• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Grübeleien im Dunkeln" (08.10.1981)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Grübeleien im Dunkeln" (08.10.1981)"

Copied!
5
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Grübeleien im Dunkeln

Ein Arzt erlebt sich als Patient

Meine eigentliche Krankheit war ja fast geheilt, und dieses hier hatte mir überhaupt keine Be- schwerden gemacht und war nur nebenbei von dem jungen Arzt entdeckt worden. Nun, ich war Mediziner und konnte die Bedeu- tung in etwa abschätzen. Wel- ches Vertrauen zur ärztlichen Kunst erfordert es aber vom Laien, wenn er sich wegen fest- gestellter Befunde, welche er selber gar nicht bemerkt, me- dizinischen Maßnahmen unter- ziehen soll.

Ich dachte an meine blinden Patien- ten, welche Jahrzehnte das zu leiden hatten, was ich jetzt nur einige Stun- den oder vielleicht Tage ertragen mußte. Da ist die Elisabeth im Nach- bardorf, seit über 20 Jahren blind.

Bescheiden und anspruchslos lebt sie im Kreis ihrer Familie. Wenn die Jungen im Urlaub sind, wird sie zu entfernten Verwandten gebracht. In der fremden Umgebung hatte sie sich fast jedesmal einen Knochen- bruch zugezogen.

Doch da ist noch die Anna aus mei- nem Dorf, die ich bereits blind in meine Betreuung übernommen hat- te. Wenn man sie nach ihrem Erge- hen fragt, antwortet sie: „Mir fehlt nichts, ich bin gesund." Sorgfältig zählt sie ihre Schlaftabletten ab, die allein es ihr ermöglichen, sich den Tag-und-Nacht-Rhythmus zu erhal- ten. Mit 92 Jahren ist sie von einer erstaunlichen geistigen Beweglich- keit. Kürzlich mußte ich ihr ein Mittel gegen Erbrechen geben, da sie mit dem Wagen zur Konfirmation einer ihrer Urenkel in eine größere Stadt gebracht werden sollte. „Lies mir mal vor, was mir der Doktor da ver- schrieben hat", befahl sie ihrer Tochter. Diese las: „Reisekrankheit, Schwangerschaftserbrechen . . ."

„Was, schwanger", unterbrach sie die Greisin, „was denkt der Kerl von mir, von wem soll ich denn schwan- ger sein, mein Mann ist doch erst zwei Jahre tot!"

. . . damit Sie

keine kalten Füße kriegen!

Plötzlich Stimmen, Wagenrollen und Geklirr in meinem Zimmer: „Herr Doktor, wir bringen das Abend- essen." Der Schreck fuhr mir durch die Glieder. „Kein Problem", ant- wortete mir eine helle, junge Stim- me. Aha, Schwester Kläre, die mich am Nachmittag schon fleißig ge- tropft hatte, um die Pupillen für den Eingriff entsprechend zu erweitern.

Ein Kichern antwortete mir, als ich im Dunkeln tastend an ihren Körper geriet. Ich saß quer auf der Bettkan- te, und sie schob mir die Pantoffeln Man führte meine Hand zur Klingel

und ermahnte mich sorgsam, ja nicht mein Bett ohne Begleitung zu verlassen. Dann war ich allein. Drau- ßen ein strahlendheller Sonnentag, doch ich befand mich in völliger Dunkelheit, mit beiderseits dick ver- bundenen Augen.

Vorsichtig begann ich meine Umge- bung zu ertasten. Rechts die Wand, das Taschentuch, links der Nacht- tisch mit der daran befestigten Klin- gel, das Telefon und das kleine Tran- sistorradio. Ich schaltete ein: In Tü- bingen war eine Dame 107 Jahre alt geworden. 1913 hatte sie bereits ei- nen internationalen Preis erhalten.

