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Archiv "Was heißt: mündig für Heilung?" (23.03.1978)

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Spektrum der Woche

Aufsätze ·Notizen

Numerus-clausus-Kiagen

folgsaussichten können daher nur für das jeweils kommende Semester nach Festsetzung der offiziellen Höchstzahlen prognostiziert wer- den. Eine Abschätzung der Chancen über einen weiteren Zeitraum ist nicht möglich.

~ Es kann daher von keinem Rechtsanwalt eine Erfolgsgarantie für einen Studienplatz gegeben wer- den, so daß es durchaus sein kann, daß der Studienbewerber einen nicht unbedeutenden finanziellen Einsatz verliert - andererseits je- doch besteht die Möglichkeit, einen Studienplatz zu erhalten, den der Studienbewerber über die ZVS erst in Jahren oder überhaupt nicht er- halten würde.

Nach den Erfahrungen des Verfas- sers sind etwa 10 Prozent aller Stu- dienplätze in den Fachbereichen Medizin "Gerichtsmedizinerplätze", so daß nach wie vor gute Aussichten bestehen, einen Studienplatz einzu- klagen.

Anschrift des Verfassers:

Rechtsanwalt Albert Stegmaier Heidelberger Straße 68

6903 Neckargemünd

ZITAT

Empfindlich

"Ärzte sind von allen Beru-

fen, mit denen man als Fern- sehjournalist zu tun hat, zweifellos derjenige, der auf Kritik am empfindlichsten reagiert. Man muß aber ana- lysieren, wann diese Emp- findlichkeit als Verteidigung des Gemeinwohls gerecht- fertigt ist und wann es sich nur um . . . amour propre handelt."

Paul M. Bonner, Leiter der Abteilung Wissenschaft beim BBC-Fernsehen, Lon- don

THEMEN DER ZEIT

Was heißt:

mündig für Heilung?

Die Reformproblematik, die Patienten und die Ärzte

Paul Lüth

"Es entstehen viele neue Krankhei- ten. Wenn nun die neuen Krankhei- ten offenbar sind, so müssen sie neue Ärzte haben. Folgen daraus nicht neue Grundlagen? Nun müßt ihr Doctores die Arznei suchen, denn es geht nicht mehr nach dem alten Reigen!"

Paracelsus, De inventione artium (Aschner IV)

1. Das Unernste und das Ernste Neue Krankheiten sind da, aber es sind nicht ganz neue, es haben sich nur die Proportionen der alten ver- schoben. Neue Gesundheit wird dis- kutiert, aber es ist keine ganz neue, die Stellenwerte ihrer Merkmale ha- ben sich verändert. Dieser Vorgang, vielschichtig und noch immer sich verstärkend, hat auch die Positionen von Patienten und Ärzten erfaßt. I.

lllich hat dafür die Formel gegeben:

Gesundheit als Selbsthilfe.

Gesundheit als Selbsthilfe, das wür- de bedeuten, daß die Kranken sich- jedenfalls weitaus mehr, als bisher angenommen - selber helfen könn- ten. Geburtshilfe und Gynäkologie würden dann zu einem gewissen Teil in Frauengruppen betrieben, um damit gleich ein konkretes Beispiel zu geben. Das müßte nicht heißen, daß die Frauenärzte überflüssig würden, jedoch würden sie seltener konsultiert. Erst der nächste Schritt wäre der zu den Barfußärzten, und mit dem übernächsten würden die Ärzte vollständig verschwinden.

"Entarztung" der Gesellschaft ist ei- ne der Forderungen lllichs, wie die nach der "Entschulung" (1)*). Ge- fragt, an wen er denn sich wenden würde, wenn er selbst an Krebs er-

kranken sollte, antwortete· lllich in der Diskussion: nicht an einen Arzt, auch nicht an einen Priester, son- dern an einen guten Freund. Die weitere Frage an lllich wäre doch die, müßte dieser gute Freund, um wirklich helfen zu können, nicht auf irgendeine Weise ärztlich oder seel- sorgerisch erfahren sein, käme also, bei konsequenter Durchdenkung des Problems der Selbsthilfe, am Ende nicht doch wieder der Rekurs auf den - wie immer legitimierten- Experten heraus?

Ich bin dieser Frage einmal in einem Seminar nachgegangen. Es gibt ein unter didaktischen Gesichtspunkten optimales Lehrbuch der Geburtshil- fe und desgleichen der Gynäkologie, nämlich die Werke von W. Pschy- rembel, die nach meinem Urteil ei- gentlich jeder verstehen kann, der sich nur ein wenig mit Medizin be- schäftigt hat. Kann er es wirklich verstehen, das müßte allerdings hei- ßen: wäre er im Ernstfall in der Lage, es anzuwenden? Um das zu über- prüfen, habe ich Studentinnen des Sozialwesens gebeten, einige Kapi- tel durchzulesen unter dem Ge- sichtspunkt, was eigentlich im stren- gen Sinne rein ärztlich darin ist und was etwa Studierende anderer Rich- tungen übernehmen könnten. Da die Geburtshilfe viele Jahrhunderte hin- durch von den Ärzten nicht prakti- ziert wurde, kann es nicht besonders verwundern, daß dabei herauskam, wie gering im Grunde der spezifisch ärztliche Anteil, der nur von Ärzten studiert und praktiziert werden könnte, ist.

·)Die Zahlen 1-11 beziehen sich auf das Lite- raturverzeichnis des Sonderdrucks.

706 Heft 12 vom 23. März 1978

DEUTSCHES ARZTEBLATT

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Die Frage, die sich sofort anschließt, muß natürlich die sein: ob diese Stu- dentinnen, die das soeben festge- stellt haben, bereit wären, sich in einer Frauengruppe der Diagnostik und gegebenenfalls auch einer The- rapie durch ein anderes Mitglied dieser Frauengruppe zu stellen. Die Frage wurde glatt verneint. Alle Stu- dentinnen erklärten, sie würden un- bedingt auf einem Arzt bestehen, übrigens keinem Allgemeinarzt, sondern einem Facharzt, am lieb- sten einem Chefarzt und Professor.

Ganz im Gegensatz zu der Feststel- lung, Geburtshilfe sei über weite Strecken auch von Laien auszu- üben, wenn sie sich nur ausreichend damit beschäftigt hätten, wurden an diesem konkreten Beispiel doch Laienhilfe und Selbsthilfe, wiewohl durchaus möglich, abgelehnt. Bei näherer Befragung stellte sich her- aus, daß die Selbsthilfe als eher für den Notfall bestimmt eingestuft wur- de. Moderne Geburtshilfe wurde weitgehend als operatives Fach mit umfänglicher apparativer diagnosti- scher Ausstattung und klinischer Betreuung gesehen. Geburtshilfe sollte in der Regel aber ohne Opera- tion — selbst ohne obligate „Epi" — und ohne Klinik auskommen, — Pschyrennbels Lehrbuch wider- spricht dem jedenfalls nicht.

Wenn wir uns darauf einstellen — und umstellen — sollten, die Ge- burtshilfe wieder mehr in das Haus als in die Klinik zu verlagern, ist die Begegnung mit dieser Einstellung ebenfalls bedeutsam. Woher stammt sie? Nicht der unwichtigste Grund dürfte die gesundheitliche Bericht- erstattung in den Medien sein, die die Medizin ja so hochtechnisch und anspruchsvoll spezialisiert darstellt, daß dadurch das Vertrauen, es könnte auch außerhalb der Klinik- mauern moderne Medizin betrieben werden, eliminiert wurde. Das ist si- cherlich kein beabsichtigtes, jedoch ein indirektes und glatt durchschla- gendes Resultat des Medienfleißes.

Es wurde ausgeblendet, weil es jour- nalistisch und bildmäßig zu wenig hergibt, daß nach wie vor rund 85 bis 90 Prozent der Kranken von den nie-

dergelassenen Ärzten, im wesentli- chen von den Allgemeinärzten, be- handelt werden, und jedenfalls we- niger als ein Prozent in den Universi- tätskliniken, daß also die überwie- gende Mehrzahl der Krankheiten die journalistisch so attraktive — und au- ßerordentlich kostspielige — Hoch- technisierung nicht erfordert. In der

„medizinischen" Medienlandschaft ist vom Allgemeinarzt wenig die Re- de, vom Laien schon gar nicht.

Extreme sind (rational) unernst (weil manisch), und hier haben wir es mit Extremen zu tun: das eine würde zu einer immer teureren, schließlich unbezahlbaren Medizin führen, die jede noch so kleine Abweichung — etwa den „vollen Hals" der jungen Mädchen durch Szintigraphie — um- fänglichster Diagnostik unterwürfe, das andere würde zu vollständiger Unsicherheit führen, weil Helfen im- mer Erfahrung voraussetzt.

2. Medizin als Nebenfach?

Wie verhält es sich mit dem Stellen- wert des Arztes im Gesundheitssy- stem? Er ist der Dramaturg, der

„Monopolinhaber", denn alles ist auf ihn bezogen. Im Grunde kann in diesem System keine Leistung aus- gelöst werden — gleichgüftig ob Rezept, Krankenhauseinweisung, Krankschreibung, Berentung usw. — ohne daß er tätig wird. Das wirkt sich selbstverständlich aus, wir erkennen es daran, daß Arztkritik selten wie bei Illich so radikal ist, die Abschaf- fung der Ärzte zu verlangen. Daß es ohne Ärzte nicht geht, gilt eigentlich als selbstverständlich.

Ist es denn aber richtig? Hat der Arzt irgend etwas, das die anderen auch haben müßten, wenn sie ihn erset- zen sollten und womit sie dann na- türlich selber Ärzte, nur unter ande- rem Namen, würden? Was macht den Arzt aus? Diese Frage muß sorgfältig beantwortet werden, und die Antwort fällt nicht schwer, wenn man die Dinge genauer betrachtet.

Allen nichtärztlichen Berufen, die wir untersuchen — beispielsweise den Psychologen, den nichtärztli-

chen Psychotherapeuten, den Beru- fen des Sozialwesens, den Pädago- gen —, fehlt etwas, das für den Arzt so selbstverständlich ist, daß er es im allgemeinen gar nicht als etwas Besonderes nimmt: das ist die Dia- gnose (2).

Ich setze voraus, daß alle diese Be- rufe auch in der Medizin unterrichtet werden, in der Medizin als Neben- fach. Ärzte haben die Medizin als Hauptfach, lange gab es Medizin nicht anders — ihr Auftreten als Ne- benfach ist neuesten Datums, durch die Curricula der genannten sozia- len Berufe herbeigeführt. Hinsicht- lich der Diagnostik sind sie an der Psychiatrie, speziell an der Sozial- psychiatrie, orientiert und an den Vorstellungen der sogenannten Antipsychiatrie, die die psychiatri- schen Diagnosen ablehnt. Weil es sich ihrer Meinung nach um „ein Vokabular der Verunglimpfung"

handelt (3). Auch dieses Extrem hat allerdings noch ein Extrem gefun- den in der Radikalisierung durch Th.

Szasz, für den die psychiatrische Diagnostik Mythologie ist und die Psychiatrie selber in einer Reihe mit der Astrologie und Alchimie zu se- hen sei (4).

Medizin als Nebenfach, die psychia- trisch (im Sinne einer „kleinen Psychiatrie") oder sozialpsychia- trisch ausgerichtet ist, kann demge- mäß die Diagnose nicht vermitteln, auf deren Beherrschung es an- kommt, wenn man als „Dramaturg"

in das Gesundheitssystem eintreten will. Wir sehen davon ab, daß auch diese Beherrschung selber nur ap- proximativ sein kann, denn das ist ein Thema für sich.

3. Die offene Tür: Kommunikation An dieser Stelle wird eingewandt, daß die Medizin — als Medizin der Ärzte, also als Hauptfach verstanden

—, ob sie nun die Diagnose be- herrscht oder nicht, den eindeutigen Mangel der persönlichen Bezie- hung, des persönlichen Gesprächs, der ungestörten Kommunikation aufweist. Diese Kritik vorbringen heißt allerdings: offene Türen ein-I>

708 Heft 12 vom 23. März 1978 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Was heißt: mündig für Heilung?

rennen. Es handelt sich um die von allen Autoren einstimmig beklagte Kürze der Zeit, die den Ärzten in Klinik wie Praxis zur Verfügung steht, sich mit den Kranken auszu- sprechen. Th. v. Uexküll hat den Nachweis geführt, daß in den großen Kliniken dem Arzt nur 41/2 Minuten für ein Gespräch mit dem Patienten zur Verfügung stehen, die andere Dienstzeit wird von organisatori- schen und technischen Aufgaben beansprucht (5). Die Praxen, denen man die 5-Minuten-Medizin nach- sagt, unterscheiden sich in dieser Hinsicht also kaum von den Klini- ken. Es gibt allerdings keinen Autor, der diesen Zeitmangel, der die Kom- munikation so wesentlich beein- trächtig( ) verteidigen wollte.

Das Gespräch kommt zugegebener- maßen zu kurz, die Bemühungen müßten dahin gehen, dafür mehr Zeit zur Verfügung zu stellen. Das könnte durch eine Vermehrung der Arztstellen, die wir ja nach der Hoch- rechnung sowieso zu erwarten ha- ben, geschehen. Aber das Problem ist nicht die Zeit im Sinne von einfa- chem Zeitmangel. Die Schwierigkeit ist doppelter Art: 1. Erkennt der Arzt

— denken wir dabei vorzüglich an den niedergelassenen Arzt und den Arzt für Allgemeinmedizin —, wann das Bedürfnis für ein Gespräch be- steht, wann vorgebrachte Be- schwerden nicht organischer Natur sind, sondern biographischer Art?

Der „kommunikationskranke"

Mensch erscheint ja nicht mit der Visitenkarte „Neurose" in der Sprechstunde, sondern meist mit ei- ner ausgeprägten organischen Sym- ptomatik, die man nicht einfach ignorieren kann. 2. Wenn der Arzt aber diagnostiziert — nämlich durch- schaut — hat, ist er dann in der Lage, ein konfliktaufklärendes oder stüt- zendes Gespräch zu führen? Diese Bedingungen müßten doch erst ge- klärt sein, was bedeutet, daß es mit einer einfachen Vermehrung der Arztstellen nicht getan wäre.

Es muß zunächst gesorgt werden, daß das Bedürfnis nach einem Ge- spräch, daß die biographische Krise richtig erkannt wird. Gibt es dafür Kriterien? Die Kommunikationswis- senschaften haben eine Reihe von

Hinweisen gefunden, die Schwierig- keiten erklären, wie die sprachliche Barriere zwischen den verschiede- nen „Klassen". Aber wenn der künf- tige Arzt ausgebildet würde, die ver- schiedenen Sozialdialekte zu verste- hen, würde ihm immer noch das In- strumentarium fehlen, das auch in dieser Hinsicht nun einmal zur Dia- gnostik gehört: die angegebenen Symptome sind ambivalent, sie kön- nen sowohl rein organische Schä- den anzeigen wie psychische Dys- harmonien signalisieren.

Wenn das aber richtig erkannt und eingeordnet wäre, ist noch nicht die Gewähr gegeben, daß ein rechtes Gespräch geführt wird. Man kann mit Worten Leben spenden, und man kann mit ihnen töten. Man darf sich also nicht einfach darauf verlas- sen, daß einem in der Situation schon alles zufallen werde. Sicher- lich ist es so, daß es in wirklicher Not nicht so sehr darauf ankommt, schwierige und subtile Techniken der Gesprächsführung abzuspulen, daß da manchmal Schweigen schon genügt — aber das muß man eben doch wissen, das müßte man also auch gelernt haben, daß Schweigen genügen kann: daß man nicht stän- dig unterbrechen und dazwischen- reden, dazwischenfragen — nach welchen theoretischen Schemata immer — darf.

Die neue bundesdeutsche Approba- tionsordnung hat Sorge getragen, daß Medizinstudenten darüber in- formiert werden. Sie hat Unterricht in Medizinischer Psychologie und Medizinischer Soziologie eingeführt und läßt diesen durch jeweils 30, zu- sammen 60 Fragen im Physikum überprüfen. Reicht das aus? Die Zahl der Fragen reicht zweifellos aus. Aber reicht die Vorbereitung wirklich aus? Ich bezweifle es, we- nigstens was die Medizinische So- ziologie betrifft. Außerdem steht dem die ungeheure Aufblähung des Lehrstoffs gegenüber, die den Stu- denten doch die Möglichkeit nimmt, irgend etwas aus diesem wichtigen Zusammenhang sich gründlicher anzusehen, sich einmal ein Buch vorzunehmen, etwa über die sozio- logische Dimension der Identität, die

soziologische Grundlage des Spre- chens und Verhaltens, die Psycholo- gie der extremen Situation, um nur diese drei Punkte anzugeben. Die Studenten können das nicht, weil ih- nen das Curriculum keine Zeit dafür läßt. Nirgends ist Freiraum einge- plant, alles ist ausgefüllt mit Vorle- sungen und Kursen, die durch Scheine nachgewiesen werden müssen — die also nicht versäumt werden dürfen. Ein Zweites kommt hinzu: sowohl Psychologie als auch Soziologie werden im vorklinischen Teil des Studiums angeboten. Das hat seine guten Gründe, jedoch auch erhebliche Nachteile. Die Gründe dafür: der Student soll gleich zu Beginn lernen, daß Krank- heit kein rein naturwissenschaftlich beschreibbarer Vorgang ist. Die Gründe dagegen: bis zum Staats- examen ist das alles in Vergessen- heit geraten, das Übergewicht der klinischen Fächer läßt ein Überleben dieser Erinnerung kaum zu

Hier also müßte die Kritik ansetzen, nicht erst beim berufsausübenden Arzt, sondern schon beim Studen- ten: Humanisierung des Medizinstu- diums, d. h. Kritik an der einseitigen Verfachlichung dieses Studiums in einer Zeit, in der Einübung in Weite, Öffnung in den interdisziplinären Raum wichtig wäre, in dem sich die Medizin entfaltet. Die Fähigkeit zur Kommunikation kann nur entwickelt werden, wenn man grenzüber- schreitend sich ausbildet. Dies für die Medizin extra zu fordern, sollte überflüssig sein, da ja der grenz- überschreitende Charakter der Me- dizin auf der Hand liegt.

4. Organ-

oder Sozio-Psycho-Pathologie?

Zurück zu unserem Ausgangspunkt

— da sind die Menschen mit ihren Bedürfnissen, da sind die Ärzte mit ihrer Fähigkeit, Diagnosen zu stel- len, jedoch wenig Neigung, in Ge- spräche einzutreten, und da sind die verschiedenen anderen Berufe, die sich derzeit anschicken, in das Ge- sundheitssystem zu integrieren, die über einschlägige Vorbildung in Kommunikationstechniken verfü- gen, jedoch ohne Diagnose sind. >

710 Heft 12 vom 23. März 1978 DEUTSCHES ARZTEBLATT

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Wie sieht das in der Praxis aus? Ich denke an eine ältere Patientin, die an zunehmender Sklerosierung der Mesenterialgefäße litt und schließ- lich am Mesenterialinfarkt starb, bis kurz vor dem Tode fehlinterpretiert als Heimwehreaktion, Altersdepres- sion. Oder: wie oft wird eine Anämie mit ihren Erscheinungen, wie Mü- digkeit, Antriebsschwäche, psycho- gen verkannt? Wie steht es mit den Herzschmerzen? Ihr möglicher psy- chogener Charakter ist weithin be- kannt (Herzneurose), aber lediglich die massive Publizität des Herzin- farkts verhindert, daß sich im großen und ganzen wohl niemand an die Behandlung von Herzschmerzen be- geben dürfte, ohne vorher die Stromkurve und Blutchemie abge- nommen zu haben. Wie verhält es sich bei dem klassischen psychoso- matischen Organ, dem Magen, dem Zwölffingerdarm? Niemand könnte doch rein psychologisch vorgehen, ohne zuvor somatisch abgeklärt zu haben. Um diese Kurve zu Ende zu zeichnen: mir ist ein Vorkommnis bekannt, wonach der Ausbruch ei- nes schizophrenen Schubes wäh- rend einer Gruppentherapie vom Gruppenleiter nicht bemerkt — oder bewußt ignoriert? — wurde. Kritik, die von hier ausgeht, ist derzeit kaum verbreitet, auch wenig ange- sehen, sie wird aber kommen und eine fürchterliche Rechnung aufma- chen.

