IN DER FRÜHEN KADSCHARENZEIT, DARGESTELLT AM BEISPIEL VON
HÄÖGI HALlL KHAN QAZWlNl MALIK AT-TUGGAR*
von Kamran Ekbal, Kiel
Der Binnen- und Außenhandel Irans befand sich zu Beginn des 19. Jh. noch vor¬
wiegend in der Hand persischer Kaufleute'. Engländer traten trotz der Beteiligung
der East India Company am Außenhandel kaum in Erscheinung. Die britische Prä¬
senz war beschränkt auf Kontakte zwischen den Niederlassungen der E.I.Co, und
den mh Indien handeltreibenden persischen Kaufleuten. Erst die Zuspitzung der
Rivalität zwischen den beiden europäischen Großmächten England und Frankreich
führte zu einer Intensivierung und einem qualitativen Wandel in den Beziehungen zu Iran. Das bis dahin wirtschaftlich nicht sonderhch interessante Land rückte we¬
gen seiner strategischen Position als Landbrücke nach Indien in das Vorfeld der
pohtischen Interessen Europas.
Die Entsendung diplomatischer Missionen und der Abschluß der ersten „Freund¬
schafts- und Beistandspakte" bildeten den Auftakt eines Prozesses, während dessen Iran seine Selbständigkeit weitgehend verlor. Dieser Prozeß war gekoppelt mit dem Ausbau eines fast perfekten Informationsapparates der Engländer, mit Bestechung
und Kormmpierung von Persönlichkeiten bis hinauf in den Bereich des Hofes. Die
Eröffnung der Trapezunt-Route Anfang der dreißiger Jahre des 19. Jh. machte das
Land zu einem begehrten Absatzmarkt für billige englische Erzeugnisse*. Die ersten
Handelshäuser siedelten sich an, so beispielsweise die Unternehmen RaUi (1837),
Scuda (1842) und kurz darauf Sküiri in Tabriz'.
Einheimische Kaufleute protestierten sowohl gegen die Einfuhr europäischer
Erzeugnisse als auch gegen die Eröffnung ausländischer Agenturen ohne Erfolg*.
Ein sozio-ökonomischer Wandel der Verhältnisse persischer Kaufleute bahnte sich
in der zweiten Hälfte des 19. Jh. an: Abgedrängt von der immer stärkeren Konkur¬
renz europäischer Unternehmen suchten viele von ihnen andere Investitionsberei¬
che, so z.B. in Landbesitz, Viehwirtschaft und Opium-Anbau. Eine neue soziale
Schicht von nicht-angestammten Landbesitzern (mulkdär) wuchs heran'. Die größe-
* Eine erweiterte Fassung wird in der Zeitschrift ,,Der Islam" erscheinen.
1 J. E. Polak: Persien, das Land und seine Bewohner, Leipzig 1865 (repr. Hildesheim/New York 1976), Bd. I-HI, II S. 186; E. Smith & H. Dwight: Missionary researches in Armenia, London 1834, S. 321.
2 X. Hommaire de Hell: Voyage en Turquie et en Perse, 4 Bde., Paris 1854-60, II S. 46.
3 ibid. 38.
4 Lady Sheil: Glimpses of life & manners in Persia, London 1856, S. 376; W. M. Floor: The merchants (tujjar) in Qajar Iran, in: ZDMG, Bd. 126, 1976, S. 129.
5 Floor 113.
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen
re Kapitalstärke der Europäer und ihre besseren organisatorischen Mittel fiihrten
dazu, daß bis Ende des 19. Jh. der gesamte Binnenhandel von englischen und russi¬
schen Kaufleuten eingenommen war .
Die Großkaufleute (södägar), die den Handel mit anderen Städten und dem Aus¬
land betrieben, genossen zu Beginn des 19. Jh. hohes Ansehen im Volk'. Sie gehör¬
ten zu den Notabein (aCyän)* und stellten neben der Geistlichkeit (ulema) die einzi¬
ge von der Regierung weitgehend unabhängige Bevölkerungsgmppe dar'.