(Damals war ich noch nicht ein- mal auf der Welt, und wie alt mag sie wohl gewesen sein, als die er- sten Altersbeschwerden begannen.) Dann Wetterbericht (interessiert mich jetzt wenig). Drei Kilometer Stau auf der Autobahn bei Stuttgart (interessiert mich jetzt noch weni- ger), dann Rockmusik (konnte ich schon immer nicht leiden). Ärgerlich schaltete ich wieder ab. Grübeln war das einzige, was mir blieb.

1927

(2)

Ein Arzt erlebt sich als Patient

über die baumelnden Beine: „Damit Sie keine kalten Füße kriegen."

Da war plötzlich noch eine männli- che Stimme, der Pfleger: „Bier oder Tee Herr Doktor?" Die Frage war überflüssig. Von dem Blütentee der letzten Tage hatte ich reichlich ge- nug, und der Hopfensaft würde mei- ne Nerven beruhigen. Ich tastete nach dem Glas und stieß auf etwas Weiches, Kaltes und zog erschreckt meine Hand wieder zurück. „Ist eine Banane, die bekommen Sie hinter- her. Wollen Sie eine Gurke?" „Die müssen Sie mir aber kleinschnei- den, sonst kann ich sie mit meinen dritten Zähnen nicht beißen." (Diese verdammte unehrliche Fernsehre- klame mit dem Haftpulver und dem ungehinderten Biß in den knackigen Apfel.)

Beim ersten Biß ins Leberwurstbrot mit der harten Kruste kam es dann auch zu einer kleinen Katastrophe.

Doch man war hilfreich und besorgt und meinte nur, daß man dies auch hätte vorher sagen können. Einmal geriet ich noch mit dem Finger in die Leberwurst, doch der Rest der Mahl- zeit verlief harmonisch. Zufrieden und gesättigt legte ich mich wieder in mein Bett zurück.

Ich schaltete den Transistor wieder ein: Wieder diese Rockmusik. Der Stau bei Stuttgart hat sich auf fünf Kilometer verlängert. Da sitzen sie nun in ihren fahrbaren Blechkästen, nervös, ungeduldig auf die Uhr schauend, am Vordermann klebend, damit sich keiner hineinzwängt, im- mer in der Angst, von hinten ange- fahren zu werden, und immer in der Sorge, zu spät am Ziel zu sein. Ich liege derweil hier im Dunkeln und habe viel Zeit, so viel Zeit wie in den letzten 30 Jahren nicht mehr, noch nicht einmal im Urlaub, Zeit zum Denken und zum Grübeln.

Meine Frau stand zweimal vor mir Angefangen hatte das ganze vor einigen Wochen, als ich meine Frau nachmittags im Garten in ihrem blauen Kleid gleich zweimal vor mir stehen sah. Am nächsten Morgen

vor der Garage sah ich meinen Weg durch zwei Mauern versperrt, die wie von Geisterhand zurückwichen, wenn ich auf sie zuging. Mit zuge- kniffenem Auge versuchte ich noch einige Rezepte und Formulare aus- zufüllen, doch dann war mir klar: Du bist arbeitsunfähig und das erste Mal in deinem Leben ernstlich krank.

Ich erinnerte mich. Die Mutter einer unserer Helferinnen hatte vor Jahren eine Abducens-Parese, welche nach vier Monaten plötzlich wieder ver- schwunden war. Vor 15 Jahren hatte unser Bürgermeister eine Augen- muskellähmung, welche sich als Hirnmetastase bei unbekanntem Pri- märtumor entpuppte und ihm ein qualvolles Ende bescherte. Vor acht Wochen hatte auch unser Briefträ- ger eine Augenmuskellähmung, wel- che sich nach sechs Wochen wieder zurückgebildet hatte. Gründlicher Check-up war nicht zu umgehen.

Von der Blutsenkung bis zum Com- puter-Tomogramm war alles normal.

Was blieb, war die Augenmuskelläh- mung und eine noch nicht abge- klärte Gesichtsfeldeinschränkung.

