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Ressourcenknappheit

Im Dokument Arztfehler und Haftpflicht (Seite 13-17)

B. Maßstab

II. Kostendruck und Standard

1. Ressourcenknappheit

In den vergangenen Jahrzehnten sind die Ausgaben für das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik Deutschland beträchtlich gestiegen.83 Ursache dafür ist zunächst ein wachsendes Krankheitsvolumen, da die Menschen immer älter werden, der Krankheitsbegriff sich ausweitet und mit den Umweltbelastungen und Stressfaktoren im Alltag die Leiden insgesamt zunehmen.84 In noch viel stärkerem Maße vergrößert sich das Behandlungsvolumen, die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen.

Die Entwicklung der Medizin erscheint als eine „Explosion des Machbaren“.85 Fortwährend steigern sich die Angebote der Apparate- und Präparate-Medizin und wecken ihrerseits neue Ansprüche.86 Da sich mit ihren Errungenschaften der Kreis der Therapiebedürftigen ausweitet, jeder medizinische Fortschritt einen zusätzlichen Bedarf erzeugt, der nicht bestand, als es die Mittel zu seiner Befriedigung noch nicht gab, ist die Rede von der Medizin in der „Fortschrittsfalle“.87 Es zeigt sich ein immer deutlicherer „Überhang des theoretisch Machbaren über das praktisch Finanzierbare“ in der modernen Medizin,88 eine „Kluft zwischen Verheißung und Erfüllung“ öffnet sich im Gesundheitswesen.89 a) Effiziente Mittelverwendung

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Damit möglichst viele Patienten in gleicher Weise und in ausreichendem Maße weiterhin von den Leistungen der Medizin profitieren können, sind dringend Rationalisierungen geboten, welche eine effiziente Mittelverwendung in allen Bereichen der Medizin sicherstellen.90 Gesundheitsökonomische Überlegungen leisten wichtige Hilfe bei dem Bestreben, die vorhandenen Ressourcen optimiert, d.h.

mit maximalem Nutzen für die Gesundheit aller zu verwenden.91 Dazu ist es gerade in Zeiten knapper werdender Mittel eines solidarisch finanzierten Gesundheitswesens erforderlich, von der ausschließlich individualmedizinischen Betrachtung in der Medizin abzurücken und das Wohl der Allgemeinheit mitzubedenken.92 Fragen nach Prioritäten und Präferenzen, Nutzen-Risiko-Abwägungen und Kosten-Nutzen-Relationen sowie Fragen nach dem Bedarf einzelner Gesundheitsmaßnahmen gewinnen an Bedeutung.93 Ökonomische Analysen zeigen freilich immer nur Wege auf, wie mit verfügbaren Mitteln mehr oder wie das gleiche mit weniger Mitteln zu erreichen ist, niemals sind ihre Ergebnisse selbst Entscheidungen hinsichtlich des geschuldeten Aufwandes bei Diagnose oder Therapie. Aus ethischer

83 Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes stiegen sie erstmalig im Jahre 2017 auf über eine Mrd. EUR pro Tag (insgesamt 375 Mrd. EUR; entspricht 11,5 % des BIP); 2016 wurde in der GKV die Grenze von 200 Mrd.

EUR überschritten, vgl. Statistisches Jahrbuch 2019, abrufbar über www.destatis.de, Rubrik Gesundheit.

84 Laufs in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 2 Rn. 5; Uhlenbruck MedR 1995, 427. Gerade auch eine immer leistungsfähigere Medizin trägt dazu bei, dass sich die durchschnittliche Lebenserwartung im Laufe des letzten Jahrhunderts nahezu verdoppelt hat. Mit ihren Technologien bewirkt sie in vielen Fällen allerdings nur eine Verlängerung der Zeitspanne vom Beginn einer Krankheit bis zum Tod, ohne sie abschließend zu heilen, dazu Krämer, Wir kurieren uns zu Tode, 31; Oberender FS für Gitter, 701.

85 Krämer, Die Krankheit des Gesundheitswesens, 40; ders. MedR 1996, 1 f.; Laufs in Laufs/Kern, ArztR-HdB,

§ 2 Rn. 9; ders. NJW 1996, 1571 (1575).

86 Laufs in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 2 Rn. 6; zu den Erwartungen einer „emanzipierten“ Patientenschaft Katzenmeier, Arzthaftung, 25 ff.

87 Krämer, Die Krankheit des Gesundheitswesens, 28 ff.; ders. MedR 1996, 1 (3); Laufs in Laufs/Dierks/Wienke/Graf-Baumann/Hirsch, Die Entwicklung der Arzthaftung, 1; DGMR ebd. 353; Oberender FS für Gitter, 701 ff.; Fuchs MedR 1993, 323: „Fortschritts-Ausgaben-Spirale“; Imhof, GuP 2011, 217, 220.

88 Krämer MedR 1996, 1; ders. KrV 2005, 103 (104); Arnold in Häfner, Gesundheit unser höchstes Gut?, 1999, 247 ff.

89 Flöhl zit. nach Krämer MedR 1996, 1; Fuchs MedR 1993, 323 (326); Deutscher Ethikrat, Kosten und Nutzen im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung, Stellungnahme, 2011, 16 f.

90 Zum Begriff der Rationalisierung Kingreen in ders./Laux, Gesundheit und Medizin im interdisziplinären Diskurs, 2008, 147 (151).

91 Hart MedR 1996, 60 f.; Richter EthikMed 1997, 3.

92 Deutscher Ethikrat, Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus, Stellungnahme, 2016, 54 ff, 115 ff.

93 Zu Möglichkeiten und Grenzen kostensensibler Leitlinien vgl. die Beiträge in Marckmann, Kostensensible Leitlinien, 2011 und 2015; krit. Hauck SGb 2010, 193 ff.

Sicht ist das simplifizierende Vorteil-Nachteil-Kalkül nur bedingt verwertbar, ökonomische Evaluierungen können keine Entscheidungspriorität haben, da mit der Forderung nach Gesundheit die Effektivität einer Heilmaßnahme das maßgebende Kriterium sein und bleiben muss.94

b) Rationierung medizinischer Leistungen 24

Effizienzsteigernde Rationalisierungen werden nicht ausreichen, um dem Kostenanstieg im Gesundheitswesen wirksam zu begegnen. Letzten Endes sind Rationierungen unumgänglich,95 wobei diese ethisch stets bedenklich bleiben, da sie immer einen Verzicht auf effektive Leistungen bedeuten.96 25

In der Diskussion um Verteilungsgerechtigkeit gilt es verschiedene Stufen der Allokationsentscheidungen zu unterscheiden:97 Auf der oberen Ebene der Makroallokation entscheidet die Regierung über die Verteilung des Bruttosozialprodukts auf die verschiedenen Ressorts und damit über die Höhe der Gesundheitsausgaben insgesamt. Auf der unteren Ebene der Makro-Allokation wird über die Aufteilung des Gesamtgesundheitsbudgets auf verschiedene Bereiche wie Prävention, kurative Medizin, Rehabilitation, Palliativmaßnahmen entschieden. Davon zu trennen ist die Mikroallokationsstufe, die durch praktische Behandlungskonflikte gekennzeichnet ist. Auf deren oberer Ebene geht es um Verteilungsprinzipien etwa in Abteilungen eines Krankenhauses, nach denen sich bestimmt, welche Patientengruppen welche Behandlung bekommen oder von einer Behandlung ausgeschlossen werden, welche Behandlungsart abgebrochen oder erst gar nicht aufgenommen werden soll. Auf der unteren Ebene der Mikroallokation schließlich hat der einzelne Arzt jeweils darüber zu entscheiden, welche Aufwendungen der konkrete Patient erhält.

94 Hart MedR 1996, 60 (61 f.); Richter EthikMed 1997, 3 (11); Steffen FS für Geiß, 487 (497 f.); R. Giesen ZVersWiss 2004, 557 ff.; Honecker ZVersWiss 2004, 623 ff.; Kemmler NZS 2014, 521 (529 f.); s. auch Deutscher Ethikrat, Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen - Zur normativen Funktion ihrer Bewertung, Stellungnahme, 2011; Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Zum Verhältnis von Medizin und Ökonomie im deutschen Gesundheitssystem, 2016, abrufbar unter www.leopoldina.org; AWMF, Medizin und Ökonomie - Maßnahmen für eine wissenschaftlich begründete, patientenzentrierte und ressourcenbewusste Versorgung, 2018, abrufbar unter www.awmf.org. – Weiterführend die Kritik an der utilitaristischen Theorie von Mackie, Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen, 1986, 157 ff.; dazu Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik,

52013; Maio, Lehrbuch Ethik in der Medizin, 22017, 41 ff. (sowie 395 ff. allg. zum Verhältnis von Medizin und Ökonomie).