In den Händen der södägar war ein beträchtliches Kapital konzentriert. Nach
Arthur de Gobineau befand sich sogar der überwiegende Teil des flüssigen persi¬
schen Kapitals in den Händen der Kaufleute, was diesem Stand zu beachtlichem
Ansehen bei den Herrschenden verhalf. In seiner Funktion war der södägar mit
einem europäischen Kreditinstitut zu vergleichen". Er fungierte somit als wichtiger
Lieferant von Krediten, die er — mehr oder minder freiwülig — dem Herrscher zur
Finanzierung seiner Kriege, seiner Verschwendungssucht und seiner durchaus nicht
bescheidenen Harems zur Verfügung stellen mußte. Kandidaten für ein Statthalter¬
amt ließen die dafür nötige Erwerbssumme (piSkeS) oft von dem södägar vorfinan¬
zieren". Er verfiigte daher über gute Beziehungen zu den lokalen Herrschern, in
manchem Fall sogar direkt zum Hof. Erstattete der Schah manchmal das von ihm
geliehene Geld auch nicht zurück" und ließ einen solchen Kaufmann enteignen, so wurden solche wichtigen ,, depositaries of wealth"" in der Regel jedoch geschützt.
Polak beispielsweise, der 1851 nach Persien gekommen war, wußte von keiner
Enteignung zu berichten". Abgesehen vom Einfuhrzoll wurden die Großkaufleute sogar von allen anderen Steuern freigestellt".
Eine Reihe von Kaufleuten wurde selbst mit politischen Ämtern, vornehmlich
als whtschaftliche Berater, betraut. Ein bezeichnendes Beispiel hierfiir ist Muham¬
mad Hussein Khan Sadr-i Isfahäni, der zunächst Gouverneur von Isfahan wurde,
später zum Amt des obersten Rechnungsführers (mustaufi al-Mamalik) aufstieg und
schließlich zum Großwesir ernannt wurde". Auch er hatte dem Schah wiederholt Kredite zur Verfügung stellen müssen". Der von uns weiter unten zu behandelnde Häggi Hain Khan gehörte mit zu den Unterzeichnern des ersten englisch-persischen Vertrages" und wurde schließhch als Botschafter nach Indien entsandt".
6 ibid. 129,133.
7 Polak II, 186; C. Issawi: The economic history of Iran, Chicago & London 1971, S. 36.
8 Floor 102.
9 ibid. 104.
10 Issawi 36.
11 J. M. Tancoigne: A narrative of a joumey into Persia & residence at Teheran, London 1820, S. 165, 224; J. Morier: A journey through Persia, London 1812, S. 237; Floor 111.
12 SheU 386.
13 J. Perkins: A residence of eight years in Persia, Andover 1843, S. 151.
14 Polak II, 186.
15 Floor 105; Morier: Joumey 237; Tancoigne 165. Gobineau's Auffassung, daß sie von jegli¬
chen Steuerzahlungen befreit waren^ist nicht korrekt, Issawi 36.
16 I. Ri'in: Huqüq-begüän-i inglTs dar Irän, Teheran 1347 5.
17 H. J. Brydges: An account of the transactions of H. M.'s mission to the court of Persia, London 1834, S. 288.
ISM. Rochan Zamu-Dahncke: Iran in Napoleonischer Zeit 1797-1814, Hamburg 1973, S. 53.
19 H. Busse: History of Persia under Qajar rule, New York/London 1972, S. 95.
Der Einfluß des Großkaufmanns reichte nicht nur bis an den Hof, sondern er¬
streckte sich auch nach unten auf den Basar. Auch hier dürfte er die Rolle des Geld¬
verleihers gespielt haben. Lady Sheil, die 1849 in das Land kam, berichtet, daß fast jeder Mensch Schulden hatte*". Der södägar tätigte seine Geschäfte traditionsgemäß
von einem Zimmer (hugra) aus, das er in einem Karawansaray unterhielt. Von hier
aus hatte er Kontakt mit seinen Agenten (Cämü) und Kommissionären (gumäSte),
die in den wichtigsten Handelszentren residierten. Hier in der hu|ra des södägar
liefen die Fäden eines wirtschaftlich weitverzweigten und gerade daher auch poli¬
tisch einflußreichen Netzes zusammen.