„Vaskulär bedingt", war die vage Diagnose. Das Damoklesschwert der kleinen Metastase oder des kleinen Tumors schwebte vorerst noch über mir.

Der Augenarzt, ein junger Mann, frisch von der Klinik, übergab mich erst einmal seiner Orthoptistin („Die wird Ihnen helfen"). Sie war ein klei- nes quicklebendiges Persönchen mit eng anliegenden Jeans und rot- blond wallendem Engelhaar und flitzte wie ein Teufelchen auf ihrem Rollschemel vor mir hin und her. Mal wurde das rechte Auge abgedeckt, mal das linke, mal beide. Ich mußte Taschenlampen fixieren, mal rot, mal grün, mal weiß. Punkte, Gitter, schräge und senkrechte Kreuze blitzten an der Wand auf, und nach 45 Minuten verließ ich den Raum wieder mit einer Prismenfolie hinter dem Brillenglas.

Ich sah wieder normal, wenigstens fast normal. Wenn ich durch die Tür ging, war der linke Türrahmen im-

mer leicht gebogen und der rechte gerade, doch daran konnte man sich gewöhnen. Glücklich schaute ich aus dem Fenster meines Zuges mit beiden Augen in die Landschaft, die in voller Blüte stand, und genoß die- sen Anblick frohen Herzens. Der Kol- lege hatte mich zwar eindringlichst zur Nachuntersuchung und Kontrol- le des nicht ganz klaren Hinter- grundbefundes ermahnt, doch zu- nächst war ich zufrieden.

Nur wenn es dem Chef recht ist Das Bier, das so gut geschmeckt hatte, meldete sich. Ich überlegte.

Die Hausschuhe standen vor dem Bett, bis zur Naßzelle waren es nur wenige Schritte. Das müßte doch al- lein zu schaffen sein. Doch dann erinnerte ich mich wieder an die energischen Worte des Chefs und tastete nach der Klingel. Der Pfleger nahm mich am Arm, und in meinem Eifer prallte ich prompt gegen die Wand. „Können Sie mir nicht eine Urinflasche ans Bett hängen?" „Ich glaube nicht, daß das dem Chef recht ist." „Kümmert der sich denn um jede Urinflasche?" — „Haben Sie eine Ahnung, wie genau der ist."

Nach einigem Hin und Her klappte es denn, und ich hatte meinen Willen.

Eins war mir inzwischen klargewor- den: der Wille des Chefs durchdrang das ganze Haus vom Oberarzt bis zur letzten Putzfrau. „Das sieht der Chef nicht gern." „Das will der Chef so haben." — war fast jeder zweite Satz. Gestern meinte eine der Schwestern: „Herr Doktor, was Ge- naueres gibt es nicht; der schneidet noch die letzte Erbse durch." Mir als Patient konnte das nur recht sein.

Hierher geschickt hatte mich der Au- genarzt. Die Lähmung bildete sich langsam zurück, und die Doppelbil- der fingen an zusammenzurücken.

Doch der festgestellte Gesichtsfeld- ausfall bestand nach wie vor. Jetzt wurden die Pupillen maximal erwei- tert und ein Spiegel zwischen die Lider geklemmt. Dann traf mich der Lichtstrahl. Verkrampft saß ich auf meinem Stuhl, unmöglich, das Auge

(3)

mit dem eingeklemmten Spiegel zu schließen. Der Blendung war nicht zu entgehen, sie wurde immer uner- träglicher. Mit einem leichten Räus- pern versuchte ich auf die unange- nehme Situation aufmerksam zu ma- chen. „Es ist gleich vorüber", sagte der Kollege und drehte ungerührt mit ruhiger Hand weiter an dem Spiegel hin und her. Vor lauter Blen- dung spreizten sich mir reflektorisch die Zehen beider Füße.

Dann klärte man mich auf. Eine bla- senförmige Abhebung der oberen Schichten der Netzhaut von der Pe- ripherie bis zum Äquator, eine soge- nannte Retinoschisis. Es gibt zwei Möglichkeiten: nichts zu unterneh- men, mit der Gefahr, daß das Auge seine Sehfähigkeit verliert, Opera- tion mit Aufschneiden des Bulbus und ungewissem Erfolg und als drit- tes die Laserstrahlen. „Eine Sache für meinen früheren Chef".

Die Privatassistentin empfing mich bei der Untersuchung in der Klinik, elegant, gepflegt, frisches, angeneh- mes Parfüm, Alter schwer abzu- schätzen, vielleicht schon jenseits der Fünfzig, aber sicher noch nicht jenseits von Gut und Böse. Ihre Stimme war faszinierend, mit einem außerordentlich einschmeichelnden weiblich-mütterlichem Tonfall, wo- bei sie sich einer exakten Sprech- weise bediente. Die quälende Proze- dur kannte ich nun schon zur Genü- ge, und ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen. Doch sie wußte Bescheid. Von Zeit zu Zeit kam ihre Hand aus dem Gedränge der Apparate hervor und strich mir tröstend über die Wange. Die enor- men Möglichkeiten seelischer Be- einflussung, welche eine Ärztin ha- ben kann, wurden mir hier erstmals bewußt.

Ich hatte mich immer gewundert, mit welcher Leichtigkeit meine Frau mit Patienten fertig wird, mit denen ich selbst die größten Schwierigkeiten habe. Ist es weibliche List oder weib- liches Einfühlungsvermögen? Wahr- scheinlich von jedem etwas. Gott ja, meine Frau. Ich liege hier im Dun- keln und denke an die attraktive Pri- vatassistentin, während sie, nicht

weniger attraktiv, jetzt in der vollen Sprechstunde sich nicht nur mit ih- ren, sondern auch mit meinen Pa- tienten herumplagt. Ohne ihren Ein- satz wäre diese Krankheit eine Kata- strophe geworden.

Mischung

von Generalstäbler und Künstler Nachdem man alle nur denkbaren ophthalmologischen Apparaturen an meinen Augen ausprobiert und sich schon ein ganzer Aktendeckel mit Befunden gefüllt hatte, kam der Chef. Er war eine imponierende Per- sönlichkeit, grazile Gestalt, großer Kopf, durchdringende menschliche Augen, Berliner oder Brandenbur- ger Klang in der Stimme, welche mich an meinen Vater erinnerte. Sei- ne Hand war zart, ruhig und sicher, wie man sie bei einem Augenarzt erwartet. In seiner Gegenwart er- starb jedes Gespräch, und nur er hatte etwas zu sagen. Trotzdem wirkte er nicht wie ein „Halbgott in Weiß", sondern mehr wie eine Mi- schung von Generalstabsoffizier und Künstler. Er soll übrigens den Teufelsspiegel erfunden haben, mit dem mich der junge Kdllege so ge- quält hatte und bei dessen Benut- zung die Privatassistentin mir liebe- voll tröstend die Wange gestreichelt hatte.

Ich muß wohl eingeschlafen sein. Ob es draußen noch hell war, oder war es bereits tiefe Nacht? Ich griff nach dem Transistor. Der Stau bei Stutt- gart hatte sich inzwischen aufgelöst.

Der Papst war heute nachmittag auf den Champs Elysees mit dem Hub- schrauber gelandet. Er hatte sich verspätet, und dreiviertel Stunde mußten die Menschen, sogar Herr Giscard und dessen Anhang, in der Sonne stehen und warten. Es erfüll- te mich mit einer gewissen Genugtu- ung, daß auch diese Zeitmenschen untätig herumstehen mußten, so wie ich jetzt untätig im Bett liege und grübele. Doch vielleicht hat Herr Giscard auch gegrübelt und sich sei- ne Begrüßungsansprache noch ein- mal durch den Kopf gehen lassen.

