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Archiv "Hilfe zur Selbsthilfe" (26.09.1974)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen BLICK ÜBER DIE GRENZEN

Es gibt viele Gründe, die Frage zu verneinen. So kann man der Auf- fassung sein, daß die Entwicklung nachhaltiger gefördert wird, wenn alle verfügbaren Kräfte zunächst

> auf eine Verbesserung der In- frastruktur,

> auf die Bildung geistigen Kapi- tals durch Förderung des Schul- und Unterrichtswesens und

> auf wirtschaftspolitische Initia- tiven

konzentriert werden. Man kann der Auffassung sein, daß die Weiterent- wicklung des Gesundheitswesens erst in einer späteren Entwick- lungsphase von Staats wegen ge- fördert werden sollte, damit die ohnehin stets knappen Mittel nicht verzettelt werden. Praktisch haben manche sozialistischen Länder Eu- ropas und Asiens in vergangenen Jahrzehnten nach dieser Rangord- nung gehandelt.

Man kann sogar der Auffassung sein, daß zu frühzeitige gesund- heitspolitische Aktivitäten den Ent- wicklungsprozeß mit zusätzlichen Problemen belasten, wie sie sich beispielsweise aus der Bevölke- rungsexplosion ergeben. Das Be- völkerungswachstum wird nämlich nicht durch eine Zunahme der Kin- derzahl, sondern durch den Rück- gang der Sterblichkeit ausgelöst, wie von der Bevölkerungsstatistik nachgewiesen werden konnte.

In den Entwicklungsländern nahm die Lebenserwartung in den letzten 10 bis 20 Jahren etwa um so viel zu wie in den Industriestaaten in den letzten 100 Jahren. Tatsächlich scheinen manche frühzeitigen gesundheitspolitischen Initiativen auch unzeitig gewesen zu sein, weil sie zwar Krankheiten, nicht aber deren Ursachen aus der Welt ge- schafft haben.

Die radikale Frage danach, ob ge- sundheitspolitische Maßnahmen wirklich zu den Prioritäten der Ent-

wicklungspolitik gehören, führt zu der weiteren Frage: Warum wird überhaupt medizinische Entwick- lungspolitik getrieben?

Prinzipiell gibt es zwei Motiva- tionen:

> Humanitäre Beweggründe; die medizinische Entwicklungspolitik erscheint dann gleichsam als Selbstzweck

> Nützlichkeitserwägungen im Dienste der sonstigen ökonomi- schen, sozialen und politischen Entwicklung.

Natürlich können sich auch die humanitären Beweggründe mit den utilitaristischen Erwägungen ver- knüpfen. So wird vielfach darauf hingewiesen, daß die im Verlauf des ökonomischen Entwicklungs- prozesses notwendigerweise auf- tretenden sozialen Anpassungskri- sen nur dann ohne unerträgliche Spannungen zu überwinden sind, wenn humanitäre Hilfen den ökono- mischen Prozeß begleiten.

Die Grundsatzproblematik kann hier nicht breit ausgefächert und vertieft werden. Es muß zunächst genügen, diese Fragen gestellt zu haben, damit wir uns bei der wei- teren Erörterung von Grundproble- men der medizinischen Entwick- lungspolitik wenigstens des Zu- sammenhanges von Motivationen und Aktionen bewußt sind.

Die Gesundheit der Bevölkerung im Entwicklungsprozeß

Die Aufgaben der medizinischen Entwicklungspolitik ergeben sich allenthalben

> aus den vorgegebenen Proble- men der Morbidität und Mortalität in der vom Entwicklungsprozeß noch nicht berührten Population

> aus der Veränderung der Ökolo- gie durch den Eingriff in überkom- mene Ordnungen während des Entwicklungsprozesses

Hilfe zur Selbsthilfe

Grundprobleme der medizinischen Entwicklungspolitik aus der Sicht der europäischen Industriestaaten

J. F. Volrad Deneke

Wer den Problemen der medizinischen Entwicklungspolitik auf den Grund gehen will, der muß zunächst fragen: ist medizinische Ent- wicklungspolitik überhaupt notwendig, zweckmäßig und wünschens- wert? Entwicklungspolitik hat viele Möglichkeiten, Prioritäten zu setzen. Gehören gesundheitspolitische Aktivitäten tatsächlich zu den Prioritäten?

DEUTSCHES .21.RZTEBLATr Heft 39 vom 26. September 1974 2803

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Medizinische Entwicklungspolitik

> aus gesundheitlichen Proble- men, die als Phänomene der Indu- strialisierung und der durch diese bewirkten gesellschaftlichen Ent- wicklung auftreten.

