Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 111|
Heft 14|
4. April 2014 A 593 HIV UND HEILUNGZwischen Vision und Wirklichkeit
Münchner AIDS-Tage: Die Ansätze der Heilungsforschung sind divers, aber zum größten Teil noch nicht über das Grundlagenstadium hinaus, so der Tenor.
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ngeheizt“ durch aktuelle Me- dienberichte nahm das The- ma der „Heilung der HIV-Infek - tion“ bei den 15. Münchner AIDS- und Hepatitis-Tagen einen breiten Raum ein. „Wir werden in den nächsten Jahren schneller eine Hei- lung als eine Impfung bekommen.Die Heilung ist ein planbares Kon- zept, die Therapien sind besser ge- worden“, sagte der Kongressleiter Dr. med. Hans Jäger vom Medizi - nischen Versorgungszentrum Karls- platz in München. Wenn man von Heilung spreche, müsse man jedoch zwischen sterilisierender Heilung, also der kompletten Viruseradika - tion, und funktioneller Heilung un- terscheiden.
Bei der funktionellen Heilung ge- lingt es, die Virusreplikation trotz Absetzens der antiretroviralen The- rapie (ART) auf einem niedrigen Ni- veau zu halten, ohne dass das Virus aus dem Körper komplett eliminiert wurde. „Welche Rolle dem Immun- system hierbei zukommt, ist bislang noch unklar“, sagte Dr. phil. Eva Wolf aus dem Team von Jäger. Be- kannt sei, dass etwa ein Prozent al- ler HIV-Infizierten eine dauerhafte Viruskontrolle ohne antiretrovirale Therapie erreicht. Zu den Charak - teristika dieser „Elite Controllers“
gehören breite, HIV-spezifische T-Zellantworten, genetische Fakto- ren wie protektive HLA-Allele und eine geringe HIV-Reservoirgröße gemessen an der zellassoziierten proviralen DNA.
„Doch selbst wenn im Plasma die Viruslast unter ART supprimiert ist, findet man pro Million CD4+
Memory-Zellen in der Regel weni- ge Hundert bis zu mehrere Tausend provirale DNA-Kopien“, so Wolf.
Deshalb komme es in der Regel in der Therapiepause binnen weniger Wochen zum Wiederanstieg der Vi- ruslast. Bisher sind mehrere Fallbe- richte bekanntgeworden, die nach
therapeutischer Intervention zumin- dest eine funktionelle Heilung ver- muten lassen.
Dazu gehört das erste „Mississip- pi-Baby“, das perinatal mit HIV infi- ziert worden ist und bereits im Alter von 31 Stunden mit Azidothymidin (AZT), 3TC (Lamivu dine) und Ne- virapin in therapeutischer, statt pro- phylaktischer Dosis behandelt wur- de. Nach wenigen Tagen wurde die Therapie auf AZT, 3TC und Lopina- vir/Ritonavir umgestellt. Das Kind ist mittlerweile 41 Monate alt und erhält seit 23 Mo- naten keine ART. Re - gelmäßige umfangrei- che virologische und immunologische Un- tersuchungen mit den
derzeit empfindlichsten Nachweis- methoden ergaben noch keinen Hin- weis auf eine aktive HIV-Replikati- on oder ein relevantes HIV-Reser- voir und weisen auf eine anhaltende
„Remission“ hin.
Studie bei Neugeborenen zur Heilung durch Frühtherapie
Bei einem zweiten Baby aus Los An- geles begann die Therapie vier Stun- den nach der Geburt mit AZT, 3TC und Nevirapin und wurde nach 3,5 Monaten auf AZT, 3TC und Lopi- navir/r umgestellt. Die unbehandelte, HIV-positive Mutter hatte zum Zeit- punkt der Geburt eine Viruslast von 139 000 Kopien/ml und 70 CD4-Zel- len/mm3. 36 Stunden postpartal be- trug die Viruslast des Babys 217 Ko- pien/ml, und eine Lumbalpunktion am sechsten Tag (wegen des Ver- dachts auf eine bakterielle Infektion) ergab 32 HIV-Kopien/ml im Liquor.Elf Tage nach der Geburt war die Vi- ruslast im Blut nicht mehr nachweis- bar (< 20 Kopien/ml). Das Kind wird mittlerweile seit neun Monaten anti- viral behandelt. Wie lange die Thera- pie dauern soll, ist derzeit noch nicht entschieden (Conference on Retrovi-
ruses and Opportunistic Infections 2014. Abstract 75LB). Ob eine Hei- lung bei Neugeborenen mit einer Frühtherapie tatsächlich möglich ist,
soll demnächst in einer prospekti- ven Studie kontrolliert unter- sucht werden. Die internationa- le Studie wird von den National Institutes of Health in den USA finanziert.
Zu den Fällen von funktio- neller Heilung zählt man auch die 18 erwachsenen Teilnehmer der französischen Visconti-Stu- die. Deren primäre HIV-Infektion war frühzeitig intensiv antiretrovi- ral behandelt worden. Nach dem Absetzen der Medikamente – nach durchschnittlich neun Jahren – sei keine Viruslast mehr nachweisbar, erläuterte Wolf. Lediglich bei drei Patienten sei es zu gelegentlichen viralen Blips, also kurzzeitigen, kli- nisch nicht relevanten Anstiegen der Viruslast, gekommen.
Die „New Era“-Studie in Mün- chen verfolge einen ähnlichen An- satz wie die französische Studie.
„New Era“ wurde 2009 gestartet und läuft prospektiv über sieben Jahre. Hierbei erhalten 20 Patienten mit primärer HIV-Infektion sowie 20 mit chronischer HIV-Infektion eine Fünffach-HAART-Kombina - tion, um die Virusreplikation zu supprimieren und eine Depletion der zellassoziierten HIV-DNA – als Schritt hin zu einer funktionellen Heilung – zu erreichen.
Nun ist man nach mehreren Jah- ren intensiver antiretroviraler The- rapie so weit, dass Absetzversuche möglich wären. Derzeit, berichtete Jäger, wird aber zunächst noch nach prädiktiven Laborparametern ge- forscht, die Auskunft darüber ge- ben, bei welchen Patienten ein si- cheres Absetzen der Therapie ohne Virusrebound möglich ist.
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Andrea Warpakowski Dr. med. Vera Zylka-Menhorn Foto: Fotolia/pixelrobot