Oder schütteln solche Leute das ein- fach aus dem Handgelenk, wie es manchmal den Anschein hat?

„Ein vernünftiger Patient"

Meine Gedanken schweifen zurück auf die Stunden vor der Dunkelheit.

Wann ich an die Reihe käme, konnte mir niemand sagen. Ich hatte mir sicherheitshalber einen spannenden Krimi mitgenommen. Doch damit kam ich bei der resoluten Schwester Klara schlecht an. „Ihre Pupillen sol- len erweitert werden, und das Lesen verengt sie. Am besten stecken Sie das Buch weg, der Chef sieht das nicht gern." Ich las das Kapitel noch zu Ende und starrte in die Luft. Alle 15 Minuten kam Schwester Klara und tropfte mein Auge. Ob der Ein- griff wohl schmerzen wird, wird man mich betäuben, wird das lange dau- ern? Meine diesbezüglichen Fragen hatte man ausweichend unbestimmt beantwortet. Das unbestimmte Sit- zen und Warten steigerte die Span- nung bis zur Unerträglichkeit.

Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Die Pupillen waren bereits völ- lig erweitert, und soviel konnte das Lesen auch nicht ausmachen. Um meinen guten Willen zu zeigen, dun- kelte ich das Zimmer mit den Vor- hängen ab und schloß die innere Tür. Dann las ich in aller Ruhe mei- nen Krimi weiter, und wenn ich ein Geräusch an der Außentür hörte, versteckte ich ihn wie ein Schuljun- ge hinter meinem Rücken. „Sie sind ein vernünftiger Patient", sagte lo- bend Schwester Klara. Bis zum Mit- tagessen hatte ich den Krimi aus und döste dann vor mich hin. Auf was hatte ich mich da eingelassen!

Daß das kein sogenannter kleiner Eingriff werden würde, war mir in- zwischen klargeworden.

Meine eigentliche Krankheit, die Ab- ducens-Lähmung, war ja fast ge- heilt, und dieses hier hatte mir über- haupt keine Beschwerden gemacht und war nur nebenbei von dem jun- gen Augenarzt entdeckt worden.

Nun, ich war Mediziner und konnte die Bedeutung in etwa abschätzen.

Welches Vertrauen zur ärztlichen Kunst erfordert es aber vom Laien, wenn er sich wegen festgestellter Befunde, welche er selber gar nicht bemerkt, medizinischen Maßnah- men unterziehen soll. Ich denke nur DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 41 vom 8. Oktober 1981 1929

(4)

Ein Arzt erlebt sich als Patient

an die vielen Frauen mit einem ver- dächtigen Pap-Snnear oder die Über- redungskünste, die man für notwen- dig gehaltene Endoskopien anwen- den muß, oder die Non-compliance bei manchen Hochdruckkranken.

Trommelfeuer mit Laser

Plötzlich steht die Privatassistentin mit meinem Morgenmantel vor dem Bett. „Herr Doktor, es geht los!" Das Herz fällt mir in die Hose, und ich verziehe mich erst einmal mit einer Entschuldigung auf die Naßzelle.

Anschließend versuche ich mit ei- nem kleinen Gespräch meine Gal- genfrist zu verlängern, doch da un- terbricht sie mich: „Dafür haben wir jetzt keine Zeit, Herr Doktor, der Chef wartet." Oh Gott, soll das viel- leicht in Hetze geschehen? Im Auf- zug frage ich vorsichtig: „Hat der Chef denn überhaupt Mittagspause gemacht?" „Wir haben den ganzen Tag gearbeitet und zusammen eine halbe Stunde in der Kantine geges- sen", ist die knappe Antwort. Das hatte mir gerade noch gefehlt, ein nervöser, überarbeiteter Mann, der mich mit Laserstrahlen beschießt!

