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Arztfehler und Haftpflicht

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Academic year: 2022

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(1)

Prof. Dr. Christian Katzenmeier WWU Münster – LL.M. Medizinrecht

Arztfehler und Haftpflicht

A. Behandlungsfehlerbegriff ... 2

B. Maßstab ... 4

I. Standards als Bezugsgröße ... 4

1. Begriff des Standards ... 4

2. Standards und Leitlinien ... 6

3. Standards und medizinischer Fortschritt ... 7

4. Abhängigkeit des Rechts von der Medizin ... 8

5. Abstufungen des Standards ... 9

II. Kostendruck und Standard ... 10

1. Ressourcenknappheit ... 11

a) Effiziente Mittelverwendung ... 11

b) Rationierung medizinischer Leistungen ... 12

(aa) Ort der Entscheidung ... 13

(bb) Der Arzt zwischen Individual- und Allgemeinwohl ... 13

2. Spannungsverhältnis zwischen Haftungs- und Sozialrecht ... 15

a) Rechtsprechung ... 16

b) Literatur ... 17

3. Ausblick ... 18

C. Organisationsfehler ... 20

I. Dogmatische Einordnung ... 20

II. Organisationspflichten ... 21

III. Arbeitsteilung im Medizinbetrieb ... 22

1. Horizontale Arbeitsteilung ... 23

2. Vertikale Arbeitsteilung ... 25

3. Anfängeroperation/Weiterbildung zum Facharzt ... 26

4. Delegation ärztlicher Aufgaben ... 26

5. Substitution ärztlicher Leistungen ... 28

D. Qualitätssicherung ... 30

E. Therapiefreiheit des Arztes ... 30

I. Notwendigkeit eines Beurteilungs- und Entscheidungsraumes ... 30

II. Methodenstreit und Recht ... 31

III. Gründe für die ärztliche Therapiefreiheit ... 32

1. Medizinischer Fortschritt ... 33

2. Individualität des Behandlungsgeschehens ... 34

3. Patientenautonomie ... 34

IV. Sorgfalts- und Aufklärungspflichten als unausweichliches Korrelat ... 35

1. Befunderhebung ... 35

2. Fachkenntnisse und Abwägung ... 36

3. Aufklärungspflichten ... 37

4. Therapiefreiheit und Krankenversicherungsrecht... 38

a) Leistungsbeschränkungen ... 39

b) Wirtschaftliche Informationspflicht ... 40

F. Außergerichtliche Streitbeilegung ... 42

I. Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen ... 43

II. Mediation bei Störungen des Arzt-Patient-Verhältnisses ... 45

G. Versicherungsrechtliche Fragen ... 46

I. Geltendes Recht ... 46

1. Haftpflichtversicherung des Arztes ... 46

(2)

2. Versicherungsschutz des Patienten ... 48

3. Verbleibende Funktionen des Arzthaftungsrechts ... 48

II. Reformüberlegungen ... 49

1. Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz ... 49

2. Sonderfall „Geburtsschäden“ ... 51

3. Haftungsbegrenzung ... 54

4. Patientenentschädigungs-/Härtefallfonds ... 58

(3)

Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 8. Aufl. 2021

Kap. X: Arztfehler und Haftpflicht

1

Ärztliches Handeln muss drei grundsätzlichen Voraussetzungen genügen, um beruflich legitimiert zu sein und vor dem Recht bestehen zu können.1 Erstens fordert der Eingriff eine sachliche Rechtfertigung (zB medizinische Indikation,2 d.h. der ärztliche Heilauftrag muss die vorgesehene Maßnahme umfassen und gebieten).3 Dass § 630a Abs. 1 BGB von medizinischer Behandlung spricht, aber keine medizinische Indikation verlangt, lässt nicht den Schluss zu, der Gesetzgeber erachte diese bei ärztlichem Handeln für entbehrlich, vielmehr wird so sichergestellt, dass die Pflichten der §§ 630a–h BGB gerade auch bei indikationslosem medizinischen Handeln gelten. Zweitens bedarf der Arzt des Einverständnisses seines aufgeklärten Patienten (informed consent).4 Drittens hat er bei der Durchführung des Eingriffs den fachlichen Regeln zu entsprechen (Verfahren lege artis). Verletzt der Arzt die Pflicht zur fachgerechten Behandlung oder missachtet er das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, so ist er zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Behandlungsfehler und ärztliche Eigenmacht stellen die zwei wesentlichen haftungsbegründenden Verhaltensweisen dar.5 Beiden Erscheinungsformen liegen Pflichten zugrunde, die sowohl als besondere im Vertragsverhältnis als auch als allgemeine deliktsrechtliche Pflichten anerkannt sind.6

2

In der Vergangenheit hat sich das Deliktsrecht zum primären Instrument der Verhaltenssteuerung und Schadenszuweisung im Sozialbereich der Arzthaftung entwickelt.7 Die wesentlichen Grundsätze zur Arzt- oder Krankenhaushaftung wegen Behandlungsfehlers oder Aufklärungspflichtverletzung, vom Pflichtenprogramm bis zur Beweislastverteilung, sind von den Gerichten im Recht der unerlaubten Handlungen herausgebildet worden. In der Gesetzesbegründung zu den §§ 630a–h BGB wird die Erwartung zum Ausdruck gebracht, die deliktische Haftung werde neben der vertraglichen Haftung

„weiter an eigenständiger Bedeutung einbüßen“, sie habe „nur noch eine eigenständige Bedeutung,

1 Vgl. Laufs MedR 1986, 163 (164); ders. in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 6 Rn. 1; aus strafrechtlicher Perspektive Eser/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder StGB § 223 Rn. 34 ff.

2 Zum Indikationsbegriff Lipp MedR 2015, 762 ff.; Köberl MedR 2019, 203 ff.; Dörries/Lipp, Medizinische Indikation, 2015.

3 Zu Tendenzen einer beständigen Ausweitung des Heilauftrags in der modernen, technisierten, pluralistischen Gesellschaft vgl. Laufs, Der ärztliche Heilauftrag aus juristischer Sicht. Im strafrechtlichen Schrifttum ist str., ob das Vorliegen einer medizinischen Indikation unabdingbare Voraussetzung für eine Rechtfertigung des als tatbestandsmäßige Körperverletzung qualifizierten ärztlichen Eingriffs ist; bejahend zB Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, Rn. 57a; verneinend Sternberg-Lieben, Die objektiven Schranken der Einwilligung, 1997, 191 ff. mwN.

4 Zur ärztlichen Aufklärungspflicht s. → Kap. V.

5 Katzenmeier, Arzthaftung, 273 ff. u. 322 ff.; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 295 ff. u. 402 ff.; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 68 ff. u. 200 ff.; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 164 ff. u. 379 ff.; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Kap. B. u. C.; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 75 ff. u. 185 ff. – Dokumentationspflichtverletzungen bilden regelmäßig keine eigenständige Anspruchsgrundlage, sie führen lediglich zu Beweiserleichterungen für den Patienten, so ausdr. BGH NJW 1983, 332 = MedR 1983, 67 f.; NJW 1988, 2949 = MedR 1988, 311 (312); abw. Rigizahn MedR 1995, 391 ff.

6 Vgl. Katzenmeier, Arzthaftung, 79 ff.; ders. VersR 2002, 1066 (1073 f.).

7 Vgl. Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 5 f.: „Behandlung ist hier ganz der gesundheitlichen Integrität des Patienten verbunden, deren Schutz von Hause aus Deliktsmaterie ist. (…) Für den vertragsspezifischen Schutz bloßer Vermögensinteressen lassen BGH und PatRG in der Krankenversorgung (…) kaum Raum.“; Esser/Weyers, Schuldrecht II/2, 8. Aufl. 2000, § 53 1.–3.; Katzenmeier, Arzthaftung, 83 f.; für eine stärkere Berücksichtigung der Leistungsperspektive und damit vertragsrechtliche Behandlungsfehlerhaftung E. Schmidt MedR 2007, 693 ff.

mwN.; krit. ggü. einer Aufgabe der Deliktshaftung für Behandlungsfehler Gödicke MedR 2008, 405 ff.; Replik E.

Schmidt MedR 2008, 408 ff.

(4)

wenn eine vertragliche Haftungsgrundlage fehlt“.8 Dieselbe Erwartung war bereits mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften verbunden,9 doch haben sich die Gewichte nicht zugunsten der Vertragshaftung verschoben. Umso weniger besteht Anlass zur Annahme, das Patientenrechtegesetz werde die Bedeutung des Deliktsrechts schmälern.10 Das Deliktsrecht war und es bleibt sedes materiae der Arzthaftung, künftig womöglich noch stärker als bisher. Da es nicht wie das Vertragsrecht in Paragraphen gegossen und damit auf den status quo festgeschrieben ist, könnte es sich zum eigentlichen „Neuerungsrecht“ entwickeln.11 Die Rechtsprechung bleibt der entscheidende Akteur und wird sich durch die Vorschriften zum Behandlungsvertrag nicht davon abhalten lassen, jedenfalls die deliktische Haftung des Arztes entsprechend den Verkehrsbedürfnissen fortzubilden.12 Konnte bislang ein Gleichlauf der beiden Haftungsordnungen erzielt werden, so sind Friktionen nunmehr nur eine Frage der Zeit.13

A. Behandlungsfehlerbegriff

3

Als Grundstein ärztlicher Haftung galt lange Zeit der „Kunstfehler“. Da sich aber eine allgemein anerkannte Definition des Begriffs nicht hat finden lassen und nachdrücklich Einwände gegen seine Verwendung erhoben worden sind, hat sich die höchstrichterliche Rechtsprechung mehr und mehr von dem Begriff verabschiedet. Im Interesse einer möglichst sachlichen Diskussion von Juristen und Medizinern, einer Verständigung zwischen den Disziplinen, sowie wegen seiner Mehrdeutigkeit sollte der – mit Emotionen belastete – Begriff vermieden werden.14

4

Angebrachter Terminus ist der des ärztlichen Behandlungsfehlers. Im umfassenden Sinne bezeichnet er das nach dem Stande der Medizin unsachgemäße Verhalten des Arztes. Dieses kann sowohl in einem Tun wie in einem Unterlassen liegen, in der Vornahme eines nicht indizierten wie in der Nichtvornahme eines gebotenen Eingriffs, in Fehlmaßnahmen und unrichtigen Dispositionen des Arztes bei der Anamnese, der Untersuchung, der Diagnose, der Prophylaxe, der Therapie und der Nachsorge.

Diagnose ist die Bestimmung einer körperlichen oder psychischen Krankheit. Sie wird durch die zusammenfassende Beurteilung einzelner Befunde wie beispielsweise Beschwerden, Krankheitszeichen (Symptome) oder typischer Gruppen von Symptomen (Syndrom) erstellt. Der Arzt gelangt regelmäßig über eine Anamnese und Untersuchung des Patienten zur Diagnose. Die Anamnese ist die professionelle Erfragung von medizinisch potenziell relevanten Informationen. Der Arzt hat die Vorgeschichte des aktuellen Leidens in einem Gespräch mit dem Patienten (oder ggf. einem Dritten) durch Fragen etwa nach Vorerkrankungen und Allergien, eingenommenen Medikamenten, familiären Erkrankungen, Risikofaktoren etc in Erfahrung zu bringen. Durch die Anamnese und durch körperliche, chemische

8 BT-Drs. 17/10488, 17 f.

9 Gesetz vom 24.9.2001, vgl. BT-Drs. 14/7752, 15; dazu Katzenmeier VersR 2002, 1066 (1073 f.).

10 S. auch Jaeger, Patientenrechtegesetz, Rn. 26.

11 Hart MedR 2013, 159 (165); Katzenmeier NJW 2013, 817 (823); ders., Patientenrechte und Arzthaftung, 2014, 38 ff.; Wagner in MüKoBGB Vor § 630a Rn. 33; Förster in BeckOK BGB § 823 Rn. 787; Mansel in Jauernig Vor

§ 630a Rn. 13: Deliktshaftung ist „methodisch einfacher fortzubilden, als dies nun wegen des Normenkorsetts der

§§ 630a ff. im Vertragsrecht möglich ist.“

12 A.A. Spickhoff VersR 2013, 267 (281): Die Kodifikation des Behandlungsvertrags werde „Fernwirkungen entfalten, insbesondere in Bezug auf das Deliktsrecht“, das vertragliche Pflichtenprogramm werde „auf die deliktischen Anspruchsgründe durchschlagen“, die in § 630h BGB kodifizierten Sonderregeln zur Verteilung der Beweislast könnten „im Deliktsrecht nun analog angewendet werden“; s. auch ders. MedR 2015, 845. S. aber zu Inhalt und Reichweite der heute von Rspr. und hL vertretenen sog. „einwirkenden“ Anspruchskonkurrenz Schlechtriem in BMJ, Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. II, 1981, 1591 (1601);

Katzenmeier, Vertragliche und deliktische Haftung in ihrem Zusammenspiel, 1994, 147 ff.

13 Katzenmeier MedR 2011, 201 (205); ders. NJW 2013, 817 (823); ebenso Wagner VersR 2012, 789 (801); s.

insoweit auch Mäsch NJW 2013, 1354 (1356).

14 Zur historischen Entwicklung und den Vorbehalten gegenüber dem Begriff des „Kunstfehlers“ vgl. Katzenmeier, Arzthaftung, 273 ff. mwN.

(5)

oder apparative Untersuchungen werden die Befunde erhoben. Die Befunderhebung erfolgt idR unmittelbar durch Funktionsprüfungen (Atmung, Kreislauf, Blutdruck) und Besichtigungen, Abtasten, Abklopfen und Abhören des Körpers sowie mittelbar durch naturwissenschaftliche Untersuchungen.15 Ausgehend von den vom Patienten genannten Beschwerden bzw. den offensichtlichen Symptomen sind die Befunde für die Diagnose und ggf. ihre Überprüfung zu erheben und zu sichern. Die Diagnostik endet mit der Zuordnung des Befunds zu einem Krankheitsbild durch fachgerechte Auswertung (Interpretation) der erhobenen oder sonst vorliegenden Befunde, auch Zufallsbefunde.16 In die Benennung gehen im Idealfall auch Vorstellungen über Krankheitsursache (Ätiologie) und Krankheitsentstehung (Pathogenese) ein. Bei einer gesicherten Diagnose sind keine weiteren Maßnahmen zu veranlassen, anderenfalls sind Kontrollbefunde erforderlich. Die nach Diagnostik und Chancen-Risiken-Abwägung gewählte Therapie ist die eigentliche medizinische Behandlung. Im Anschluss kann der Arzt zur Nachsorge verpflichtet sein, zu Kontrolle, Überwachung des Patienten, Nachuntersuchungen, Rehabilitation.

Von dem Behandlungsfehlerbegriff erfasst werden nicht nur die „klassischen“ Fehler bei der Behandlung selbst, sondern auch die Fehler im Behandlungsumfeld17 sowie bei der therapeutischen Information.18 Die Judikatur folgt diesem weiten Behandlungsfehlerbegriff und fragt danach, „ob der Arzt unter Einsatz der von ihm zu fordernden medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen im konkreten Fall vertretbare Entscheidungen über die diagnostischen sowie therapeutischen Maßnahmen getroffen und diese Maßnahmen sorgfältig durchgeführt hat“.19 Diagnoseirrtümer werden dabei nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet, da die Symptome einer Erkrankung nicht immer eindeutig sind, sondern auf die verschiedensten Ursachen hinweisen können.20 In der Lehre erfährt die Rechtsprechung ganz überwiegend Zustimmung,21 grundlegende dogmatische Auseinandersetzungen werden heute insoweit nicht mehr geführt, stattdessen bemüht sich das Schrifttum verstärkt um eine Strukturierung der stark wuchernden Kasuistik im Wege einer Fallgruppenbildung.22

15 Grundsätzlich hat der Arzt den Kranken persönlich, vollständig und bestmöglich zu untersuchen, wobei diese Pflicht von den Umständen, insbesondere den verfügbaren Hilfsmitteln und dem Willen des Patienten abhängt; zu den haftungsrechtlichen Grenzen ärztlicher Fernbehandlung Katzenmeier NJW 2019, 1769 ff.; Stellpflug GesR 2019, 76 ff.; Hahn, Telemedizin – Das Recht der Fernbehandlung, 27 ff.

16 Die Erhebung der Befunde gilt es von der Auswertung zu unterscheiden, auch wenn beides Bestandteil der Diagnostik ist. Die Abgrenzung ist bedeutsam hinsichtlich der unterschiedlichen beweisrechtlichen Konsequenzen eines Befunderhebungsfehlers oder eines Diagnoseirrtums, bereitet aber nicht selten Schwierigkeiten, s. dazu Kap. XI Rn. 119.

17 Giesen Arzthaftungsrecht Rn. 99 ff. mit Fallbeispielen; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, 34 ff.; zu den bes. Gesichtspunkten bei der Haftung des Arztes wegen Diagnosefehlern oder unterlassener Untersuchungen vgl.

Bischoff FS für Geiß, 345 ff.; Weber-Steinhaus/v. Mickwitz FS für Brüggemeier, 363 ff.; zu Organisationsfehlern

→ Rn. 41 ff.

18 Vgl. dazu → Kap. V Rn. 16 f.

19 BGH NJW 1987, 2289 (2291). Dabei unterscheidet die Rspr. im Ausgangspunkt zwischen Behandlungsfehler und Verschulden, mit dem Fehler ist lediglich ein Faktum festgestellt und noch keine Wertung ausgesprochen, BGH NJW 2001, 1786 (1787); 2011, 375 f. = MedR 2011, 244 (246) mAnm Jaeger; näher Katzenmeier, Arzthaftung, 186 ff. mwN.

20 BGH NJW 2003, 2827 (2828) = MedR 2004, 107 (108); Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 55 ff. mwN;

Bischoff FS für Geiß, 345 ff.; v. Pentz MedR 2017, 437.

21 Vgl. nur etwa Laufs in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 97 Rn. 5; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 100. Zur Verortung des Diagnosefehlers als Behandlungsfehler Hart Liber Amicorum Eike Schmidt, 131 ff., mit Kritik an der Unterscheidung zwischen einem ,,objektiven, aber vertretbaren Diagnoseirrtum“ und einem ,,vorwerfbaren Diagnosefehler“.

22 S. etwa Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, B 96 ff.; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, 34 ff.; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 110 ff.; Kern in Laufs/Kern, ArztR-HdB, §§ 45 ff.; Weidenkaff in Palandt § 630a Rn. 25 ff.; Voigt in NK-BGB § 630a Rn. 36 ff.; Förster in BekOK BGB § 823 Rn. 796 ff.; Wagner in MüKoBGB § 630a Rn. 145 ff.; Hager in Staudinger § 823 Rn. I 23 ff.

(6)

B. Maßstab

I. Standards als Bezugsgröße 5

Die Feststellung, ob im konkreten Fall ein Behandlungsfehler vorliegt, erfolgt anhand eines Vergleichs der tatsächlich durchgeführten ärztlichen Behandlung mit den nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft in diesem Zeitpunkt angezeigten Maßnahmen. Verwissenschaftlichung der Medizin, Technisierung und Spezialisierung haben zu einer weitgehenden Objektivierung ärztlichen Handelns geführt, die es rechtlich nachprüfbar macht.23 Die Ist-/Soll-Betrachtung erfordert Bezugsgrößen, an denen der Einzelfall gemessen werden kann.

6

Als Maßstab diente früher regelmäßig der „Stand der Wissenschaft und Technik“,24 heute wird der Begriff des Standards verwendet.25 Ursprünglich in der amerikanischen Rechtsdoktrin als „rechtlicher Normalmaßstab sozialen Verhaltens“ entwickelt, hat sich der Ausdruck in den letzten fünfzig Jahren auch im deutschen Recht durchgesetzt.26 Im Arzthaftungsrecht spielt der Standard eine wesentliche Rolle, da er zum entscheidenden Anknüpfungspunkt einer Einstandspflicht des Berufstätigen wegen Enttäuschung einer bestimmten rollenbezogenen Verhaltenserwartung geworden ist.27 Schrifttum und Rechtsprechung gehen übereinstimmend davon aus, dass Gegenstand des ärztlichen Vertragsangebots die „Zusage des Standards“ ist,28 dass der Arzt den „Standard guter ärztlicher Behandlung“ stets zu gewährleisten hat und bei dessen Unterschreitung (nicht schon jeder Abweichung)29 ein Behandlungsfehler vorliegt.30 Nunmehr bestimmt auch das Gesetz in § 630a Abs. 2 BGB: „Die Behandlung hat nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist.“

1. Begriff des Standards 7

23 Zu der Entwicklung vgl. Katzenmeier, Arzthaftung, 11 ff. Zudem hat die moderne Medizin selbst diverse Möglichkeiten der Überprüfung und Fehleraufdeckung entwickelt, die einerseits zur Qualitätskontrolle innerhalb der Medizin unverzichtbar sind, andererseits dem Geschädigten die Beweisführung erleichtern, Franzki MedR 1994, 171 (172). Zur Bedeutung der Evidenz-basierten Medizin (EbM) als einer empirischen Methode der Verwissenschaftlichung durch eine Qualitätsrangfestlegung für medizinische Evidenzen hinsichtlich der Normbildung und -anwendung sowohl in der Medizin als auch im Recht vgl. Hart MedR 2000, 1 ff.; ders. MedR 2015, 1 ff.; s. auch Francke/Hart MedR 2008, 2 ff.; Steffen FS für Deutsch, 2009, 615 ff.; Hase GesR 2012, 601 (603 f.); Raspe GesR 2011, 449 und 2013, 206; Jansen, Der Medizinische Standard, 202 ff.; krit. ggü. einer

„Arzthaftung auf der Grundlage von Statistiken“ Dumbs/Dumbs ZVersWiss 2017, 227 ff.

24 Der Terminus findet sich bisweilen auch in Gesetzen jüngeren Datums, vgl. etwa § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 GenDG.

Zum „Stand der medizinischen Wissenschaft“ als Rechtsbegriff Kriele NJW 1976, 355 ff.

25 Näher Katzenmeier, Arzthaftung, 277 ff.; Laufs/Kern in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 97 Rn. 3; Deutsch NJW 1987, 1479 (1480 f.); ders. JZ 1997, 1030 (1031).

26 Eingang in die deutsche Rechtsliteratur fand der Begriff insbes. durch die Schrift von Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, 96 ff., 150 ff., 224, 335.

27 Vgl. Katzenmeier, Arzthaftung, 89 ff. zur „Berufshaftung“ als Einstandspflicht des Arztes für den Standard eines Berufskreises, hinter dem die unterschiedlichen Haftungsgründe Vertrag und Delikt zurücktreten. Zu den Standards nichtärztlicher Heilberufe s. Katzenmeier in BeckOK-BGB § 630a Rn. 179 ff. mN.

28 Uhlenbruck in Laufs/Uhlenbruck, ArztR-HdB, 32002, § 39 Rn. 9; Deutsch/Spickhoff Medizinrecht Rn. 145.

29 Zur Therapiefreiheit s. des Arztes → Rn. 83 ff.; zur Placebobehandlung s. Katzenmeier, MedR 2018, 367 ff.

30 Vgl. BGHZ 144, 296 (305 f.) = NJW 2000, 2737 (2740) = MedR 2001, 197 (199); BGH NJW 1995, 776 (777);

1999, 1778 (1779); VersR 2014, 879 (881) = NJW-RR 2014, 1053 (1054); Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 169 ff.; Hart MedR 1998, 8 ff.; Kern MedR 2004, 300 (301); Müller MedR 2009, 309; v. Pentz MedR 2011, 222 und 2016, 16; rechtsvgl. Giesen IMML Rn. 140 ff., 262 ff.; bei Auslandsbehandlung s.

Katzenmeier/Kurz/Jansen, VersR 2019, 1045 (1049).

(7)

Der Standardbegriff selbst ist in der Medizin und in der Rechtswissenschaft verhältnismäßig unbestimmt.31 § 630a Abs. 2 BGB nimmt auf ihn Bezug, ohne den Begriff zu konkretisieren.32 Häufig wird er wie folgt beschrieben: „Standard in der Medizin repräsentiert den jeweiligen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat.“33 In diesem Definitionsversuch ist das Moment der Anerkennung innerhalb der Profession enthalten. Erst die Kombination von wissenschaftlicher Erkenntnis, ärztlicher Erfahrung und professioneller Akzeptanz führt zum Standard,34 der dem einzelnen Berufsangehörigen eine Orientierungshilfe geben soll,35 und dessen Nichteinhaltung Verantwortlichkeit begründet.

8

Standards zu bestimmen bedeutet nicht, Behandlungsvorgänge zu standardisieren, also eine Vereinheitlichung zu schaffen.36 Standard ist ein Vermittlungsbegriff zwischen abstrakter Norm – hier der erforderlichen Sorgfalt in § 276 Abs. 2 BGB – und konkretem Geschehen.37 Er ist einerseits Regel, als solche andererseits aber auch ausgerichtet an der individuellen Handlungssituation. Dabei meint Standard nicht das, was faktisch praktiziert wird, ist nicht bloße Beschreibung eines tatsächlichen Verhaltens von Ärzten, sondern enthält auch normativ wertende Elemente im Sinne von anerkannt Richtigem, eines in Wissenschaft und Praxis als erforderlich angesehenen Normalverhaltens.38 Gemeint ist diejenige Behandlung, die ein durchschnittlich qualifizierter Arzt des jeweiligen Fachgebiets39 nach dem jeweiligen Stand von medizinischer Wissenschaft und Praxis an Kenntnissen, Wissen, Können und Aufmerksamkeit zu erbringen in der Lage ist.40 Daran wird die konkret erbrachte ärztliche Leistung gemessen. Bleibt sie hinter dem Geforderten zurück, trifft den Verantwortlichen eine Einstandspflicht für die Folgen des Eingriffs.

31 Vgl. Hart MedR 1998, 8; Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/Lungstras/Saeger/Schmitz- Luhn/Woopen MedR 2018, 447 ff.

32 Krit. Spickhoff MedR 2015, 845 (848 f.); ders. VersR 2013, 267 (272): die Definition sei „grobschlächtig und lückenhaft geraten“; Rehborn GesR 2013, 257 (259); s. auch Taupitz GesR 2015, 65 (67 ff.).

33 Vgl. im Anschluss an Carstensen DÄBl 1989, A-2431 (A-2432) aus der juristischen Literatur etwa Hart MedR 1998, 8 (9); Laufs in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 3 Rn. 17; Steffen FS für Geiß, 487 (493); v. Pentz MedR 2016, 16; s. auch BGH NJW-RR 2014, 1053 (1054); NJW 2015, 1601 = MedR 2015, 724 (725); BSGE 81, 182 (188) = NJW 1999, 1811 (1812) = MedR 1999, 43 (44); OLG Köln VersR 2000, 493. Krit. Wagner VersR 2012, 789 (791): nicht wirklich weiterführende Umschreibung des Sorgfaltsstandards. Versuch einer Benennung von Kriterien bei Dumbs GesR 2014, 513 ff. Zu disziplinspezifischen Anforderungen und Divergenzen in Medizin,

Ethik, Ökonomie, Haftungs- und Sozialrecht

Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/Lungstras/Saeger/Schmitz-Luhn/Woopen MedR 2018, 447 ff.;

zudem die Beiträge in Jansen/Katzenmeier/Woopen, Medizin und Standard – Verwerfungen und Perspektiven, 2020.

34 Hart MedR 1998, 8 (9 f.); Kreße MedR 2007, 393 (394); Rehborn, GesR 2013, 257 (259); Jansen, Der Medizinische Standard, 198 ff.

35 Buchborn MedR 1993, 328 ff.; Fuchs in Nagel/Fuchs, Leitlinien und Standards im Gesundheitswesen, 19: „Den Leistungserbringern soll ein Handlungskorridor aufgezeigt werden, innerhalb dessen gute ärztliche Übung stattfindet“; s. auch Stöhr FS für Hirsch, 431 (432).

36 Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/Lungstras/Saeger/Schmitz-Luhn/Woopen MedR 2018, 447 (449): keine „Kochbuchmedizin“.

37 Schreiber in Nagel/Fuchs, Leitlinien und Standards im Gesundheitswesen, 167 (168); Kienzle in Bergmann/Kienzle, Krankenhaushaftung, 61. Auch § 630a Abs. 2 BGB soll den allg. Sorgfaltsmaßstab des § 276 Abs. 2 BGB konkretisieren, vgl. BT-Drs. 17/10488, 19.

38 Deutsch, Allg. Haftungsrecht, Rn. 404 mwN.; Brüggemeier, Prinzipien des Haftungsrechts, 63.

39 Zur Differenzierung nach Fachgebieten (Verkehrskreisen) ausführlich Walter, Spezialisierung und Sorgfaltsstandard im Arzt- und Anwaltshaftungsrecht, 151 ff., 172 ff.

40 Schreiber Langenbecks Arch Chir 364 (1984), 295 (296); ders. in Nagel/Fuchs, Leitlinien und Standards im Gesundheitswesen, 167 (168), im Anschluss an den früheren Vorsitzenden des VI. Zivilsenats des BGH Weber:

„gute ärztliche Übung“.

(8)

9

Das Bestehen eines Standards ist freilich keine unabdingbare Voraussetzung für eine Haftung des Arztes. Existiert (noch) kein Standard,41 so ist die Frage nach dem Vorliegen eines Behandlungsfehlers und der Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt anhand der konkreten Behandlungssituation nach den gegebenen Möglichkeiten eines Eingriffs unter möglichster Schonung der körperlichen Integrität des Patienten zu entscheiden.42

2. Standards und Leitlinien 10

Im Haftpflichtprozess erfüllen Standards eine Rationalisierungsfunktion. Sind sie in Leitlinien – durch professionelle Institutionen (insbesondere durch medizinische Fachgesellschaften) systematisch entwickelte Entscheidungshilfen über angemessene Vorgehensweisen bei speziellen diagnostischen und therapeutischen Problemstellungen43 – präzisiert, dann kann der gerichtliche Sachverständige auf der Basis der Leitlinie ein ärztlich-institutionelles und nicht nur ein individuelles Urteil abgeben, das Gericht anhand der Leitlinie eine gewisse Kontrolle der Plausibilität der Aussagen des Sachverständigen vornehmen und der Kläger den Beweis eines Behandlungsfehlers unter Umständen leichter führen.44 Dabei gilt es zu beachten, dass Leitlinien vom medizinischen Standard abweichen können, sie können Standards ärztlicher Behandlung neu entwickeln, vorhandene Standards verbessern oder bestätigen, aber auch ihrerseits veralten.45 Anders als Richtlinien (insbesondere des Gemeinsamen Bundesausschusses) lassen sich Leitlinien ärztlicher Fachgremien oder Verbände also nicht einfach mit dem für die Beurteilung eines Behandlungsgeschehens als fehlerhaft maßgeblichen medizinischen Standard gleichsetzen, sie können auch kein Sachverständigengutachten ersetzen und nicht unbesehen als Maßstab für den Standard übernommen werden.46

11

Leitlinien, die dem Standard entsprechen, haben „als Mittel der Kommunikation in der Ärzteschaft eine Qualitätssicherungsfunktion ärztlicher Behandlungen, eine Implementierungsfunktion für die Durchsetzung von Standards und damit zugleich eine Schutzfunktion zugunsten von Patienten.

Rechtlich verbindlich sind Leitlinien nur, wenn sie rechtlich rezipiert oder transformiert werden, was im Haftungs- und Sozialrecht in unterschiedlicher Weise erfolgt.“47 In der gerichtlichen Praxis erlangten

41 Zur Herausbildung von Standards vgl. etwa Michaelis in Nagel/Fuchs, Leitlinien und Standards im Gesundheitswesen, 92 ff.; Heerklotz ebd. 84 ff.; Buchborn MedR 1993, 328 (330 f.); zur Standardisierung durch Leitlinien s. Ihle, Ärztliche Leitlinien, Standards und Sozialrecht, 70 ff.; zu den Herausforderungen der Standardbildung in der modernen Medizin → Kap. I Rn. 51; näher Hart MedR 2016, 669 (671 ff.).

42 S. auch Gesetzesbegründung zu § 630a Abs. 2 BGB, BT-Drs. 17/10488, 19: „in Anknüpfung an die Rechtsprechung (ist) die Sorgfalt eines vorsichtig Behandelnden einzuhalten“; BGHZ 172, 1 = NJW 2007, 2767

= MedR 2007, 653 mBespr Hart 631 ff- = JZ 2007, 1104 mAnm Katzenmeier; zu Standard(wahrung) bei ärztlicher Fernbehandlung Katzenmeier NJW 2019, 1769 (1770 ff.).

43 Informationen zur Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) unter www.awmf.org/leitlinien.html. Zu methodischen Anforderungen an die Entwicklung von Leitlinien und den unterschiedlichen Stufen (S 1, S 2, S 3) s. Hart in Rieger/Dahm/Katzenmeier/Stellpflug/Ziegler, HK-AKM, Ärztliche Leitlinien, Nr. 530 Rn. 10 ff.; zu „evidenz-basierten Konsensus-Leitlinien“ Hart, Ärztliche Leitlinien im Medizin- und Gesundheitsrecht, 2005, 38 ff., 100 ff.; Helou/Lorenz/Ollenschläger/Reinauer/Schwartz ZaeFQ 2000, 330 ff.

44 Hart MedR 1998, 8 (12 f.).

45 Hart MedR 1998, 8 (12 f.); Walter GesR 2003, 165 (170); Frahm GesR 2005, 529 (531); Dressler FS für Geiß, 379 ff.; Taupitz AcP 211 (2011), 352 (371 ff.); v. Pentz MedR 2016, 16 (17).

46 Klarstellend BGH VersR 2014, 879 = BGH NJW-RR 2014, 1053; auch schon BGH GesR 2008, 361; Stöhr FS für Hirsch, 431 (434, 437); Heyers ArztR 2016, 201 (206 ff.); Bergmann VersR 2017, 661 (662 f.); teilw. abw.

bzgl. S 3-Leitlinien Hart in Rieger/Dahm/Katzenmeier/Stellpflug/Ziegler, HK-AKM, Ärztliche Leitlinien, Nr. 530 Rn. 21; ders. MedR 2015, 1 (2 f.); unreflektiert die Gesetzesbegründung zu § 630a Abs. 2 BGB in BT-Drs.

17/10488, S. 19; dazu krit. auch Mansel in Jauernig § 630a Rn. 18.

47 Hart in Rieger/Dahm/Katzenmeier/Stellpflug/Ziegler, HK-AKM, Ärztliche Leitlinien, Nr. 530 Rn. 1, näher zu den Funktionen Rn. 5 ff., zur Rezeption im Haftungsrecht Rn. 23 ff., im Sozialrecht Rn. 36 ff. Zu Aufgaben und Funktion berufsständischer Regelwerke vgl. weiter die Beiträge in Hart, Ärztliche Leitlinien; ders., Klinische

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sie bis vor wenigen Jahren kaum Bedeutung.48 Mittlerweile aber werden sie zunehmend zur Kenntnis genommen und von den gerichtlichen Sachverständigen in ihre Gutachtertätigkeit integriert.49 Der Umgang der Instanzgerichte mit Leitlinien ist gleichwohl noch immer von Unsicherheit geprägt.50 Vereinzelt wurde die Abweichung von einer Leitlinie als Indiz für einen Behandlungsfehler bewertet.51 Doch gilt es stets zu beachten, dass Leitlinien „als für typisierte Problemlagen aufgestellte Regelwerke das zum gesundheitlichen Wohl eines konkreten Patienten in einer bestimmten Situation Gebotene nicht ausschließlich oder abstrakt bestimmen können.“52 Leitlinien lassen dem Arzt einen Entscheidungsspielraum und Handlungskorridore, von denen in begründeten Einzelfällen abgewichen werden kann, ggfs. abgewichen werden muss.53 Entscheidend ist immer die medizinische Plausibilität der Abweichungsgründe in der konkreten Behandlungssituation.54

Nichts anderes gilt mit Blick auf die Evidenzbasierte Medizin, wonach bei Therapieentscheidungen neben dem besten wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis auch die Expertise des Arztes und die individuellen Belange des Patienten in die Entscheidung einzubeziehen sind.55

3. Standards und medizinischer Fortschritt 12

Eine Gefahr der Standardisierung liegt darin, die Medizin auf ihren gegenwärtigen Leistungsstand festzuschreiben und damit ihre Entfaltung zu behindern.56 Standards dürfen aber der Entwicklung neuer, zunächst vielleicht ungesicherter Verfahren, die bessere Chancen zur Bekämpfung von Krankheiten eröffnen, nicht im Wege stehen. Sie können daher immer nur augenblickliche Mindeststandards darstellen, hinter denen nicht zurückgeblieben, über die aber durchaus hinausgegangen werden darf und die übertroffen werden sollen.57

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Die Lehre betont den dynamischen Teil des Standards: „Bezeichnet der Stand von Wissenschaft und Technik etwas Gegebenes und Erreichtes, ja Feststehendes, so deutet Standard auf das, was der Gesetzgeber mit der erforderlichen Sorgfalt gebieten wollte, nämlich auf ein normativ auferlegtes

Leitlinien und Recht; ders./Badura/Engelmann/Raspe, Ärztliche Leitlinien im Medizin- und Gesundheitsrecht;

Igloffstein, Regelwerke für die humanmedizinische Individualbehandlung.

48 Vgl. Stöhr FS für Hirsch, 431 (433 f.) mN.; Diederichsen in Hart, Klinische Leitlinien und Recht, 105 ff.;

Rosenberger ebd. 113 (116 ff.).

49 Nachweise zur Entwicklung der Rspr. bei Hart in Rieger/Dahm/Katzenmeier/Stellpflug/Ziegler, HK-AKM, Ärztliche Leitlinien, Nr. 530 Rn. 24 ff.

50 Vgl. etwa die Rüge von BGH VersR 2011, 1202; NJW 2016, 639 (640 f.) = MedR 2016, 614 (615) mAnm Bergmann.

51 OLG Düsseldorf GesR 2007, 110; anders nachg. BGH GesR 2008, 361; klarstellend auch BGH VersR 2014, 879 (881 f.) = NJW-RR 2014, 1053 (1055).

52 Laufs in Berg/Ulsenheimer, Patientensicherheit, Arzthaftung, Praxis- und Krankenhausorganisation, 253 (254).

53 Hart GesR 2011, 387 (389); v. Pentz MedR 2016, 16 (17); zu Leitlinien und Multimorbidität Katzenmeier FS für Jaeger, 59 ff.

54 Rumler-Detzel VersR 1998, 546 (548); Taupitz AcP 211 (2011), 352 (376 ff.); grds. auch Hart MedR 1998, 8 (13); ders. ZaeFQ 2000, 65 (66). Zur Therapiefreiheit des Arztes → Rn. 83 ff.

55 Vgl. www.cochrane.de/de/ebm; so bereits Sackett/Rosenberg/Gray/Haynes/Richardson, BMJ 312 (1996), 71 (72); s. auch Gaßner/Strömer DÄBl 2014, A-784 (A-785); Mühlhauser/Meyer, DÄBl 2016, A-486 (A-487). Zu den Schwierigkeiten der Standardbestimmung in der modernen Medizin s. Hart MedR 2016, 669 ff.; Katzenmeier MedR 2019, 259 (260); näher zur sog. Individualisierten Medizin Keil, Rechtsfragen der Individualisierten Medizin, 2015, S. 138 ff.; zur Systemmedizin Ernst, Rechtsfragen der Systemmedizin, 2020.

56 Schreiber Langenbecks Arch Chir 364 (1984), 295 (297): „Standard enthält ein statisches, rückwärts gewandtes Element. Orientierung an ihm kann – vor allem beim Vordringen rechtlicher Kontrolle in der Medizin – zur Orientierung am üblichen, am sichersten erscheinenden, am wenigsten Gefahr einer Haftung begründenden Verfahren führen, das oft nicht das für den Patienten aussichtsreichste sein kann“.

57 Schreiber in Nagel/Fuchs, Leitlinien und Standards im Gesundheitswesen, 167 (169).

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fortwährendes Sichanpassen an Umstände und Gefahren.“58 Standards sind historisch bedingt und dauernden Veränderungen unterworfen. Die Beweglichkeit ist ein Wesensmerkmal des Standards.59 So erscheint der „Standard der medizinischen Wissenschaft“ wie geschaffen für die rechtliche Beurteilung ärztlicher Tätigkeit, welche „ein offenes, sich ständig wandelndes, in Veränderung und Fortschreiten begriffenes, auch von rivalisierenden Methoden bestimmtes Feld“ darstellt.60

4. Abhängigkeit des Rechts von der Medizin 14

Wenn es sich auch bei Behandlungsfehler und verkehrserforderlicher Sorgfalt um juristische Begriffe handelt, so muss das Recht bei deren Beurteilung doch von den medizinischen Möglichkeiten ausgehen.61 Die Maßstäbe bestimmen nicht Juristen durch haftungsrechtliche Anforderungen, nicht der Gesetzgeber durch Gesetzgebungsakte und nicht irgendwelche anderen Gremien, vielmehr legt sie die Medizin selbst fest.62 Der Standard und seine Bedeutung im Recht sind abhängig von der Medizin, die rechtliche Entscheidung, eine Behandlung verfehle den Standard, kann ohne medizinisch- sachverständige Beratung meist nicht zuverlässig getroffen werden.63

15

Abweichend hiervon wurde vereinzelt die Ansicht vertreten, es gälten in erster Linie juristische Maßstäbe. Gerade der Verzicht auf ärztliche Kategorien und die Betonung der normativ-juristischen Qualität des in § 276 Abs. 2 BGB vorausgesetzten Sorgfaltsbegriffs sollen dazu beitragen, der

„möglichen Gefahr einer Vernunfthoheit des Arztes über den Patienten (und den Richter) und einer umfassenden ärztlichen Gesundheitsbevormundung zu begegnen.“64 Jedoch kann das Recht nicht von sich aus sagen, was medizinisch möglich und nötig ist. Es bleibt ihm regelmäßig nichts anderes übrig, als bei der Suche nach Kriterien auf die medizinische Wissenschaft zurückzugreifen.

16

Die Gerichte sind nur in einer Art Grenzkontrolle dafür zuständig, zu überprüfen, ob die gebräuchlichen Verfahren etwa vermeidbare Risiken enthalten oder mögliche Sorgfalt außer Acht lassen.65 Dabei betreffen juristische Korrekturen selten die ärztliche Abwägung von Heilungschancen und Behandlungsgefahren. In einigen wenigen Fällen sahen sich die Gerichte veranlasst, den Medizinern vorzugeben, wo im Integritätsinteresse des Patienten mit Kontrolluntersuchungen fortgefahren oder eine

58 Laufs/Kern in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 97 Rn. 3; Deutsch, Allg. Haftungsrecht, Rn. 381; Hart ZaeFQ 2000, 65 (66); ders. in Rieger/Dahm/Katzenmeier/Stellpflug/Ziegler, HK-AKM, Ärztliche Leitlinien, Nr. 530 Rn. 18;

Dressler FS für Geiß, 379 (380 f.); Franzki MedR 1994, 171 (173); Kreße MedR 2007, 393 (395).

59 Strache, Das Denken in Standards, 1968, 17; Hart MedR 1998, 8 (9 f.).

60 Schreiber Langenbecks Arch Chir 364 (1984), 295 (296).

61 So die ganz überwiegende Einsicht auch unter Juristen, vgl. Laufs in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 6 Rn. 32;

Laufs/Kern ebenda § 97 Rn. 4, s. aber auch Rn. 6; Spickhoff in Soergel § 823 Anh. I Rn. 57; Wagner in MüKoBGB

§ 630a Rn. 126 f.; Buchner in Lilie/Bernat/Rosenau, Standardisierung in der Medizin als Rechtsproblem, 63 (64);

Schreiber, Notwendigkeit und Grenzen rechtlicher Kontrolle der Medizin, 37 f.; Dressler FS für Geiß, 379 (381 f.); Steffen MedR 1995, 190; Hart MedR 1998, 8; G. Müller MedR 2001, 487; Kreße MedR 2007, 393 (394);

Jansen, Der Medizinische Standard, 186 ff.; aus der Rspr. etwa BGH NJW 1995, 776 (777) = MedR 1995, 276 (277); BGH NJW 2015, 1601 (1602) = MedR 2015, 724 (726) = JZ 2015, 573 (574) mAnm Spickhoff.

62 Kern MedR 2004, 300 (301).

63 BGH NJW 2015, 1601 (1602) = MedR 2015, 724 (726) = JZ 2015, 573 (574) mAnm Spickhoff; Hart MedR 1998, 8; Groß, Ärztlicher Standard, 2; v. Pentz MedR 2016, 16; Spickhoff in Spickhoff, Medizinrecht, ZPO, Rn. 19;

vgl. zur zentralen Stellung des medizinischen Sachverständigen im Arzthaftungsprozess Katzenmeier, Arzthaftung, 395 ff. und in → Kap. XII Rn. 1 ff.

64 Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 108; s. auch Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, 148 f.;

Schramm, Der Schutzbereich der Norm im Arzthaftungsrecht, 93; Grams GesR 2015, 321 ff.; krit. Buchborn MedR 1984, 126 (128).

65 Schreiber, Notwendigkeit und Grenzen rechtlicher Kontrolle der Medizin, 38; ders. Langenbecks Arch Chir 364 (1984), 295 (296) mit scharfer Kritik an Giesen: „absurde Behauptung“; zu den Aufgaben des Rechts in der Medizin Katzenmeier, Arzthaftung, 61 ff.

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Therapie beendet werden muss.66 Im Übrigen aber enthält sich das Recht bei der Auswahl und Durchführung einer Behandlungsmethode mit Grund weitgehend der Formulierung eigener inhaltlicher Sorgfaltsmaßstäbe67 und die Rechtsprechung verfolgt die Grundtendenz, Ärzten im Kernbereich ihrer Tätigkeit für den Normalfall keine Verhaltensanforderungen vorzugeben.68 Häufiger erfolgen Korrekturen hinsichtlich der Organisation des Betriebs in einem Krankenhaus, etwa der Arbeitszeiteinteilung, der Lückenlosigkeit der Überwachung, der Zusammenarbeit im Team etc.69 Solche organisatorischen Fragen sind dem Recht und damit einer eigenständigen Wertung viel eher zugänglich.70

17

Festzuhalten bleibt: Die rechtlichen Standards sind auch juristische, richterliche Urteilsmaßstäbe für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten, letzten Endes aber doch weitgehend medizinischer Provenienz.71 5. Abstufungen des Standards

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Die Anbindung des Rechts an die Möglichkeiten der Medizin kommt auch darin zum Ausdruck, dass in gewissen Grenzen horizontale Abstufungen bei den geforderten Standards anerkannt werden.72 Der rasche Fortschritt in der medizinischen Technik und die damit einhergehende Gewinnung immer neuer Erkenntnisse und Erfahrungen führt zwangsläufig zu Qualitätsunterschieden in der Behandlung von Patienten, etwa je nachdem, ob sie sich in eine Stätte der Maximalversorgung wie beispielsweise eine große Universitätsklinik, eine andere persönlich und apparativ besonders gut ausgestattete Spezialklinik oder aber in ein Krankenhaus der Allgemeinversorgung begeben.73 Auch verfügen Fachärzte über andere Fähigkeiten und Möglichkeiten als Allgemeinmediziner.74 Vor dieser Wirklichkeit darf das Recht die Augen nicht verschließen. Deshalb ist bei der Bestimmung des im Einzelfall vorauszusetzenden Standards nicht generell auf den optimalen, sondern auf den unter den konkreten Gegebenheiten erreichbaren abzustellen, muss es medizinisch wie rechtlich situationsorientiert gewisse Abstufungen geben.75

66 Rspr.-Nachw. bei Pauge/Offenloch Arzthaftungsrecht Rn. 193.

67 Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, 145 ff.: die Verweisung staatlicher Rechtsnormen auf außerrechtlich generierte, dynamische Standards erweist sich als eine Form effektiven Grundrechtsschutzes.

68 Groß VersR 1996, 657 (663); zur Therapiefreiheit des Arztes → Rn. 83 ff.

69 Schreiber in Nagel/Fuchs, Leitlinien und Standards im Gesundheitswesen, 167 (168); Odersky NJW 1989, 1 (4); Rspr.-Nachw. bei Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 192.

70 Groß, Ärztlicher Standard, 2; Puhl/Dierks FS für Geiß, 477 (483 f.). Zu den Standards guter Organisation → Rn. 41.

71 Schreiber Langenbecks Arch Chir 364 (1984), 295 (296); Groß, Ärztlicher Standard – Sorgfaltspflichten, Befundsicherung, Dokumentation und Beweislast, 3.

72 Vgl. Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 87; Ulsenheimer MedR 1995, 438 f.; Kullmann VersR 1997, 529 (530 f.); Rumler-Detzel VersR 1998, 546 (547 f.); Groß, Ärztlicher Standard, 4 f.; G. Müller in Katzenmeier/Bergdolt, Das Bild des Arztes im 21. Jahrhundert, 75 (77 f.).

73 Vgl. BGH NJW 1988, 1511; 1989, 2321; 1994, 1596; zur Vorratshaltung bei Medikamenten BGHZ 102, 17 = NJW 1988, 763 = MedR 1988, 91.

74 Zu fachgebietsspezifischen und ausbildungsorientierten Differenzierungen Walter, Spezialisierung und Sorgfaltsstandard im Arzt- und Anwaltshaftungsrecht, 2004, 172 ff., 197 ff.

75 Steffen MedR 1995, 190; ders. FS für Geiß, 487 (496); Wagner in MüKoBGB § 630a Rn. 119; s. auch Giesen Arzthaftungsrecht Rn. 75; Hart MedR 1996, 60 (69): Es erfolgt „eine bereichs-, besser: organisationsbezogene rechtliche Differenzierung des medizinischen Standards. Die Begründung bezieht sich explizit auf ökonomische, dh Finanzierbarkeitsüberlegungen“; krit. aber ders. GesR 2011, 447 (448); Jansen, Der Medizinische Standard, 258 ff. – Zu qualitätssteigernden Effekten der Telemedizin, deren neue Möglichkeiten dazu führen können, „bisher geübte temporale und sektorale Differenzierungen des haftungsrechtlich maßgeblichen Standards zu verwischen und diesen flächendeckend anzuheben“, vgl. Pflüger VersR 1999, 1070 (1072); zu den damit verbundenen Rechtsfragen DGMR MedR 1999, 557 f.; Ulsenheimer/Heinemann MedR 1999, 197 ff.; Hanika MedR 2001, 107 ff.; Deutsch VersR 2007, 1323 ff.; zu deren Einsatz im Rettungsdienst Katzenmeier/Schrag-Slavu, Rechtsfragen des Einsatzes der Telemedizin im Rettungsdienst, 2010. – Zu Fragen des Standards bei ärztlicher Fernbehandlung (zulässig gem. § 7 Abs. 4 MBO-Ä) Katzenmeier NJW 2019, 1769 ff.; Stellpflug GesR 2019, 76 ff.

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Andererseits muss jedes Krankenhaus über eine dem modernen Standard gerecht werdende apparative Grundausstattung verfügen.76 Eine Klinik, die zur standardgemäßen Versorgung eines bei ihr eingelieferten Notfallpatienten außerstande ist, hat unverzüglich für eine Verlegung in das nächstgelegene geeignete Krankenhaus Sorge zu tragen.77 Entsprechendes gilt für Arztpraxen. Ein bestimmter Mindeststandard darf als unverzichtbare Basisschwelle nicht unterschritten werden.78 Bietet der Arzt oder ein Krankenhaus diesen Mindeststandard, so kann im Einzelfall doch die Pflicht bestehen, den Patienten auf anderenorts bessere Behandlungsbedingungen hinzuweisen, wobei sich die Rechtsprechung bislang zurückhält mit der Forderung nach Aufklärung über die Qualität der medizinischen Versorgung.79

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Im Übrigen gilt es stets zu beachten, dass der haftungsrechtliche Maßstab keine Rücksicht nehmen kann auf örtliche Schwächelagen, auf personelle oder instrumentelle Engpässe im konkreten Behandlungsbereich, auf die fehlende Ausbildung und Erfahrung eines Arztes, auf Lücken in der Koordination, selbst wenn sie von einer restriktiven Haushaltspolitik vor Ort diktiert werden.80 Gegenüber solchen individuellen Defiziten muss das Recht situationsfest sein, will es das Vertrauen in die Medizin und seine Leistungsfähigkeit rechtfertigen.81 Örtliche Qualitätsgrenzen finden keine Berücksichtigung bei der Festlegung der Standards. Anderes kann hinsichtlich der allgemeinen Grenzen des Systems gesundheitlicher Versorgung gelten.

II. Kostendruck und Standard 21

Vor dem Hintergrund des Kostenanstiegs im Gesundheitswesen bei immer knapper werdenden finanziellen Ressourcen gewinnt die Frage zunehmend an Bedeutung, ob Krankenhausträger und Ärzte die hohen Standards medizinischer Versorgung wie gewohnt zu halten vermögen, oder ob Maßnahmen der Kostendämpfung (vornehmlich) in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu Begrenzungen des ärztlichen Heilauftrags führen (müssen) – auch mit haftungsrechtlichen Konsequenzen.82

76 BGH NJW 1992, 754 (755); 1989, 2321 (2322); Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 6; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 637; s. auch Damm NJW 1989, 737 (739).

77 OLG Köln NJW-RR 2003, 1032.

78 Kullmann VersR 1997, 529 (531); Bergmann VersR 1996, 810 (812); krit. ggü. Standarddifferenzierungen und der Begriffsverwendung Hart NJW 2016, 222.

79 Vgl. grundlegend BGHZ 102, 17 (23 ff.) = NJW 1988, 763 (764 f.) = MedR 1988, 91 (92 ff.); BGH NJW 1984, 1810; 1987, 2291; 1988, 2302; 1992, 754; dazu Steffen FS für Geiß, 487 (502); der Rspr. zust. Laufs in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 60 Rn. 6 f.; demggü. krit. Giesen JZ 1988, 414; Damm JZ 1998, 926 (930); Hart MedR 1999, 47 (48 ff.); Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, 181 ff., 228 ff.; zur Forderung der 69. GMK nach mehr Patienteninformationen über medizinische Qualitätsfragen vgl. Katzenmeier MedR 1997, 498 f.

80 BGHZ 144, 296 (306) = NJW 2000, 2737 (2740) = MedR 2001, 197 (199); Ulsenheimer MedR 1995, 438 (440).

81 Steffen MedR 1993, 338; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 169.

82 Die Zusammenhänge zwischen wirtschaftlichen Gegebenheiten und medizinischen Erfordernissen wurden erst in den 1990er Jahren Gegenstand einer vertieften Diskussion. Aus dem inzwischen reichhaltigen Schrifttum hervorzuheben sind: Goetze, Arzthaftungsrecht und kassenärztliches Wirtschaftlichkeitsgebot, 1989; Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, 1992; Nagel/Fuchs, Soziale Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 1993; DGMR, Empfehlungen zum V. Einbecker Workshop MedR 1993, 484; AG RAe im MedR, Die ärztliche Behandlung im Spannungsfeld zwischen kassenärztlicher Verantwortung und zivilrechtlicher Haftung, 1992; dies., Die Budgetierung des Gesundheitswesens – Wo bleibt der medizinische Standard?, 1997;

Voß, Kostendruck und Ressourcenknappheit im Arzthaftungsrecht, 1999; Conradi, Verknappung medizinischer Ressourcen und Arzthaftung, 2000; Vosteen, Rationierung im Gesundheitswesen und Patientenschutz, 2000;

Steffen FS für Geiß, 2000, 487 ff.; Katzenmeier, Arzthaftung, 285 ff.; Beiträge 28. Symposion der Kaiserin- Friedrich Stiftung und DGMR 2003, ZaeFQ 2004, 173–240; s. auch DGMR MedR 2003, 711; Kick/Taupitz (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit, 2005; Schirmer/Fuchs in Katzenmeier/Bergdolt, Das Bild des Arztes im 21. Jahrhundert, 2009, 121 ff.; Arnade, Kostendruck und Standard;

Stöhr MedR 2010, 214 ff.; Gaßner/Strömer MedR 2012, 159 ff.; Makowsky VersR 2019, 983 ff.; Jansen, Der Medizinische Standard, 269 ff.

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1. Ressourcenknappheit 22

In den vergangenen Jahrzehnten sind die Ausgaben für das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik Deutschland beträchtlich gestiegen.83 Ursache dafür ist zunächst ein wachsendes Krankheitsvolumen, da die Menschen immer älter werden, der Krankheitsbegriff sich ausweitet und mit den Umweltbelastungen und Stressfaktoren im Alltag die Leiden insgesamt zunehmen.84 In noch viel stärkerem Maße vergrößert sich das Behandlungsvolumen, die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen.

Die Entwicklung der Medizin erscheint als eine „Explosion des Machbaren“.85 Fortwährend steigern sich die Angebote der Apparate- und Präparate-Medizin und wecken ihrerseits neue Ansprüche.86 Da sich mit ihren Errungenschaften der Kreis der Therapiebedürftigen ausweitet, jeder medizinische Fortschritt einen zusätzlichen Bedarf erzeugt, der nicht bestand, als es die Mittel zu seiner Befriedigung noch nicht gab, ist die Rede von der Medizin in der „Fortschrittsfalle“.87 Es zeigt sich ein immer deutlicherer „Überhang des theoretisch Machbaren über das praktisch Finanzierbare“ in der modernen Medizin,88 eine „Kluft zwischen Verheißung und Erfüllung“ öffnet sich im Gesundheitswesen.89 a) Effiziente Mittelverwendung

23

Damit möglichst viele Patienten in gleicher Weise und in ausreichendem Maße weiterhin von den Leistungen der Medizin profitieren können, sind dringend Rationalisierungen geboten, welche eine effiziente Mittelverwendung in allen Bereichen der Medizin sicherstellen.90 Gesundheitsökonomische Überlegungen leisten wichtige Hilfe bei dem Bestreben, die vorhandenen Ressourcen optimiert, d.h.

mit maximalem Nutzen für die Gesundheit aller zu verwenden.91 Dazu ist es gerade in Zeiten knapper werdender Mittel eines solidarisch finanzierten Gesundheitswesens erforderlich, von der ausschließlich individualmedizinischen Betrachtung in der Medizin abzurücken und das Wohl der Allgemeinheit mitzubedenken.92 Fragen nach Prioritäten und Präferenzen, Nutzen-Risiko-Abwägungen und Kosten- Nutzen-Relationen sowie Fragen nach dem Bedarf einzelner Gesundheitsmaßnahmen gewinnen an Bedeutung.93 Ökonomische Analysen zeigen freilich immer nur Wege auf, wie mit verfügbaren Mitteln mehr oder wie das gleiche mit weniger Mitteln zu erreichen ist, niemals sind ihre Ergebnisse selbst Entscheidungen hinsichtlich des geschuldeten Aufwandes bei Diagnose oder Therapie. Aus ethischer

83 Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes stiegen sie erstmalig im Jahre 2017 auf über eine Mrd. EUR pro Tag (insgesamt 375 Mrd. EUR; entspricht 11,5 % des BIP); 2016 wurde in der GKV die Grenze von 200 Mrd.

EUR überschritten, vgl. Statistisches Jahrbuch 2019, abrufbar über www.destatis.de, Rubrik Gesundheit.

84 Laufs in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 2 Rn. 5; Uhlenbruck MedR 1995, 427. Gerade auch eine immer leistungsfähigere Medizin trägt dazu bei, dass sich die durchschnittliche Lebenserwartung im Laufe des letzten Jahrhunderts nahezu verdoppelt hat. Mit ihren Technologien bewirkt sie in vielen Fällen allerdings nur eine Verlängerung der Zeitspanne vom Beginn einer Krankheit bis zum Tod, ohne sie abschließend zu heilen, dazu Krämer, Wir kurieren uns zu Tode, 31; Oberender FS für Gitter, 701.

85 Krämer, Die Krankheit des Gesundheitswesens, 40; ders. MedR 1996, 1 f.; Laufs in Laufs/Kern, ArztR-HdB,

§ 2 Rn. 9; ders. NJW 1996, 1571 (1575).

86 Laufs in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 2 Rn. 6; zu den Erwartungen einer „emanzipierten“ Patientenschaft Katzenmeier, Arzthaftung, 25 ff.

87 Krämer, Die Krankheit des Gesundheitswesens, 28 ff.; ders. MedR 1996, 1 (3); Laufs in Laufs/Dierks/Wienke/Graf-Baumann/Hirsch, Die Entwicklung der Arzthaftung, 1; DGMR ebd. 353; Oberender FS für Gitter, 701 ff.; Fuchs MedR 1993, 323: „Fortschritts-Ausgaben-Spirale“; Imhof, GuP 2011, 217, 220.

88 Krämer MedR 1996, 1; ders. KrV 2005, 103 (104); Arnold in Häfner, Gesundheit unser höchstes Gut?, 1999, 247 ff.

89 Flöhl zit. nach Krämer MedR 1996, 1; Fuchs MedR 1993, 323 (326); Deutscher Ethikrat, Kosten und Nutzen im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung, Stellungnahme, 2011, 16 f.

90 Zum Begriff der Rationalisierung Kingreen in ders./Laux, Gesundheit und Medizin im interdisziplinären Diskurs, 2008, 147 (151).

91 Hart MedR 1996, 60 f.; Richter EthikMed 1997, 3.

92 Deutscher Ethikrat, Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus, Stellungnahme, 2016, 54 ff, 115 ff.

93 Zu Möglichkeiten und Grenzen kostensensibler Leitlinien vgl. die Beiträge in Marckmann, Kostensensible Leitlinien, 2011 und 2015; krit. Hauck SGb 2010, 193 ff.

(14)

Sicht ist das simplifizierende Vorteil-Nachteil-Kalkül nur bedingt verwertbar, ökonomische Evaluierungen können keine Entscheidungspriorität haben, da mit der Forderung nach Gesundheit die Effektivität einer Heilmaßnahme das maßgebende Kriterium sein und bleiben muss.94

b) Rationierung medizinischer Leistungen 24

Effizienzsteigernde Rationalisierungen werden nicht ausreichen, um dem Kostenanstieg im Gesundheitswesen wirksam zu begegnen. Letzten Endes sind Rationierungen unumgänglich,95 wobei diese ethisch stets bedenklich bleiben, da sie immer einen Verzicht auf effektive Leistungen bedeuten.96 25

In der Diskussion um Verteilungsgerechtigkeit gilt es verschiedene Stufen der Allokationsentscheidungen zu unterscheiden:97 Auf der oberen Ebene der Makroallokation entscheidet die Regierung über die Verteilung des Bruttosozialprodukts auf die verschiedenen Ressorts und damit über die Höhe der Gesundheitsausgaben insgesamt. Auf der unteren Ebene der Makro-Allokation wird über die Aufteilung des Gesamtgesundheitsbudgets auf verschiedene Bereiche wie Prävention, kurative Medizin, Rehabilitation, Palliativmaßnahmen entschieden. Davon zu trennen ist die Mikroallokationsstufe, die durch praktische Behandlungskonflikte gekennzeichnet ist. Auf deren oberer Ebene geht es um Verteilungsprinzipien etwa in Abteilungen eines Krankenhauses, nach denen sich bestimmt, welche Patientengruppen welche Behandlung bekommen oder von einer Behandlung ausgeschlossen werden, welche Behandlungsart abgebrochen oder erst gar nicht aufgenommen werden soll. Auf der unteren Ebene der Mikroallokation schließlich hat der einzelne Arzt jeweils darüber zu entscheiden, welche Aufwendungen der konkrete Patient erhält.

94 Hart MedR 1996, 60 (61 f.); Richter EthikMed 1997, 3 (11); Steffen FS für Geiß, 487 (497 f.); R. Giesen ZVersWiss 2004, 557 ff.; Honecker ZVersWiss 2004, 623 ff.; Kemmler NZS 2014, 521 (529 f.); s. auch Deutscher Ethikrat, Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen - Zur normativen Funktion ihrer Bewertung, Stellungnahme, 2011; Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Zum Verhältnis von Medizin und Ökonomie im deutschen Gesundheitssystem, 2016, abrufbar unter www.leopoldina.org; AWMF, Medizin und Ökonomie - Maßnahmen für eine wissenschaftlich begründete, patientenzentrierte und ressourcenbewusste Versorgung, 2018, abrufbar unter www.awmf.org. – Weiterführend die Kritik an der utilitaristischen Theorie von Mackie, Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen, 1986, 157 ff.; dazu Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik,

52013; Maio, Lehrbuch Ethik in der Medizin, 22017, 41 ff. (sowie 395 ff. allg. zum Verhältnis von Medizin und Ökonomie).

95 Vgl. etwa Nationaler Ethikrat, Gesundheit für alle – wie lange noch?, Rationierung und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 2006, abrufbar unter www.ethikrat.org; Beschluss des 111. DÄT „Ulmer Papier“, DÄBl 2008, A-1189 (A-1194 f.), auch abrufbar unter www.bundesaerztekammer.de; Schumpelick/Vogel, Was ist uns die Gesundheit wert? Gerechte Verteilung knapper Ressourcen, 2007; Schöne-Seifert/Buyx/Ach, Gerecht behandelt?

Rationierung und Priorisierung im Gesundheitswesen, 2006; Isensee ZVersWiss 2004, 651 ff.; ders., Gedächtnisschrift Heinze, 2005, 417 ff.; Huster et al. MedR 2007, 703 ff.; ders. DVBl 2010, 1069 ff; ders. VSSR 2011, 183 ff.; ders., Denkschrift 60 Jahre BSG, Bd. 2, 2015, 223 ff.; s. auch Welti MedR 2010, 379 ff.; Oduncu MedR 2012, 359 ff.

96 Vgl. Fuchs MedR 1993, 323 (324); Bossmann MedR 1996, 456 ff.; Richter EthikMed 1997, 3 (12); Beiträge in EthikMed 2001, Heft 1–2. Zu den rechtlichen Grenzen einer Rationierung in der Medizin Uhlenbruck MedR 1995, 427 (429 ff.); Nettesheim VerwArch 2002, 315 ff.; Isensee ZVersWiss 2004, 651 (662 ff.); ders., Gedächtnisschrift Heinze, 417 (427 ff.); R. Giesen ZVersWiss 2004, 557 (576 ff.); Seewald in Seewald/Schoefer, Zum Wert unserer Gesundheit, 2008, 29 (45 ff.); Rixen in Fischer/Meyer, Gesundheit und Wirtschaftswachstum, 2010, 51 (57 ff.);

Kemmler NZS 2014, 521 ff.; speziell zur Altersrationierung Huster MedR 2010, 369 ff.; zu strafrechtlichen Risiken der Rationierung s. Sternberg-Lieben FS für Weber 2004, 69 ff.; ders. FS für Geppert, 2011, 723 ff.;

Dannecker/Streng MedR 2011, 131 ff.; zu haftungsrechtlichen Risiken → Rn. 31 ff.

97 Grundlegend Engelhardt, Foundations of Bioethics, 1986, 344 f.; s. auch etwa ders. in Sass, Ethik und öffentliches Gesundheitswesen, 1988, 35; Illhardt/Piechowiak in Kahlke/Reiter-Theil, Ethik in der Medizin, 1995, 126 ff.; v. Engelhardt DÄBl 2019, A-358 ff.

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