Es ist offensichtlich, daß sich die Engländer, die bis Anfang des 19. Jh. über kei¬
nerlei Kontakte zu den Kadscharen verfügten, eines solchen Netzes bis zum Aufljau
eines eigenen Informationsapparates bedienen mußten, um Zugang zum Hofe zu
erlangen. In den diplomatischen Archiven Englands finden sich denn auch ausführ¬
liche Informationsberichte aus dieser Zeit, die über mannigfaltige Aspekte der poli¬
tischen und wirtschaftlichen Situation berichten und minutiöse Details von Bewe¬
gungen französischer Agenten bekanntgeben, die allesamt von sogenannten
„respectful merchants" aus Persien stammen*'. Hierzu zählt auch der von uns be¬
handelte Hagp Hain Khan, dessen Berichte Angaben über Bewegungen französi¬
scher und anderer Agenten enthalten.
Die politisch-militärische Lage war für England zu Beginn des 19. Jh. nicht sehr
günstig. Aufgeschreckt durch die Landung Napoleons in Ägypten im Juli 1798 und
zusehends bedrängt durch die Einfälle des afghanischen Fürsten Schah Zaman
(1793—1801), entschloß sich die E.I.Co, auf Anweisung des Gouverneurs von
Bombay, Duncan**, den kürzlich zu üirem Agenten in Buschehr ernannten Mehdi
Ali Khan*' mit einer Mission an den Hof Fath Ali Schahs zu betrauen. Mit dem
Instruktionsschreiben Duncans vom 1. November 1798, das die Anweisung enthält,
Fath Ali Schah für einen Vorstoß gegen Schah Zaman zu gewinnen, wird Mehdi Ali
Khan gleichzeitig aufgefordert, hierzu Kontakt mit Hag|T Hain Khan aufzuneh¬
men**. Dieser war einer der führenden Kaufleute Persiens. Die Tatsache, daß er
den Titel „maliku't-tu|gär-i Iran"*' von Aqa Muhammad Schah (1796-1797), dem
ersten Herrscher der Kadscharen-Dynastie, verliehen bekommen hatte, zeugt von
seinen engen Beziehungen bereits zum ersten Kadscharen-Hof**. Durch Heirat hatte
20 Sheil 141 f. Das Gleiche berichtet auch J. B. Fräser: Narrative of a Journey into Khorasan, in the years 1821+1822, London 1825, S. 223.
21 Eirt Beispiel sei u.a. hier genannt: (lOL) Extract of a translation of a letter from Mohammed Hosein, a respectful merchant to capt. Malcolm, dated Shuaz 4 Shawal 1214 = 29. Feb.
1800, in PFR 22.
22 Jonathan Duncan (1756 -1811), Gouverneur v. Bombay 1795 -1811.
23 Seine Titel waren Bahädur, He?mat-i §ang, s. t^Abd ur-Razzäq Beg DunbulT. „Maftun":
Ma'ätir-i SultänT Tabriz 1241, S. 31. Hidäyat nennt ihn fälschlich Bahädur-i gang, Rezä- Quli Khan Hidäyat: Tärih-i Rauzatu.s-safa-i najirl, Bd. IX, Qum 1339 1, S. 359.
24 (IGL) Extract of Bombay secret and political consultations, 2. Nov. 1798, Extract of letter to Mehdi Ali Khan (1. Nov. 1798).
25 Hidäyat 366, 391.
26 Kurzbiographie von Hä^I HalTl Khan s. Hosein MahbübT ArdakänT: Dastan-i nuhustln safrr-iFathCAhSäh,in: Yagmä 18, Nr. l,FaiwaidTn 1344/Apr. 1965 und 18, Nr. 2. "
er seine wirtschaftlichen Beziehungen sowohl zu England als auch zur Türkei inten¬
sivieren können*'.
Der maliku't-tu|gär übte eine Vermittlerfunktion zwischen der Regierung und
den Kaufleuten aus. Über ihn wurden Erlasse und Firmane des Schahs an die Kauf¬
leute weitergeleitet. Zugleich trat er als ihr Sprecher beim Schah auf und vertrat dort ihre Belange**. Somit besaß er direkten Zugang zum Hof.