Im Vorraum höre ich ein eigenartig klickendes Geräusch durch die Tür, dann wird ein junges Mädchen mit schwarzer Brille herausgeführt, das aber sonst einen ganz munteren Ein- druck macht. Jetzt bin ich an der Reihe. Das Gerät ist nicht größer als die anderen, die ich schon kennen- gelernt habe. Zufrieden lächelnd, in sich ruhend sitzt der Chef dahinter.

Ein Stein fällt mir vom Herzen. „Be- vor der erste Schuß kommt, sage ich Ihnen Bescheid, Sie haben nichts zu befürchten, es tut nicht weh." Ich stütze mein Kinn auf, der bekannte Spiegel wird mir aufgesetzt, die Pri- vatassistentin hält mit zwei Händen meinen Kopf, und ich spüre mit leichtem Prickeln, wie sich ihr weib- licher Körper an meine rechte Seite lehnt. Doch da kommt schon der er- ste Schuß, ein kurzes Aufblitzen, kei- ne Schmerzen. War das alles? — Doch dann ging es erst richtig los.

Schuß auf Schuß blitzte in immer kürzeren Abständen, ein wahres

Feuerwerk fuhr durch meinen Bul- bus. Krampfhaft bemühte ich mich, die vorgeschriebenen Blickrichtun- gen einzuhalten, und hatte eine höl- lische Angst, daß durch eine falsche Bewegung der Schuß an die falsche Stelle geraten könnte. Kamen die Blitze zu schnell hintereinander, wurde die dauernde Blendung zum Schmerz. Die Privatassistentin hatte ich längst vergessen. Die Hände hat- te ich zu Fäusten verkrampft, das linke Knie fing an zu zittern. „Ist was los?" fragte der Chef. Ich murmelte etwas zwischen den Zähnen von ei- ner steifen Wirbelsäule und der Cox- arthrose. „163" las er von einem Zählgerät ab.

Dann ging es wieder los. Diesmal zählte ich mit. Als ich über 100 ange- langt war, fing das linke Knie wieder an zu zittern. Das ganze war mir wie eine Ewigkeit erschienen, doch auf dem Zimmer zurück stellte ich fest, daß nur etwa 30 Minuten vergangen waren. Dann begann die Finsternis.

Das freundlich lächelnde Gesicht der Privatassistentin war das erste, was mich wieder im Licht begrüßte.

Die Freude dauerte allerdings nicht lang. Der Optiker brachte mir eine Lochbrille an, ein schwarzes Gestell mit zwei winzigen Öffnungen in der Mitte, um die Bewegung des Bulbus auszuschalten. Lesen und schreiben war nicht nur verboten, sondern un- möglich. Statt im Dunkeln, grübelte ich jetzt im Halbdunkel. Dankbar be- grüßte ich das größere Radiogerät, das meine Frau mir mitbrachte.

Auch durch die Lochbrille bot sie einen äußerst erfreulichen Anblick, keineswegs am Boden zerstört, son- dern munter und quicklebendig.

Eine überraschende Papstrede Die Übertragung der Papstrede vor der UNESCO mit allem Drumherum fesselte mich einige Stunden. Sie war als bemerkenswerte Rede ange- kündigt und so auch von mir emp- funden worden. Allerdings nicht we- gen der Appelle zur Pflege der Fami- lie, zur moralischen und ethischen Verantwortung der Wissenschaftler, zum Abbau der Rüstungen, War-

nurig vor der Selbstzerstörung der Menschheit durch einen Atomkrieg usw. .. Das waren Aussagen, wel- che man von ihm erwartete, und ei- gentlich Selbstverständlichkeiten.

Nein, was ich bemerkenswert fand, war die Einleitung der Rede. Er zi- tierte Aristoteles und andere griechi- sche Philosophen und als einzigen Christen Thomas von Aquin. Von Gott, von Jesus Christus und von der Bibel war überhaupt kein Wort zu hören. Die christlichen Religionen erwähnte er einmal in einem Neben- satz und entschuldigte sich sofort, daß er sie als deren Repräsentant ja wenigstens habe erwähnen müssen.