Die vorgegebenen Probleme finden sich in aller Regel auch noch Jahr- zehnte nach Beginn des Entwick- lungsprozesses vor allem in den ländlichen Regionen. Säuglings- und Kindersterblichkeit, relativ ge- ringe durchschnittliche Lebenser- wartung und Gefährdung durch Seuchen charakterisieren die vor- gegebene Struktur der Morbidität und Mortalität. Die dringlichsten Aufgaben der kurativen Medizin und der Prävention sind in diesen vorgegebenen Problembereichen entsprechend vorgezeichnet.

Medizinische Entwicklungspolitik kann hier zwar partiell und regional Hilfe bringen. Sogenannte Urwald- lazarette, Versorgungsstationen und bewegliche Feldambulatorien können die medizinische Versor- gung wirksam verbessern. Sie wer- den auch die durchschnittliche Le- benserwartung steigern, weil in al- ler Regel der präventive und kurati- ve Einsatz der modernen natur- wissenschaftlichen Medizin sehr rasch die Säuglings- und Kinder- sterblichkeit vermindert und sehr rasch auch in vielen akuten Fällen Erkrankungen überwinden hilft, die ohne den Einsatz der modernen naturwissenschaftlichen Medizin — beispielsweise durch wirksame Arzneimittel — zum Tode führen.

Auf die Dauer jedoch haben derar- tige Aktionen keine nachhaltige, das Ganze fördernde entwicklungs- politische Bedeutung, weil sie eben, aufs Ganze gesehen, an Symptomen der ökologischen und sozialen Struktur kurieren, nicht aber an den Wurzeln der Übel.

Insbesondere bleiben derartige Ak- tionen auf die Dauer ohne wirkliche entwicklungspolitische Bedeutung, wenn die Kontinuität der Organisa- tion solcher medizinischen Ent- wicklungshilfe nicht aus eigener Kraft der betreffenden Nationen

gewährleistet ist. Sie bleiben Hilfe- leistungen gleichsam im Kolonial- stil, da sie von sich aus den vor- industriellen Status nicht verändern.

Das gilt sogar, wie wir inzwischen mehr und mehr lernen, für großzü- gige und zunächst auch sehr wirk- same Maßnahmen der Seuchen- bekämpfung: Wenn Wirtschaft und Gesellschaft im vorindustriellen Status verharren, dann kehren über kurz oder lang die Seuchen in die mit großer Mühe und mit großem Aufwand entseuchten Gebiete und

Populationen zurück.

Interdependenz ökonomischer sozialer und

gesundheitspolitischer Prozesse Einen entwicklungspolitischen Sinn können Aktionen in diesem Be- reich der vorgegebenen Probleme nur dann haben, wenn die betref- fenden Populationen über kurz oder lang auch durch sonstige Entwick- lungen in den ökonomischen Ent- wicklungsprozeß einbezogen wer- den, oder wenn diese gesundheits- politischen Aktivitäten als Vorpo- sten einer geschichtlichen Verän- derung den ökonomischen und so- zialen Entwicklungsprozeß vorbe- reiten helfen. Das ist dann der Fall, wenn diese Maßnahmen beispiels- weise die physische Leistungs- fähigkeit und Belastbarkeit sowie die psychische Bereitschaft zum Arbeitseinsatz für den Entwick- lungsprozeß steigern. Man wird sich jedoch sehr genau überlegen müssen, ob ausgerechnet gesund- heitspolitische Aktivitäten wirklich zweckdienliche Ansätze sind, mit deren Hilfe der Entwicklungspro- zeß in Gang gesetzt oder vorberei- tet werden könnte.

Sofortige gesundheitspolitische Ak- tivität ist dagegen überall dort an- gezeigt, wo der Entwicklungspro- zeß als Eingriff in bestehende Ord- nungen eine Veränderung der ge- samten Ökologie und Sozialstruk- tur in Gang setzt und wo er durch diese Veränderung Gefährdungen oder Schädigungen der Gesundheit der Bevölkerung bewirkt.

In der ersten Phase solcher Verän- derungen der Ökologie tritt in aller Regel zunächst eine Beunruhigung der bis dahin in bestimmten Ord- nungen lebenden Menschen ein.

Das Agens der Mobilität breitet sich aus. Dabei wandern besonders aktive und mobile Elemente in die sich bildenden industriellen Zen- tren ab. Die verbleibende Popula- tion wird sich gleichzeitig ihrer ökonomischen Lage im Unter- schied zu der Situation in den in- dustriellen Zentren bewußt.

Oft sind die ersten Kontakte mit der neuen Zivilisation Aufklärung, Auflehnung und Alkohol. Wachsen- de Märkte greifen mit ersten Ange- boten aus einer bis dahin völlig fremden Welt in die alten Ordnun- gen ein, ohne daß die bis dahin selbstgenügsamen lokalen Märkte sehr viel anderes als billige Ar- beitskraft oder folkloristische Handwerkskunst dagegensetzen könnten. Damit steht am Anfang die Gefahr einer Ausbeutung, die sofort auch nach der Gesundheit der betroffenen Menschen greift.

In dieser Situation des ersten Ein- griffs in die überkommene Ökologie und Sozialstruktur muß medizini- sche Entwicklungshilfe sofort ein- setzen und sofort auch ganz sicher wesentlich mehr sein als nur ein Alibi für die zerstörerischen Wir- kungen durch diese Veränderung der überkommenen Ordnung. Dabei stellen sich zwei Aufgaben:

> Die Menschen müssen wegen der zusätzlichen gesundheitlichen Belastungen individualmedizinisch betreut werden, und zwar kurativ wie präventiv.

> Die Veränderung der sozialen und natürlichen Umwelt muß in vorausschauender Umweltgestal- tung gesteuert werden; die Bevöl- kerung muß vor industrieller Ge- fährdung der Gesundheit geschützt werden.

Beiden Aufgaben gebührt Priori- tätsrang, wenn Krisen verhütet, wenn späteren Gefährdungen vor-

2804 Heft 39 vom 26. September 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Medizinische Entwicklungspolitik

gebeugt werden soll. So genügt es beispielsweise nicht, wenn nur Ka- pital und Kredite gegeben werden, um Industrien anzusetzen; von vornherein muß die medizinische Versorgung der in die industriellen Zentren drängenden Menschen bedacht, organisiert und sicher- gestellt werden. Kein Kapitalauf- wand, kein Kredit sollte für Indu- strieansiedlungen gegeben werden, wenn nicht entsprechende Prozent- sätze der Kapitalinvestitionen für die Infrastruktur der Gesundheits- sicherung bereitstehen und einge- setzt werden.

Von vornherein ist in die Planung der Infrastrukturentwicklung auch der Umweltschutz einzubeziehen.

Die geschichtlichen Fehler der heu- te hoch entwickelten Industrie- staaten können vermieden wer- den, wenn die Infrastrukturplanung in den Entwicklungsländern von vornherein die Prinzipien men- schenfreundlicher Umweltgestal- tung zu verwirklichen trach- tet.

Schließlich gilt es, so früh wie möglich die neuen gesundheitli- chen Probleme der Industriegesell- schaft zu erkennen und alle Maß- nahmen so einzurichten, daß die Entwicklung des Gesundheitswe- sens 'von Beginn an die typischen Zivilisationsschäden gar nicht erst setzt. Dabei sollten die überkom- menen Probleme im Zuge des Fortschritts — konform zu den Ver- änderungen des Systems — gelöst werden.

Wirtschaftliche und soziale Praxis, Gesetzgebung und Verwaltung soll- ten beispielsweise von vornherein Mindestnormen arbeitsmedizini- scher Bedingungen bei der Indu- strieansiedlung berücksichtigen.

Arbeits- und Unfallschutz sollten nicht erst nachträglich in die Be- triebe oder in das Verkehrswesen eingebaut werden müssen.

Wo der geschichtlichen Erfahrung entsprechend zu Recht die Steige- rung der Agrarproduktion den Ent- wicklungsprozeß einleitet bzw. von

vornherein begleitet, dort sollten auch die Erkenntnisse der moder- nen Lebensmittelhygiene möglichst von vornherein berücksichtigt wer- den.

Beim Aufbau und Ausbau des Schul- und Gesundheitswesens sollten die Themen der persönli- chen Lebensführung in Ernäh- rungsgewohnheiten und ‚Hygiene in die ersten Lernprozesse mit ein- gegeben werden.

Das System der Gesundheitssicherung

Die Vollversammlung der Vereinten Nationen hat am 24. Oktober 1970 eine internationale Strategie für die zweite Entwicklungsdekade verabschiedet. Darin heißt es unter

„Ziele und Aufgaben":

„Notwendig ist: Aufstellung ei- nes umfassenden Gesundheitspro- gramms durch jedes Entwicklungs- land zur Verhütung und Behand- lung von Krankheiten sowie allge- mein zur Niveauverbesserung im Gesundheitswesen und in den sta- tionären Verhältnissen."

Unter „Entwicklungspolitische Maß- nahmen heißt es dann weiter:

„Die Entwicklungsländer stellen wenigstens ein Minimalprogramm für die Gesundheitsfürsorge auf, in dessen Rahmen die grundlegen- den Einrichtungen — einschließlich solcher für medizinische Ausbil- dung und Forschung — für die me- dizinische Grundversorgung eines bestimmten Prozentsatzes der Be- völkerung bis Ende der Dekade geschaffen werden. Hierzu gehören Dienste zur Vorbeugung und Be- handlung sowie zur Gesundheits- förderung. Alle Entwicklungsländer streben an, für einen bestimmten Prozentsatz ihrer Bevölkerung — sowohl in städtischen wie in länd- lichen Siedlungsgebieten — eine angemessene Trinkwasserversor- gung zu schaffen, wobei bis zum Ende der Dekade ein Mindestziel erreicht werden soll. Die Industrie- länder unterstützen die Bemühun-

gen der Entwicklungsländer um He- bung ihres Gesundheitszustandes im Rahmen des Möglichen. Insbe- sondere liefern sie Geräte und Arz- neimittel und leisten Hilfe bei der Erarbeitung einer Strategie der Ge- sundheitsförderung und bei der Verwirklichung von Teilaufgaben wie Forschung und Ausbildung von Personal auf allen Ebenen. Ge- meinsame internationale Bemühun- gen gelten der Durchführung einer weltweiten Kampagne, in deren Verlauf bis Ende der Dekade in möglichst vielen Ländern eine oder mehrere der Seuchen ausgerottet werden sollen, die noch in zahlrei- chen Gegenden die Menschen heimsuchen. Die Industrieländer und die internationalen Organisa- tionen unterstützen die Entwick- lungsländer bei der Gesundheits- planung und bei der Schaffung von Einrichtungen im Bereich des Ge- sundheitswesens."

Ziel und Aufgaben sind umfassend formuliert. Die notwendigen ent- wicklungspolitischen Maßnahmen sind angesprochen. Voraussetzung für die Verwirklichung alles dessen, was hier von der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 24.

Oktober 1970 über die internationa- le Strategie auf dem Gebiete der Gesundheitspolitik beschlossen worden ist, bleibt jedoch, daß zu- nächst eine Analyse des Ist-Zu- standes erstellt und dann ein Or- ganisationssystem der Gesund- heitssicherung und Gesundheits- förderung konzipiert wird, mit des- sen Hilfe die Regierung in der Lage ist, Planungen auf der Grundlage einer sozialhygienischen Analyse, wie z. B. die Seeligers über Togo, auch durchzuführen.

Es liegt vielleicht in der Struktur der Vereinten Nationen selbst, daß die Behandlung dieser so wichtigen Probleme allzu lange Zeit praktisch ausgeklammert worden war. Die Tatbestände, die Interessen und die Überzeugungen hinsichtlich der Zweckmäßigkeit bestimmter Ord- nungssysteme sind in Ost und West und in den Ländern der

„Dritten Welt" so unterschiedlich, daß die Behandlung dieser so DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 39 vom 26. September 1974 2805

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Medizinische Entwicklungspolitik

wichtigen Vorfragen der Infrastruk- tur des Gesundheitswesens — erst jetzt von der WHO in ihrer Wich- tigkeit betont — zu lange vernach- lässigt wurden. Die daraus resul- tierenden Gefahren sind

> die Diskrepanz zwischen voll- kommenen Plänen und höchst un- vollkommener Durchführung

> Fehlinvestitionen auf Grund mangelhafter Kenntnisse der Mor- biditätsstruktur und Hygieneproble- me

> kostspielige punktuelle Aktivi- täten versickern oder schlagen in Mißerfolge um, weil sie nicht systemimmanent geplant und durchgeführt werden.

Vorschläge der

Weltgesundheitsorganisation Von der Weltgesundheitsorganisa- tion wurden daher für die Zweite Entwicklungsdekade folgende Prio- ritäten vorgeschlagen:

> Ausbildung und Fortbildung von Gesundheitspersonal

> Nationale Gesundheitsplanung unter besonderer Berücksichtigung der Infrastruktur.

Tatsächlich haben es die Ent- wicklungsländer in ihrer Entschei- dung für die Systematik der Ge- sundheitssicherung und Gesund- heitsförderung unendlich viel schwerer als die hochentwickelten Industrienationen. Die Größe der Aufgabe wird charakterisiert von der Diskrepanz zwischen politi- schem Ziel und sozialökonomi- scher Wirklichkeit. Das wird vor allem deutlich

> in der Sozialstruktur

> in der Alters- und Morbiditäts- struktur

> in der Umwertung aller Werte.

Im Vergleich zu den hochent- wickelten Industriestaaten finden

wir — jeweils in höchst unter- schiedlicher Profilierung — in den Entwicklungsländern stets eine grö- ßere Disparität in der Wohlstands- struktur der Bevölkerung vor. Eine relativ kleine Schicht kann sich zu hohen Preisen „Gesundheit" kau- fen, während breite Massen ihre Gesundheit verkaufen müssen, um überhaupt leben zu können. In vie- len Entwicklungsländern beginnt sich erst ganz allmählich eine mitt-

lere Schicht, wie deren Ausbrei- tung und deren Wachstum für hoch- industrielle Nationen so sehr cha- rakteristisch ist, in kleinen Minder- heiten zu bilden. Art und Umfang der Teilhabe am Markt ist in etwa identisch mit Art und Umfang der Teilhabe an der medizinischen Ver- sorgung.

Große regionale Unterschiede sind für diese Art von Versorgungs- tatbeständen charakteristisch: In den Hauptstädten pulsiert moder- nes Leben. In den immer breiter werdenden Randzonen dieser Metropolen siedelt sich mit der Sehnsucht nach industriellem Auf- stieg zugleich soziales Elend an.

Und draußen im Lande werden sich diejenigen, die an diesem moder- nen Markt gar nicht teilnehmen, ihrer Armut und ihrer Hilflosigkeit bewußt.

Gleichzeitig ändert sich die Alters- struktur und die Morbiditätsstruk- tur der in den Sog industrieller Ent- wicklungen gezogenen Nationen.

Mit der Bevölkerungsexplosion breitet sich der Hunger aus. Und die Anfälligkeit für Seuchen und Alko- holismus wächst in den Einzugsge- bieten der industriellen Zentren auf Grund der entwurzelten prole- tarischen Situation. Die von der In- dustrialisierung bewirkte Störung des ökologischen Gleichgewichts türmt die gesundheitspolitischen Probleme zu einem bis dahin in diesen Ländern nicht gekannten Ausmaß.

An dieser Stelle zeigt sich beson- ders deutlich, daß die Diskrepanz zwischen den Industriestaaten und

denjenigen Ländern, die wir als Entwicklungsländer bezeichnen, immer größer wird — trotz aller entwicklungspolitischen Anstren- gungen der Industrienationen.

Das liegt im, wesentlichen daran, daß auch die Industriestaaten sich weiterentwickeln: Der Beschleuni- gungsfaktor ihres Fortschrittes ist aber unvergleichlich größer als der Beschleunigungsfaktor der Ent- wicklung in den Entwicklungslän- dern. Der Ausgleich dieser noch immer wachsenden Diskrepanzen liegt in weiter Ferne. Die Grund- probleme der medizinischen Ent- wicklungspolitik sind in diese Dyna- mik eingewoben.

Damit ist es in allen Entwicklungs- ländern heute noch viel zu früh, sich von den Möglichkeiten eines breiten Wachstums des Lebens- standards gleichzeitig auch schon eine wachsende Chance des Über- lebens zu versprechen. Vielfach entsteht überhaupt erst durch den Entwicklungsprozeß „Nachfrage nach Gesundheit". Denn dieser Prozeß ist zugleich ein Prozeß, in dem sich das Bewußtsein der Men- schen wandelt, in dem eine Um- wertung aller Werte erfolgt. Krank- heit und Tod werden nun nicht mehr nur als Naturereignisse hin- genommen, als Schicksal oder als Lohn Gottes.

Die Möglichkeiten der Heilung be- schränken sich damit nicht mehr auf natürliche Selbsthilfe, auf Han- deln nach familiärer überkomme- ner Erfahrung, nicht mehr auf Magie und Zauber. Heilung wird nun auch nachgefragt als medizinisch-na- turwissenschaftliches Ereignis, das zu fordern jedermann ein Recht hat, weil dieses Heilungsereignis technisch und ökonomisch mach- bar geworden zu sein scheint.

• Wird fortgesetzt

Anschrift des Verfassers:

J. F. Volrad Deneke 5 Köln-Lindenthal Haedenkampstraße 1

2806 Heft 39 vom 26. September 1974 DEUTSCHES .ÄRZTEBLATT

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