Noch ehe das geschehen ist, ziehen wir einige Konsequenzen. Wer der Meinung war wie die Psychothera- peuten, ärztliche wie nichtärztliche, man müsse den psychisch oder psy- chosomatisch Kranken durch seine Organprojektionen hindurch erken- nen, noch ehe er in die organpatho- logische Diagnostikmühle geraten ist, weil er zu leicht darin hängen- bleiben kann (jeder Praktiker hat mindestens einen derart Mehrfach- operierten in Behandlung, der sol- cherart hängengeblieben war und sich nun nicht mehr auf Psychologi- sches einläßt), muß sich jetzt korri- gieren, wieder wie früher argumen- tieren: ein Leiden ist erst dann als psychogen einzustufen, wenn wir zuvor alle organischen Möglichkei- ten ausgeschlossen haben.

Die Medizin hat nicht nur eine natur- wissenschaftliche und eine klinische Dimension, sie hat auch eine psy- chosoziale Dimension. Gegenüber gewissen einseitigen Richtungen muß jedoch festgehalten werden:

die Medizin hat auch einen medizini- schen Aspekt. Bei vielen, die sich Mühe geben, diesen unter der Hand verschwinden zu lassen, wird man übrigens schnell die psychosoziale Diagnose stellen können: sie sind entweder selbst keine Ärzte oder aber Ärzte ohne ärztliche Erfahrung.

Salopp ließe sich sagen, die Polit- Welle ist vorbei, die Sozio-Welle ebenfalls, die Psycho-Welle schwingt nach wie vor, oder wird auch sie schon schwächer? Das trifft in der Tat eine Tendenzwende, muß aber zu der Frage führen: was von alledem bleibt? Die großen Ten- denzen eines Zeitalters sind kein Wellengekräusel, sie bringen etwas mit, und es kommt darauf an, es zu bewahren. Wenn bei adäquater Ab- klärung eines Beschwerdebildes sich die biographische Ursache her- ausstellt, sollte der Arzt nicht, wie dies früher die Gewohnheit war, all- gemein beruhigen, Urlaub und Ku- ren und ein Psychopharmakon ver- ordnen, sondern entweder, wenn er über entsprechende Kenntnisse ver- fügt, selber psychologisch vorgehen oder aber delegieren und den damit betrauen, der auf diesem Gebiet ausgebildet und tätig ist. Das müs- sen nicht unbedingt Psychiater sein, das können natürlich auch Psycho- logen, Sozialarbeiter/Sozialpädago- gen oder Pädagogen leisten: sie al- so wären anzusprechen.

Überhaupt sollte nun sich durchset- zen, daß nicht die Zeit für Konkur- renzkämpfe sein kann. Die verschie- denen Angriffe von psychologischer Seite gegen die Ärzte, über einen habe ich kürzlich berichtet (7), brin- gen nichts, weil es im Gesundheits- system für alle darin arbeitenden Berufe darauf ankommt, mit den Ärzten zu kooperieren. Im Gesund- heitssystem funktioniert ohne Ärzte nichts, und wer das Gegenteil be- hauptet, täuscht sich und andere, und zwar zum Nachteil der Kranken.

Um diese Zusammenarbeit zu si-

chern, sollten entsprechende Insti- tutionen geschaffen werden, die sie gewährleisten — ich denke dabei an fächerübergreifende Gemein- schaftspraxen, also Gemeinschafts- praxen nicht nur von Ärzten, son- dern auch unter Beiziehung von Psychologen und Sozialarbeitern.

Ein optimales Gesundheitssystem ist mir übrigens nur durch die Inte- gration der Sozialarbeit (Sozialpäd- agogik) vorstellbar.

5. Der mündige Patient

Was aber ist mit dem Patienten, der um optimal behandelt werden zu können, auch seinerseits etwas bei- tragen soll, nämlich Mündigkeit, wo- bei man diese Vorbedingung mit ei- nem Unterton des Vorwurfs fordert — von wem eigentlich? Von der Gesell- schaft? Man muß sie zunächst von ihm fordern! Was heißt Mündigkeit?