Haggi Hain Khan war maßgeblich an der Herstellung von Kontakten zwischen
Mehdi Ali Khan und dem Kadscharen-Hof beteiligt. Hierzu wurde er direkt von
Duncan aufgefordert, der ihm unter Anspielung auf seinen Charakter und seine
Prinzipien bedeutete, daß die Interessen eines persischen Kaufmanns mit denen sei¬
ner Handelspartner übereinstimmen müßten und ihm bei entsprechender Mitwir¬
kung große Vorteile in Aussicht stellte*'. Die sunnitisch/schiitischen Gegensätze sollten hierbei ausgespielt und dem englischen Plan nutzbar gemacht werden'".
Diese Darstellung stieß am Kadscharen-Hof auf Zweifel. Der versierte und politisch erfahrene Großwesir Häggl Ibrähim vermutete, daß die religiös gefärbte Begründung für ein persisches Eingreifen gegen Schah Zaman ein Vorwand zur Verschleierung der eigennützigen Zwecke der Engländer sei". Diese Zweifel wurden durch die per¬
sönliche Intervention von Häggi Hain Khan ausgeräumt'*. Er berichtet selbst, daß
er keinerlei „Skrupel in den eigenen Briefen" hatte, die Bedenken des Hofes durch Bestätigung der ,, Genauigkeit in Mehdi Ali Khans Angaben" und durch ,J^obprei- sung der vorzüglichen Eigenschaften der britischen Nation" auszuräumen". Für
diese manipulative Vorgehensweise wurde Häggi Hain Khan mit höchstem Lob be¬
dacht'*. Dem politischen Einfluß Häggi Hain Khans ist es zu verdanken, daß Mehdi
Ali Khan schließlich nach Teheran geladen wurde.
Die bisherige Geschichtsforschung hat die Rolle und Funktion dieses bedeutsa¬
men Wegbereiters der modernen englisch-persischen Beziehungen ungenügend be¬
achtet. Sowohl in persischer als auch in abendländischer Literatur tritt er aus¬
schließlich in seiner Funktion als Gesandter Fath Ali Schahs nach Indien auf". Für die englischen Politiker war er jedoch „a worthy friend of the English, certainly
deserving of every mark of favour and attention"'*. Von Lord Mornington, dem
Generalgouverneur Indiens persönlich, wurde ihm ein Ehrengewand (hallat) ver¬
hehen".
27 ibid.
28 Floor 108.
29 s. Anhang I dieser Arbeit, demnächst in: Islam.
30 (lOL) Mehdi Ali Khan an Hä||i Ibrähün als Anlage zu seiner Briefsendung vom 4. Dez.
1798 nach Bombay, PFR 21.
31 (lOL) Extract of Bombay secret & pol. consultations, 12. 5. 1799, letter of Mehdi AU Khan, 15. 3. 1799, PFR 21 (13); s. auch Anhang VIII.
32 ibid.
33 Vgl. Anhang VIII.
34 Vgl. Anhang X.
35 Sykes führt ihn lapidar als „a certain Hajy KhalU Khan" an, P. Sykes: A history of Persia, Bd. I+II, London 1958, II 302; Hidayat 366;Dunbuli 33,61; Busse 95,105 f. Einen Hinweis auf die Vermittlertätigkeit Hä^T HalTl Khans enthält die Arbeit von Dahncke 46.
36 (lOL) Duncan an Mehdi Ah Khmi, o.O., o. D., als Antwort auf seine Briefe v. 10.1.1799, PFR 21.
37 Vgl. Anhang IV, V, VI.
Bedeutsamer waren die wirtschaftlichen Vorteile, die ihm seine Dienste einbrach¬
ten. Seine Handelswaren erhielten bei der Verschiffung auf Frachter der E.I.Co, den Vorrang". Auf eigene Bitte wurde er sogar unter britische Protektion gestellt und kam somit in den Genuß von Handelsprivilegien, die sonst nur englischen Kaufleu¬
ten vorbehalten waren'®. Die gewährte Protektion bedeutete für Häggi Halil Khan
Befreiung von den zusätzlichen WegezoUsteuern, mit denen einheimische Kaufleute belastet wurden, und damit wesentliche Stärkung seiner Konkurrenzfähigkeit diesen gegenüber.
Häggi Muhammad Halil Khan, der sich „ein Leben lang dem Dienste der engli¬
schen Regierung" verschrieben hatte*", kam nur noch kurzfristig in den Genuß dieser Vorteile. Er starb während seiner Gesandtschaft in Indien Anfang 1803, als er bei der Schlichtung eines Streites zwischen seinen Dienern und indischen Wächtern
von einer Kugel getroffen wurde**. Sein Sohn, Muhammad IsmäCil Khan, erhielt da¬
für von den Engländern eine Entschädigung in Höhe von 50.000 Tuman und konnte,
ausgestattet mit einer monatlichen Pension, bis an sein Lebensende in Paris und
London in „Saus und Braus" (cayS waqgrat) leben**. Er starb 1280/1863^*'.
38 Vgl. Anhang III.
39 Vgl. Anhang VIII und X. Einzelheiten und Kommentar hierzu in der erweiterten Fassung dieser Arbeit, demnächst in: Islam.
40 Vgl. Anhang VIII.
41 Busse 106; Hidayat 391.
42 Busse 106 f.
43 ibid.
von Wemer Ende, Hamburg
In islamkundlichen Veröffentlichungen über das Glaubensleben der Zwölfer¬
schiiten, vor allem aber in (älteren) Reisebeschreibungen über Persien und den Irak
sowie in seuchenhygienischen Untersuchungen über den Mittleren Osten werden
häufig die schütischen Totentransporte erwähnt. Es handelt sich dabei um die
Überfühmng (z.T. aus großer Entfernung und in Form organisierter Karawanen)
zu den Begräbnisplätzen der Imame der Zwölferschia im Irak und in Iran. Von über¬
ragender Bedeutung sind in diesem Zusammenhang Nagaf und Karbalä. Der in der
sehiitischen theologisch-juristischen Literatur für diese Praxis verwendete arabische Ausdmck lautet naql al-^anä'iz oder naql al-mautä.
Die Beschreibungen, die nichtschiitische - europäische, aber auch orientalische (sunnitische) — Autoren hinsichtlich der Begleiterscheinungen jener Totentransporte
geben, sind z.T. schaudererregend (Verwesungsgeruch, Seuchengefahr, makabre
Folgen von Leichenschmuggel etc.). Es ist zu fragen, ob und in welchem Umfang
schütische Autoren des 20. Jahrhunderts diese Beschreibungen dem Inhalt nach
bestätigen und wie sie die geschüderten Begleiterscheinungen der Totentransporte gegebenenfalls beurteüen.
Die erste - und bis heute wohl maßgebende - innerschiitische Diskussion über
naql al-^anä'iz wurde im Jahre 1911 durch den irakischen zwölferschiitischen Ge¬
lehrten Hibataddin a5-Sahrastäni (1883/4-1967) ausgelöst. In seiner Schrift
Tahrim naql al^anä'iz , die zuerst in einer Zeitschrift und dann als Broschüre
erschien, forderte er die sehiitischen filamä' zum Verbot des naql al-^anä'iz auf, da diese Praxis eine schädliche Neuerung (bidCa) im Islam darstelle, die Integrität
(hurma) des Toten aufs schwerste verletze und somit der Sariqa, die dem Schutz der
hurma des Toten die oberste Priorität einräume, eindeutig widerspreche.
Gegen Sahrastänis Thesen erhob sich heftiger Protest im sehiitischen Müieu des
Irak. Die wichtigste Gegenschrift stammt allerdings aus der Feder eines libanesi¬
schen Schiiten, des Theologen "Abd al-Husain Sarafaddin (1873-1958). Sie er¬
schien zuerst in der Zeitsehrift Al-<^Irßn (Saida) und danach u.d.T. Bugyat al-fä'iz
fi naql al-^anä'iz als Broschüre. Sarafaddin zieht die Existenz der makabren Be¬
gleiterscheinungen der Totentransporte in Zweifel, die Sahrastäni angeführt hatte.
Hauptsächlich geht es ihm aber darum zu beweisen, daß naql al-^anä'iz keineswegs eine Praxis spezieU der Schiiten sei, sondern auch bei Sunniten, Christen und Juden
vorkomme. In Wirklichkeit sei es so, daß die theologischen Autoritäten der Zwöl¬
ferschia hinsichtlich der Überfühmng von Toten stets differenzierter geurteilt
* Kurzfassung des Referats
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen