Nur Impfungen bieten einen wirksamen Schutz vor Polio.
Foto: BKK-Bundesverband/GP
VARIA FEUILLETON
Das VVuncer Rettung vor
des Impfens schrecklichen Seuchen
Infektionskrankheiten wie Diphtherie oder Tuberkulose scheinen in Deutschland fast in Vergessenheit geraten. In Rußland herrscht dagegen zur Zeit eine Diphtherie-Epidemie, vor der man sich durch Impfung dauerhaft schützen kann. Im folgenden Artikel werden die zahlreichen Aspekte des Themas „Impfen" beleuchtet.
1. Geschichte: Die großen Seuchen haben zahllose Krie- ge und Schlachten entschie- den. Von den Perserkriegen bis hin zu Schlachten im Zwei- ten Weltkrieg. Ganze Reiche wie die der Inkas und Azteken sind den Pocken zum Opfer gefallen. Die Pocken haben drei Jahrtausende hinweg die Menschheit geplagt, bis end- lich 1906 der Erreger identifi- ziert wurde. Erstaunlicher- weise gab es schon vorher durch scharfe Beobachtung und mutiges Umsetzen eine Schutzimpfung. (Der engli- sche Arzt Edward Jenner führte im Jahr 1786 die erste erfolgreiche Pockenimpfung in Europa durch.) 1980 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Pocken für aus- gerottet erklären können, ein großer Erfolg des Impfens!
Am 30. Juni 1995 sollten die letzten Erregerstämme ver- nichtet werden. Sie waren seit 1978 in Hochsicherheitslabors konserviert worden. Der Exekutivrat der WHO in Genf hat dies jedoch kürzlich um mindestens ein Jahr ver- schoben.
2. Literatur: Mit dem zür- nenden Gott Apoll auf einem Felsen sitzend, Todespfeile abschnellend, beginnt schon die „Ilias" Homers. Die No- velle wurde durch die Pest zur Kunstgattung, durch Boc- caccios „Decamerone". Hier hat die tödliche Bedrohung nicht nur Worte, sondern neue Formen des Ausdrucks gefunden. Gabriel Gärcia Märquez' „Die Liebe in den Zeiten der Cholera" war vor wenigen Jahren in den Best- sellerlisten. Jeremias Gott- helfs „Die schwarze Spinne"
gehört hierher ebenso wie Albert Camus' „Die Pest".
3. Kunst: Reisende frühe- rer Tage begegneten Pestsäu- len, Marterin und Kapellen nicht mit dem Blick für künst- lerische Gestaltung, sondern als Mahnung an den Schwar- zen Tod. Ebenso erinnern die Pestfriedhöfe daran. „Gut- leuthäuser" — einst vor den To- ren der Stadt — zeugen vom Ausgegrenzt-
sein der Aus- sätzigen eben- so wie die Mauerspalten in einigen Kirchen, die den Ausge- sperrten we- nigstens den Blick auf das Tabernakel ermöglichten.
Die „neue Seuche" die- ses Jahr- zehnts, AIDS, setzt wieder
gestalterische Kräfte der wältigung frei. Voran Nicki de Saint Phalles Büchlein
„AIDS — you can't catch it holding hands", das sie 1986 für ihren immunschwäche- kranken Sohn gemalt und ge- schrieben hat.
4. Soziologie: Durch das Massensterben wurden die Überlebenden der Seuchen des Mittelalters unermeßlich reich. Aus dieser Zeit stammt auch eine neue Qualität der Judenverfolgung. Man hatte ihnen vorgeworfen, die Brun- nen mit dem Gift der Krank- heit zu vergiften. Damals be- gann der Exodus nach Osten und die Verdrängung in die Unterschicht der kleinen Händler und Geldverleiher.
Andererseits entvölkert heute AIDS ganze Landstri- che Zentralafrikas. Über die
Folgen des Sterbens der El- tern, besonders der Mütter, in den Slums der Großstädte wie im Innern Afrikas wird noch gar nicht genug ernst- haft nachgedacht.
Das Impfen ist eine zu- tiefst biologische Methode. Es geht genau den Weg der Na- tur, indem dem Körper abge- schwächte Erregerstoffe ver- abreicht werden. Diese Impf- stoffe sind so fein ausgeklü- gelt, daß das Immunsystem des Geimpften sich mit dem Erreger auseinandersetzt und Abwehrstoffe bildet, ohne daß die Krankheit auftritt. So
ist ein sicherer Schutz ge- währt, wenn die „echten"
Krankheitserreger — Viren wie Bakterien — den Körper angreifen. Reaktionen auf Impfungen sind selten, und wenn welche auftreten, sind sie zumeist relativ harmlos.
Am häufigsten ist eine km Lfi stige Fieberreaktion. Anders ist das, wenn ungeimpfte Menschen eine der Infekti- onskrankheiten durchmachen müssen. Da sind Komplikatio- nen häufig. Schädigungen durch Röteln bei Neuge- borenen müssen nicht mehr sein! Hirnhautentzündung bei Mumps, Gehirnsubstanzent- zündungen mit bleibenden Folgen sowie schwere Mittel- ohrentzündungen bei Masern, all das muß niemand mehr seinen Kindern und Enkeln zumuten.
Gegen all diese Kompli- kationen können Menschen heute wirksam geschützt wer- den: durch Impfen! Es ist in Angesicht der Geschichte wie ein Wunder! Die Erkrankun- gen an Kinderlähmung in den Niederlanden (Epidemien 1978 und 1992/93) lehren ein Weiteres: Je älter der Körper, der befallen wird, desto schwerer sogar der Verlauf!
Das ist viel zu wenig bekannt.
Die Diphtherie-Erkran- kungswelle in Rußland tobt nicht mehr hinter einem einst Eisernen Vorhang, durch den die Ausbreitung gehindert würde. Experten erwarten ei- ne Zunahme von Diphtherie- fällen in Europas Mitte durch die intensiven Kontakte durch Reisen und Handel.
Die Krankheit war aber „ver- gessen" hierzulande, nach- dem das letzte „Hoch" 1948 zu verzeichnen gewesen war.
Das Reisen hat dem ein- zelnen klar gemacht, daß er bei Kontakten in anderen Ländern und unter anderen sozio-ökonomischen Verhält- nissen auch Krankheiten per- sönlich ausgesetzt ist, die man in Deutschland nicht mehr kennt. So hat das Interesse an der eigenen Gesundheit und Unversehrtheit ganz wesent- lich zu einem Impfboom bei- getragen.
War es bei den Pocken noch gesetzlicher Zwang, der zur Ausrottung weltweit führte, so ist es heute das Ver- trauen in die Einsicht aller, daß, nur wenn alle ausrei- chend geschützt sind, die Krankheitserreger von Diph- therie, Wundstarrkrampf, Kinderlähmung, Keuchhu- sten, Masern, Mumps, Rö- teln, Tuberkulose, Typhus, Hepatitis A, Hepatitis B, Tollwut, Frühsommermenin- goencephalitis, Haemophilus influenzae B und Pneumo- kokken kein Durchkommen mehr haben.
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Jörg G. Veigel Facharzt für
Allgemeinmedizin Mooshütter Weg 2 26441 Jever Be-
A-3010 (100) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 44, 3. November 1995