Gemeint ist doch dies: ein eigenes Urteil haben, und zwar auf der Grundlage von Kenntnissen. Es gibt keine andere Definition: Kenntnisse sind die Vorbedingung der Mündig- keit, eine sogenannte kritische Ein- stellung — von der Mäkelei nicht so weit entfernt — bringt nichts, was weiterführt. Der Patient soll Partner des Arztes sein, denn naturgemäß kann der Arzt besser mit einem Pa- tienten kommunizieren, der kein vollständiger Laie ist, sondern der etwas von den Dingen — sozusagen auch „vom Handwerk" — versteht.

Der Patient müßte also aufgeklärt sein — ist das überhaupt möglich?

Der Patient der Antike war es, er hatte Medizin genauso studiert wie die Ärzte, Medizin gehörte zu den obligaten Fächern der allgemeinen Bildung, aber das ist lange her, könnte es heute reproduziert werden?

Die Medien fließen über von gesund- heitlicher Aufklärung, wie die Me- dien sie verstehen, d. h. immer ein wenig an dem Besonderen, Attrakti- ven, Sensationellen orientiert, damit am Aufwendigen, Teuren, in Rich- tung noch größerer Kosten. In der Medizin aber geht es um das, was man alltäglich macht, um das graue Unsensationelle, auch um das Einfa->

712 Heft 12 vom 23. März 1978 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Was heißt: mündig für Heilung?

che, denn aller Fortschritt geht — letzten Endes — auf Abbau der Kom- plexität. Aufklärungen über die so- genannten Errungenschaften der hochtechnisierten Medizin nutzen dem Patienten eigentlich nichts. Die Medizin, um die es sich dabei han- delt, stellt im Grunde einen Sonder- bereich dar, nicht das, worauf es an- kommt, wenn man einen Laien zum Partner in einem so komplizierten System machen will, wie das Ge- sundheitswesen es darstellt.

Solche Aufklärung muß freilich erst entwickelt werden, es gibt sie noch nicht. Die Medizin als Nebenfach ist, abhängig von ihren Vertretern und deren Vorbildung, zu sehr „kleine Sozialpsychiatrie", „kleine Psycho- analyse", überhaupt „kleine Psych- iatrie", aber übrigens keine psycho- logisierte oder soziologisierte Medi- zin. Wäre sie das, könnte man ge- spannt sein: die Krankheiten einmal daraufhin dargestellt, wie sie aus ge- sellschaftlichen Beziehungen und Zwängen, aus den Familien- und Ar- beitsfrustrationen entspringen (8).

Es handelt sich leider um eine De- fektmedizin: es fehlt ihr etwas, näm- lich ausgerechnet das, was Schmerz und Leiden trägt, das Organische.

Die organische Medizin — um nicht zu sagen: die medizinische Medizin

— ist ausgeschlossen, übrigens mit einem vornehmen Gestus des Bei- seiteschiebens, als handle es sich um etwas, das man vernachlässigen kann, weil es nicht ins Gewicht fällt.

Es fällt aber lediglich in der Theorie dieser Autoren nicht ins Gewicht.

Was fehlt, ist die Brücke zu den or- ganischen Krankheiten: das sind diejenigen, die man zuerst kennen muß, wenn man sicher sein will, kei- nen Fehler zu begehen bei der Fo- kussierung auf den psychosozialen Bereich, und es sind diejenigen, die das Schicksal machen.

Der mündige Patient muß in der La- ge sein, darüber ein Urteil sich zu bilden und darüber sprechen zu können, was zwei grundsätzlich ver- schiedene Dinge sind. Sprechende Medizin heißt nicht etwa, sich nur mit der psychologischen und kom- munikativen Seite der Medizin be- schäftigen, sondern es meint einen

Entschluß: das Eintreten aller Betei- ligten nämlich in einen Raum herr- schaftsfreier Interaktion. Dazu ist ei- ne Willensbildung erforderlich, und diese hervorgebracht zu haben und weiter zu fördern sollte der produkti- ve Beitrag der „kritischen Jahre" ab 1968 gewesen sein. Es geht, mit an- deren Worten, um die Motivation.

6. Selbsthilfe in der Medizin Gehen wir von dem Satz aus, den uns die Entwicklung jüngster Zeit gebracht hat: stumme Ärzte heilen schlecht (9), so müssen wir den wei- teren ergänzend dazusetzen: stum- me Patienten werden schlecht ge- heilt. Das heißt nichts anderes, als daß die Medizin, durchaus auch die Medizin im engeren Sinne: also ge- rade die naturwissenschaftlich orientierte Medizin, ohne Gespräch nicht sinnvoll durchführbar ist. — Daran wird die Forderung der Selbsthilfe zu messen sein. Wir ha- ben uns gleichsam mit den Prämis- sen auseinandergesetzt. So wie. je- des Lernen im Grunde autodidak- tisch ist, ist Heilen, in welchem Sin- ne es auch immer erfolgt, im Grunde Selbsthilfe.

Alles, was getan wird in der Medizin, dient diesem Prozeß. Aber es kann nicht geschehen, daß wir, etwa nach dem uralten Spruch, den schon die Methodiker und Empiriker der sin- kenden Kaiserzeit vorbrachten und der bis heute immer wieder begeg- net: wer heilt, hat recht, hinter die Marge dessen zurückgehen, was wissenschaftlich erreicht, was ratio- nal durchschaubar gemacht worden ist. Homöopathie, Akupunktur, Na- turheilkunde sind möglicherweise Ergänzungen, jedoch niemals eine Alternative zur wissenschaftlichen Medizin. Es wäre auch keinerlei Hil- fe, würden wir uns der Inkompetenz anvertrauen, die in der Massenge- sellschaft unvermeidlich überall ihr Haupt erhebt und mit der Einfach- heit der Undifferenziertheit winkt und lockt. Die Barfußärzte, die Feld- schere sind nichts für unsere Le- bensverhältnisse. Ideal wäre ein Arzt, der in allen Dimensionen der Medizin sich auskennte — natürlich kann dies nur ein Ideal sein, aber

approximativ, tendenziell gibt es tat- sächlich einen solchen Arzt, ich mei- ne den Allgemeinarzt. Er erfaßt von seiner Sozialstruktur her mehr als nur die naturwissenschaftlichen Da- ten, er kommt in die Familien, er kennt in vielen Fällen auch den Ar- beitsplatz, ist in die Zusammenhän- ge eingeführt, und zwar auf eine un- vermeidliche Weise. Die Gesell- schaft, die ihn abschaffen will, wür- de damit zugleich ein Stück Huma- nität in der Medizin abschaffen.

Die Klagen, die geführt werden, die Institution Allgemeinarzt reiche in der hochindustrialisierten Gesell- schaft doch nicht aus, beruhen auf zwei Mängeln. Einmal bedarf diese Institution der Ergänzung durch die Sozialarbeit: die enge Berührung gesundheits- und sozialpflegeri- scher Bedürfnisse ist ein Resultat der Entwicklung der letzten Jahre.

Ihr wird in den westlichen Kulturna- tionen weitgehend auf diese Weise entsprochen: Sozialstationen sind in anderer Form in den meisten Län- dern — als Family Health Centres usw. — eingeführt. Zum zweiten be- sagen solche Klagen nichts anderes als dies: es genügt nicht, daß die Mehrdimensionalität erst dann er- worben wird, wenn sie bereits prak- tiziert werden soll, im Do-it-yourself- Verfahren. Der Allgemeinarzt muß in diese ihm abverlangte mehrdimen- sionale Denk- und Verfahrensweise systematisch eingeführt werden, al- so auf wissenschaftliche Weise. — Nicht ohne oder gegen die Wissen- schaft, nicht ohne oder gegen die Ärzte, sondern zusammen. Selbst- hilfe, als eine Beschränkung auf sich selbst, vermag zuwenig: auch sie bedarf der Einfügung in weitere Di- mensionalität (10). Medizin ist et- was, das von allen gemacht werden muß.

(Nach einem Vortrag auf der 18.

Steirischen Akademie, Graz, 12. No- vember 1977)

Literatur beim Sonderdruck Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Paul Lüth Arzt für Allgemeinmedizin 3589 Knüllwald-Rengshausen

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