Er stellte den Menschen als Maßstab aller Dinge in den Mittelpunkt seiner Rede und bezeichnete ihn als Schöpfer alles Geistigen.

Mehrfach betonte er: „Alles Geistige geht vom Menschen aus." Bisher war ich es gewohnt, eher umgekehrt zu hören (der Mensch als Werkzeug Gottes bzw. alle Erkenntnis kommt von Gott). Man darf natürlich nicht vergessen, an wen sich die Rede richtete, an die Delegierten einer Vereinigung von Künstlern und Wis- senschaftlern aus allen Ländern der Erde, Geister, welche überwiegend im naturwissenschaftlichen Denken verhaftet waren und oft auch ande- ren Religionsgemeinschaften ange- hörten.

Trotzdem finde ich die Aussage des Oberhauptes der größten christli- chen Kirche, daß alles Geistige vom Menschen ausgeht überraschend.

Letzten Endes sind das Alte und das Neue Testament ja Ausfluß des menschlichen Geistes, ebenso auch die geistigen Inhalte der anderen großen Religionen wie des Islam oder des Buddhismus. Empfindet sich dieser Papst, der sich im eige- nen Haus so streng konservativ gibt, über den Religionen stehend, oder war dies diplomatische Taktik, um seine moralischen und ethischen Forderungen auch bei den Nicht- christen anzubringen?

Abends um halb zehn machte der Chef seine Visite. Es stellte sich her- aus, daß auch er die Rede gehört

(5)

hatte. Bewundernswert, wenn man so souverän über seine Zeit verfü- gen kann. Bei der Abschlußuntersu- chung kommt er noch einmal auf die zurückgebildete Abducens-Parese zu sprechen. Er war lange bei den Pathologen tätig gewesen und be- schrieb mir den langen Weg dieses Nerven vom Kerngebiet der Medulla bis zur Orbita. Er sei ein äußerst empfindlicher Parameter für alle möglichen Störungen, die auf die- sem langen Weg auftreten können.

„Wenn man heute nichts gefunden hat, besagt das nicht, daß nicht doch etwas da ist, das man erst später feststellen kann."

Als ich meine dritten Zähne bekam und als mein linkes Hüftgelenk zu streiken begann, sprach ich vom Knistern im Gebälk. Hat jetzt die Zeitbombe bei mir angefangen zu ticken? Dr. med. H.W.

ZITAT

Schicksalsfrage

„Es würde uns wenig nüt- zen, wenn wir die sozialpoli- tische Front halten und viel- leicht sogar noch mehr sta- bilisieren könnten, im Kampf an der Kostenfront aber wei- tere schwere Einbrüche hin- nehmen müßten. Hier sieht es im Augenblick nicht gut aus, und eine Stabilisierung ist sicher sehr schnell erfor- derlich. Wenn das nicht ge- lingt, kann der Kostenan- stieg zur Schicksalsfrage für das gesamte System der Krankenversicherung und speziell der privaten Kran- kenversicherung werden."

Dr. jur. Heinz Bach, Vor- standsvorsitzender des Ver- bandes der privaten Kran- kenversicherung, Dortmund, anläßlich der Jahresmitglie- derversammlung 1981 sei- nes Verbandes in Rottach- Egern

1. Rechtspolitische Grundsätze Am 1. Juli 1977 ist das Erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familien- rechts vom 14. Juni 1976 in Kraft getreten. Ein Reformschwerpunkt ist der Versorgungsausgleich. Er folgt bekanntlich dem Grundsatz:

