ZWEITES DEUTSCHES FERNSEHEN
Die Information:
Bericht und Meinung
HÖRFUNK UND FERNSEHEN
Es fängt ganz harmlos an.
In der besten Sendezeit — von 19.30 bis 21 Uhr
— störte dieser
erheblich unter die Haut jedes Normalverbrauchers von alko- holischen Getränken gehende Streifen das sonst um diese Zeit übliche Fernsehverhalten. Plötz- lich wurde wohl manchem, der sich noch nie Gedanken über sein Trinkverhalten gemacht hatte, bewußt, daß vielleicht auch bei ihm — oder bei seiner Frau — oder bei seinen heran- wachsenden Kindern — et- was schon nicht mehr stim- men könnte mit dem bisher ge- wohnheitsmäßigen Alkoholkon- sum.
Deshalb schien es nur begreif- lich, wenn viele dieser Normal- verbraucher (?) auf das gar nicht problematische „heitere Beruferaten" des Robert Lembke im 1. Fernsehprogramm auswi- chen.
Allein nach dem Gesetz der gro- ßen Zahl müssen sich unter diesen Umschaltern wenigstens zwei Prozent schon akut alko- holkranke Fernsehzuschauer befunden haben. Nach der Er- fahrung der Praktiker, die in diesem Film kaum von den Be- rufsschauspielern zu unter- scheiden waren, dürfte aber die Zahl der akut alkoholismusge- fährdeten „Ausweicher" erheb- lich höher liegen, weil es das fast immer treffende Indiz für
„angehende" Alkoholiker ist, daß sie alles tunlichst meiden und verschleiern, was ihr richti- ges Verhalten im Umgang mit alkoholischen Getränken frag- lich oder fragwürdig scheinen lassen könnte. Im Film bestätig-
te sich solche Beobachtung ganz deutlich am Beispiel des Außen- seiters in der feucht-fröhlichen Pausenrunde von Metallarbei- tern. Dieser soziale Absteiger, seiner Alkoholgefährdung selbst durchaus bewußt, lehnte zwar kategorisch das Mittrinken in der Runde ab, aber nur, um nicht als Alkoholiker verdächtigt zu werden; denn heimlich trank er seine Menge „Medizin" — und er brauchte sie auch.
Obgleich dieser Film besonders von den ehemals abhängig ge- wesenen Alkoholikern, die über- wiegend durch einen kontinuier- lichen Besuch von Selbsterfah- rungsgruppen (und dabei mei- stens in jenen der Anonymen Al- koholiker) den Absprung von der Sucht geschafft haben, für die wirklichkeitsnahe Darstel- lung der Zusammenhänge ge- lobt wurde, blieb für die „pas- siv" am Thema interessierten Zuschauer — insbesondere für die Familienangehörigen noch trinkender Alkoholiker — die Beantwortung mancher beson- ders wichtigen Frage aus.
Sie mußte auch ausbleiben;
denn es gibt noch immer keine Patentlösung, um den von sei- ner Umwelt als Alkoholiker er- kannten Kranken ohne Umwege ebenso direkt wie andere nor- mal kranke Mitbürger der richti- gen Behandlung zuzuführen (zu betonen: richtig!).
Deshalb ist trotz allem berech- tigten Lob für diesen Film doch festzustellen, daß man die bis- her ungenutzten Möglichkeiten zur Früherkennung und -be-
handlung des Alkoholikers, wo- bei die Mitbehandlung der Fami- lie und die Aufklärung der Um- welt auch heute noch von vielen
Ärzten unterschätzt werden, in einem echten Psychodrama in Fortsetzungen darstellen müßte, damit kein wirklich wichtiger Punkt ausgelassen wird.
Allein die Bedeutung der thera- peutischen Geduld im Umgang mit diesen Suchtkranken erfor- dert für die richtig begreifbare Darstellung ein überaus hohes Maß an dramaturgischer Fähig- keit.
Man wird den vielleicht für die- sen Bereich noch nicht gefun- denen Spitzenkönner nötig ha- ben, um wirklich verständlich zu machen, warum es der Alkohol- kranke in unserer erfreulicher- weise gesundheitsbewußter ge- wordenen Gesellschaft doch noch immer so schwer hat, sich als der Kranke zu erkennen, der im Vergleich mit allen anderen Kranken die größte Genesungs- chance überhaupt besitzt; denn er braucht ja nur seine bisher mangelhaft genutzte Fähigkeit zur Selbsterkenntnis intensiv zu trainieren.
Das ist eigentlich ganz einfach, wenn es gelingt, ihm einfache Hilfen zur richtigen Unterschei- dung von Zusammenhängen in die Hand zu geben und ihm auch klarzumachen, daß er die- se selber benutzen muß.
Kurzum: Der bisher bequem- lichkeitsorientierte Mensch muß sich selber am Beispiel von an- deren, die das schon geschafft haben, zu einem die unbeque- men Seiten des Lebens nicht scheuenden, allen Schwierig- keiten mit Gelassenheit begeg- nenden Menschen umerziehen.
Allein schafft das kaum einer unter 10 000 dieser Betroffenen, aber in der Selbsterfahrungs- gruppe ist das ziemlich einfach.
Merke: Einfach ist nicht iden- tisch mit bequem! Zz
3098 Heft 45 vom 6. November 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT