomyelitis indirekt übertragen. Immunsuppressive Personen scheiden das Virus bis zu einem Jahr lang aus. Dies erschwert die Ausrottung der Polioviren des Menschen.

Auch die aviäre Influenza (klassische Geflügelpest, Subtyp H7N7 und H7N1; Vogelgrippe H5N1) ist eine Infektionskrankheit, bei der nur unter bestimmten Be- dingungen die Tilgung möglich ist. Die klassische Ge- flügelpest (aviäre Influenza, Subtyp H7N7 und H7N1) gilt seit mehreren Jahrzehnten offiziell als getilgt, weil die letzten Berichte über einen großen Seuchenzug aus den Jahren 1928/29 stammen. Zahlreiche Wissen- schaftler sind mit dieser Interpretation nicht einver- standen und haben vor möglichen neuen Ausbrüchen gewarnt, weil Influenzaviren in verschiedenen Varian- ten bis in die jüngste Zeit bei Haus- und Wildgeflügel (Hühner, Enten, Puten, Papageien) und auch Mamma- liern (Ägypten 1960, USA 1979) nachgewiesen wur- den. Gewarnt wurde auch deshalb, weil Impfungen ge- gen die klassische Geflügelpest verboten sind (8).

Influenza-Pandemien beim Menschen sind seit Jahr- hunderten bekannt und haben Millionen von Men- schenleben gefordert. So deuten auch die jüngsten Aus- brüche der Vogelgrippe, verursacht durch hochpatho- gene aviäre Influenzaviren, darauf hin, dass die bei Hühnern üblichen Subtypen H5 und H7 offenbar auch unmittelbar auf den Menschen übertragen werden kön- nen. 1997 wurden in Hongkong bei dem vom Subtyp H5N1 verursachten Ausbruch der Vogelgrippe 18 Men- schen infiziert, von denen 6 starben. Im Februar 2003 wurden in China erneut drei Menschen mit dem H5N1- Subtyp infiziert, zwei starben. Zu Beginn des Jahres 2004 trat wiederum ein H5N1-Subtyp auf, der sich rasch über große Gebiete Südostasiens ausbreitete und inzwischen bereits auch Südeuropa (Griechenland, Ita- lien) und kurz darauf auch Deutschland (15. Februar 2006) sowie verschiedene westeuropäische Länder er- reicht hat (BAnz: 16. Februar 2006, S. 989). Bedingt durch die sommerlichen Temperaturen sind in den letz- ten Monaten keine bedeutenden Fälle von H5N1-Infek- tionen aufgetreten.

Von den gefährlichen Infektionskrankheiten bei Mensch und Tier erfüllen die Masern die für eine Era- dikation notwendigen Kriterien, insbesondere weil sie nicht zu persistierenden inapparenten Infektionen führen. Entsprechend ist die Eradikation der Masern anlässlich eines WHO-Expertentreffens im Juli 1996 als nächstes Ziel einer Eradikation benannt worden.

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Weltweit sind Masern-Impfstoffe mit hoher Immuno- genität und guter Verträglichkeit verfügbar. Virusreser- voire außerhalb des Menschen sind nicht bekannt. Seit über zwei Jahrzehnten gibt es Erfahrungen mit effekti- ven Impfprogrammen und Überwachungsstrategien.

Masern ist eine hochansteckende fieberhafte, exan- thematische Viruserkrankung, die nur beim Menschen vorkommt. Schwere Krankheitsverläufe mit Komplika- tionen in Form von Pneumonien, Mittelohrentzündun- gen, Bronchitiden sowie der lebensbedrohenden akuten, postinfektiösen Enzephalitis (bei 0,1 Prozent aller Er- krankungen) sind möglich. Darüber hinaus kommt es bei etwa 1 pro 100 000 Erkrankungen zum Auftreten der subakuten sklerosierenden Panenzephalitis (SSPE), die immer zum Tod führt. Die Eliminierung der Masern bis zum Jahre 2010 ist deshalb Ziel der WHO. Um dies zu erreichen, sollten 95 Prozent der Bevölkerung durch Impfung bereits im Kindesalter geschützt werden.

Alle anderen gefährlichen Viruskrankheiten, wie beim Menschen Windpocken, Mumps, HIV-Infektio- nen, Pest, bei Mensch und Tier Tollwut und Influenza A sowie bei Tieren Maul- und Klauenseuche, Rinderpest, Pferdepest, Geflügelpest und Schweinepest erfüllen nicht die für eine Eradikation notwendigen Kriterien (10, 11, 12). Dies gilt auch für die Röteln und Herpes zoster, deren Erreger zwar nur den Menschen befallen, dafür aber eine Wildviruszirkulation aufweisen und zu- dem zu persistierenden Infektionen führen können.

Kongenital mit dem Rötelnvirus infizierte Kinder, die klinisch unauffällig erscheinen, können das Virus auf empfängliche Kontaktpersonen übertragen.

Schutzimpfung

Einer der Grundpfeiler einer Eradikation wie auch der Tilgung von Infektionskrankheiten ist die Schutzimp- fung, bei der nach einer Grundimmunisierung durch re- gelmäßige, beispielsweise jährliche Auffrischungsimp- fungen ein Schutz gewährleistet wird.

Eine Grundimmunisierung besteht aus zwei Impfun- gen im Abstand von drei bis fünf Wochen. Für die Grundimmunisierung müssen so genannte Ganzimpf- stoffe, die den gesamten inaktivierten Erreger oder aus- reichend attenuierte, vermehrungsfähige Erreger ent- halten, eingesetzt werden. Es ist dabei nicht notwendig, die jeweils aktuellen Variationen, wie gegenwärtig bei den jährlichen Influenzaimpfungen, zu berücksichti- gen.

Konsequent durchgeführte Schutzimpfungen, be- ginnend mit einer Grundimmunisierung, gefolgt von regelmäßigen Auffrischungsimpfungen, führen zu ei- ner belastungsfähigen Immunität der Population und verhindern das „Sesshaftwerden“ eines Seuchenerre- gers, seine Vermehrung im Impfling und seine Aus- scheidung. Mit derartigen prophylaktischen Schutz- impfungen kann und sollte schon vor einer akuten In- fektionsbedrohung begonnen werden. Von der entste- henden Grundimmunität der Population profitieren auch Nichtgeimpfte. Für die Tilgung einer Infektions- krankheit sind ebenfalls wirksame allgemeine Schutz- impfungen notwendig.

In beiden Fällen – Eradikation oder Tilgung einer Seuche – bildet das nahtlose Zusammenwirken von konsequent durchgeführten allgemeinen Schutzimp- fungen, kombiniert mit staatlichen seuchenhygieni- schen Maßnahmen, die Voraussetzung für einen Erfolg.

Die je nach Impfstoff unterschiedlich hohe Rate der Impfkomplikationen (beispielsweise 1 : 10 000) lassen sich durch die gleichzeitige Verabreichung von Para- munitätsinducern aus attenuierten, inaktivierten Tier- pockenviren vermeiden. Mit dieser Maßnahme wird in der Tiermedizin seit Anfang der 1980er-Jahre erfolg- reich gearbeitet (8). Paramunitätsinducer sind in der Humanmedizin leider noch nicht verfügbar. Unter dem Eindruck von möglichen bioterroristischen Aktionen und der Gefahr, die von Geflügelinfluenza-Infektionen auf den Menschen ausgeht, wird zurzeit intensiv an der Zulassung entsprechender Präparate gearbeitet.

In der Tiermedizin ist eine wirksame, professionell durchgeführte Schutzimpfung, die zu einer Grundim- munität der gefährdeten Population führt, allerdings keine Alternative zur Keulung, sondern ein notwendi- ger zentraler Bestandteil einer erfolgreichen Seuchen- bekämpfung. Das heißt, kranke Tiere müssen gekeult, ansteckungsverdächtige dagegen geimpft werden. Auf diese Weise wird verhindert, dass nicht erkrankte, wert- volle Zuchttiere vernichtet werden. Dieses Vorgehen ist auch ein Beitrag zum Tierschutz, dem alle verpflichtet sind.

Die Vogelgrippe ist ein aktuelles Beispiel, wie schwierig es sein kann, eine theoretisch mögliche Til- gung erfolgreich durchzuführen. Da die klassische Ge- flügelpest, der wichtigste Vertreter der aviären Influen- zaviren, offiziell als getilgt gilt, sind seit Jahrzehnten Impfungen verboten. Impfstoffe sind deshalb nicht ver- fügbar.

Die Entwicklung des aktuellen Seuchengeschehens mit der ständig steigenden Gefahr, dass durch die Über- tragung auf den Menschen und mögliche Mutationen ein für den Menschen hochpathogener Subtyp entsteht, hat gezeigt, dass die bisher üblichen Methoden der Massentötung von Geflügel und Quarantäne nicht aus- reichen. Das kontinuierliche Vordringen der Seuche bis nach Europa beweist, dass zusätzliche Maßnahmen dringend notwendig sind. An erster Stelle stehen hier- bei die bereits beschriebenen, konsequent durchgeführ- ten Schutzimpfungen.

Durch die Keulung erkrankter Geflügelbestände so- wie die Quarantäne und zusätzliche Impfung an- steckungsverdächtiger Bestände mit den üblichen vete- rinärpolizeilichen Maßnahmen kann die Bekämpfung einer Seuche unterstützt werden.

Wie bereits erwähnt, erfüllen Masern alle Kriterien für eine mögliche Eradikation. Wie schwierig es ist, die- ses Ziel zu erreichen, veranschaulicht die Lage in Deutschland. Trotz intensiver Bemühungen sind im er- sten Halbjahr 2005 wieder gehäuft Masern aufgetreten.

96 Prozent der an Masern erkrankten Personen war nicht geimpft. Einer der Hauptgründe für die unzureichende Durchimpfung sind Impfgegner, die auch in der Ärzte- schaft zu finden sind und die Bevölkerung verunsichern.

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Sehr bedenklich ist auch die Beobachtung, dass die Be- reitschaft für die zweite Impfung bedeutend niedriger ist (Deutschland durchschnittlich 51 Prozent; Schwan- kungsbreite von 13 Prozent bis 77 Prozent). Diese Zah- len verdeutlichen, dass die Eradikation der Masern ge- genwärtig vor allem von einer intensiven Aufklärung der Bevölkerung abhängt. Dazu gehört beispielsweise, dass Ärzte und Patienten über die Bedeutung einer Grundim- munisierung aufgeklärt werden. Es genügt nicht, in den Impfempfehlungen lediglich zwei Dosen zu erwähnen, es muss gleichzeitig darauf hingewiesen werden, dass ein belastbarer Impfschutz erst drei bis vier Wochen nach der zweiten Impfung erwartet werden kann. Unter diesen Gesichtspunkten sollte die Einführung der globa- len Pflichtimpfung gegen Masern diskutiert werden.

Der dringlichen Forderung der Infektionsmediziner, Schutzimpfungen zur Bekämpfung und Tilgung von Infektionskrankheiten gezielt einzusetzen, steht die Angst eines großen Teiles der Bevölkerung vor Impfri- siken und Impfkomplikationen gegenüber. Sie wird manchmal durch die Warnungen von Ärzten verstärkt.

Neben medizinischen Bedenken spielen hierbei sicher zwei wichtige Gründe eine nicht geringe Rolle. Bei Impfungen müssen zum einen umfangreiche Vorschrif- ten (wie Information der Impflinge, Anamnese zur Impffähigkeit und Dokumentation) beachtet werden, die zeitlich einen Aufwand erfordern, der durch die ak- tuelle Gesundheitsreform kaum abgedeckt wird. Zum anderen ist die rechtliche Lage des Impfarztes beim Auftreten von Schäden schwierig.

Die verfügbaren Impfstoffe in der Human- wie in der Tiermedizin sind sehr gut verträglich. Das Impfrisi- ko steht deshalb in keinem Verhältnis zu dem Nutzen für den Einzelnen, aber vor allem auch für die Allge- meinheit (Empfehlungen der STIKO, regelmäßige Ak- tualisierungen). Durch die Abschaffung der Impfpflicht in der Humanmedizin ist weitgehend in Vergessenheit geraten, dass Schutzimpfungen erst nicht in erster Linie dem individuellen Schutz dienen. Im Vordergrund stand und steht der Schutz der Allgemeinheit. Man spricht in diesem Zusammenhang vom „Aufopferungs- anspruch“ der Gemeinschaft an den Einzelnen. Um die

Impfmüdigkeit der Ärzte einzuschränken, sollte dabei aber auch an eine „Aufopferungspflicht der Gemein- schaft für den Einzelnen (Arzt)“, also eine Erleichte- rung der Arbeitsbedingungen und eine rechtliche Absi- cherung der Ärzte, gedacht werden.

Eine weitere Verbesserung der Impfprophylaxe im Sinne einer Senkung oder Vermeidung von Nebenwir- kungen und Erhöhung des Immunschutzes kann durch ei- ne Paramunisierung (Stimulierung des paraspezifischen Immunsystem im Sinne einer Regulierung), wie sie in der Tiermedizin seit circa zwei Jahrzehnten bekannt ist, er- zielt werden. Geeignete Paramunitätsinducer sind gegen- wärtig in der Zulassung für die Humanmedizin.

Interessenkonflikt

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.

Manuskriptdaten

eingereicht: 25. 10. 2005, revidierte Fassung angenommen: 6. 5. 2006

LITERATUR

1. von Bormann F: Neuzeitliche Verschiebung des Seuchenbestan- des. Dtsch Med Wschr 1971; 96: 1197–9.

2. Mayr A: Umwelt und Seuchengeschehen. Zbl Hyg 1990;190:

1–12.

3. Mayr A: Durch Katzen auf den Menschen übertragbare Tier- pocken. Dtsch Arztebl 1991; 88: 669–70.

4. Herrlich A: Die Pocken. 2. Auflage Stuttgart: Thieme Verlag 1967.

5. Mayr A: Geschichtlicher Überblick über die Menschenpocken (Va- riola), die Eradikation von Variola und den attenuierten Pockenstamm MVA. Berl Münch Tierärztl Wschr 1999; 112:

321–8.

6. Petrischtschewa P: Die Rolle der natürlichen Biozoenosen in der Übertragung menschlicher Krankheitserreger. Moderne Med 1971; 1: 101–5.

7. van Regenmortel, MHV et al.: Virus taxonomy: classification and nomenclature of viruses: seventh report of International Commit- tee on Taxonomy of Viruses. San Diego: Acadamic Press 2000.

8. Rolle M, Mayr A (Hrsg): Medizinische Mikrobiologie, Infektions- und Seuchenmedizin. 7. Auflage Stuttgart: Enke Verlag 2002.

Anschrift des Verfassers

Prof. Dr. med. vet. Dr. h. c. mult. Anton Mayr Weilheimer Straße 1

82319 Starnberg

E-Mail: mayr@starnberg-mail.de

REFERIERT

Homocystein-Senkung bessert nicht kognitive Leistungsfähigkeit

Bei älteren Menschen gehen hohe Homocystein-Spiegel mit einer Ein- schränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit einher. In einer zweijähri- gen doppelblinden placebokontrollierten randomisierten Studie mit 276 gesunden über 60-Jährigen mit einem Homocystein-Spiegel von über 13 mmol/L erfolgte eine Homocystein senkende Behandlung. Diese bestand

aus der täglichen Gabe von 1 000 mg Folsäure, 500 mg Vitamin B12 und 10 mg Vitamin B6 beziehunsgsweise Placebo. Die Probanden ab- solvierten Kognitionstests zu Beginn der Studie sowie nach ein und zwei Jahren. Obwohl durch die Vitaminsupplementierung der Homocystein- Spiegel in der Verumgruppe signifikant abnahm, stellten die Autoren kei- ne signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen beim Abschneiden

der Kognitionstests fest. w

McMahon JA, Green TJ, Skeaff CM et al.: A controlled trial of homocysteine lowering and cognitive performance. N Engl J Med 2006; 354: 2764–72.

E-Mail: murray.skeaff@stonebow.ac.nz

Referenzen

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