Soweit für die Ehepartner oder ei- nen von ihnen während der Ehe An- wartschaften oder Aussichten auf Versorgung wegen Alters- oder Be- rufs- oder Erwerbsunfähigkeit be- gründet oder aufrechterhalten wor- den sind, steht dem Ehegatten mit den wertniedrigeren Anwartschaften oder Aussichten als Versorgungs- ausgleich die Hälfte des Wertunter- schiedes zu. Unabhängig vom Gü- terstand werden die in der Ehezeit

.von den Ehegatten erworbenen An- wartschaften und Aussichten auf ei- ne Versorgung einander gegenüber- gestellt. Übersteigen die des einen Ehegatten diejenigen des anderen, so erhält letzterer die halbe Dif- ferenz, so daß beide Ehegatten für

die Ehezeit in ihrer Versorgung gleichgestellt sind.

Drei Jahre nach Inkrafttreten des Eherechtsreformgesetzes ist festzu- stellen, daß der Versorgungsaus- gleich zu einer der familienpolitisch umstrittensten, wirtschaftlich bela- stendsten und rechtlich ungeklärte- sten Rechtsinstitutionen gehört, die das Familienrecht je hervorgebracht hat. Der Versorgungsausgleich hat nämlich erhebliche wirtschaftliche und soziale Auswirkungen für den Betroffenen bis hin zur Existenz- frage.

2. Gesetzliche Grundlagen

2.1 Die gesetzlichen Grundlagen fin- den sich in den §§ 1587 bis 1587 p BGB. Der Versorgungsausgleich vollzieht sich primär öffentlich- rechtlich. Der Ausgleich soll sich nämlich grundsätzlich für den aus- gleichberechtigten Ehegatten öf-

Versorgungsausgleich nach

Ehescheidung bei Mitgliedschaft in berufsständischen

Versorgungseinrichtungen

Ulrich Kirchhoff

Der „Versorgungsausgleich nach Ehescheidung bei Mitgliedschaft in berufsständischen Versorgungseinrichtungen" ist für eine große Zahl der Mitglieder berufsständischer Versorgungseinrichtungen von sozialpolitischer, rechtspolitischer und wirtschaftlicher Bedeutung, da — nach einer geschätzten Scheidungsquote der Mitglieder — etwa jede dritte Ärztin oder Arzt betroffen sein kann. Dabei sind bürgerlich- rechtliche, landesrechtliche, selbstverwaltungsrechtliche und höchst- persönlich-finanzielle Bedingungen zu berücksichtigen. Der Verfasser versucht zunächst eine Bestandsaufnahme und legt dann Vorschläge zu einer Lösung der mit dem Versorgungsausgleich verbundenen Probleme vor.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 41 vom 8. Oktober 1981 1931

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

[r]

Seine politische Heimat wurde der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE). Er wurde Kreisverbandsvorsitzender des Heimkehrerverbandes Duisburg. Als solcher war er

Ich darf einen hier stellvertretend nennen: Siegfried von Feuchtwangen, Hoch- meister (aus Franken), hat nach Fertigstellung der Marienburg im Jahre 1309 diesen Hoch- meistersitz

Unkritisch und ärgerlich. Einen goldenen Schnitt werden allenfalls eini- ge wenige skrupellose Fach- ärzte und die EDV-Industrie machen. Verlierer werden all diejenigen sein,

Immerhin lassen sich zwei spezifische Gründe dafür erkennen, dass die falsch fahrenden Personen offenbar nicht jederzeit realisieren, dass sie sich auf einer Autobahn

Zeichne das Wort kann mit mehreren Farben nach und sprich leise dazu.. Zeichne das Wort konnte mit mehreren Farben nach und sprich leise

Nur bei der schmerzfreien, primär kalzi- fizierenden Pankreatitis, der Muko- viszidose und der Hämochromatose kann prinzipiell auf ein operatives Vorgehen verzichtet werden; bei

Dies ist aus prothetischer Sicht aufgrund der Achsrichtung aber oft nicht möglich, besonders im Oberkiefer- Frontzahnsegment, weil Schraubenkanäle dann labial sichtbar werden?.