95 Vgl. etwa Nationaler Ethikrat, Gesundheit für alle – wie lange noch?, Rationierung und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 2006, abrufbar unter www.ethikrat.org; Beschluss des 111. DÄT „Ulmer Papier“, DÄBl 2008, A-1189 (A-1194 f.), auch abrufbar unter www.bundesaerztekammer.de; Schumpelick/Vogel, Was ist uns die Gesundheit wert? Gerechte Verteilung knapper Ressourcen, 2007; Schöne-Seifert/Buyx/Ach, Gerecht behandelt?

Rationierung und Priorisierung im Gesundheitswesen, 2006; Isensee ZVersWiss 2004, 651 ff.; ders., Gedächtnisschrift Heinze, 2005, 417 ff.; Huster et al. MedR 2007, 703 ff.; ders. DVBl 2010, 1069 ff; ders. VSSR 2011, 183 ff.; ders., Denkschrift 60 Jahre BSG, Bd. 2, 2015, 223 ff.; s. auch Welti MedR 2010, 379 ff.; Oduncu MedR 2012, 359 ff.

96 Vgl. Fuchs MedR 1993, 323 (324); Bossmann MedR 1996, 456 ff.; Richter EthikMed 1997, 3 (12); Beiträge in EthikMed 2001, Heft 1–2. Zu den rechtlichen Grenzen einer Rationierung in der Medizin Uhlenbruck MedR 1995, 427 (429 ff.); Nettesheim VerwArch 2002, 315 ff.; Isensee ZVersWiss 2004, 651 (662 ff.); ders., Gedächtnisschrift Heinze, 417 (427 ff.); R. Giesen ZVersWiss 2004, 557 (576 ff.); Seewald in Seewald/Schoefer, Zum Wert unserer Gesundheit, 2008, 29 (45 ff.); Rixen in Fischer/Meyer, Gesundheit und Wirtschaftswachstum, 2010, 51 (57 ff.);

Kemmler NZS 2014, 521 ff.; speziell zur Altersrationierung Huster MedR 2010, 369 ff.; zu strafrechtlichen Risiken der Rationierung s. Sternberg-Lieben FS für Weber 2004, 69 ff.; ders. FS für Geppert, 2011, 723 ff.;

Dannecker/Streng MedR 2011, 131 ff.; zu haftungsrechtlichen Risiken → Rn. 31 ff.

97 Grundlegend Engelhardt, Foundations of Bioethics, 1986, 344 f.; s. auch etwa ders. in Sass, Ethik und öffentliches Gesundheitswesen, 1988, 35; Illhardt/Piechowiak in Kahlke/Reiter-Theil, Ethik in der Medizin, 1995, 126 ff.; v. Engelhardt DÄBl 2019, A-358 ff.

(aa) Ort der Entscheidung 26

Da der Arzt vor Ort über die medizinische Behandlung eines konkreten, identifizierbaren Menschen entscheidet, ist er mit der Vorenthaltung effektiver medizinischer Leistungen im Einzelfall regelmäßig moralisch überfordert.98 Unumgängliche Rationierungsmaßnahmen sollten daher indirekt in Form von Sparbeschlüssen auf einer möglichst hohen hierarchischen Ebene getroffen werden.99 Nicht die interaktionelle Ebene zwischen Arzt und Patient, sondern der gesundheitspolitische Diskurs, der die Rahmenbedingungen für eine effiziente Mittelverteilung aufgrund der vorfindlichen wissenschaftlichen Gesamtanalyse festlegen muss, ist Ort der Entscheidung.100 Durch eine politisch vorweggenommene, vom gesellschaftlichen Konsens gedeckte ex ante-Beschränkung seiner Handlungsmöglichkeiten wird der Einzelne zumindest partiell von der Bürde direkter Rationierungsentscheidungen entlastet.101

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Das Interesse der interdisziplinären Gesundheitsforschung gilt aktuell der Frage, ob an die Stelle der kasuistischen, intransparenten und häufig impliziten Vorenthaltung medizinisch notwendiger102 Leistungen (Rationierung) künftig eine Rangordnung treten kann, bei der klar definierte Kriterien und transparente Verfahren zu nachvollziehbaren, akzeptablen Entscheidungen führen (Priorisierung).103 (bb) Der Arzt zwischen Individual- und Allgemeinwohl

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Ist eine Rationierung unvermeidlich, so müssen die Kriterien für die Patientenauswahl durch gesellschaftlich-demokratische Entscheidungsfindungen legitimiert sein. Es bedarf eines Allokationssystems, das strukturierte Entscheidungsvorgaben bis auf die untere Mikroallokationsebene schafft, so dass der Arzt nicht selbst für oder gegen einen Patienten entscheiden, sondern nur das Vorliegen der Faktoren einer vorgegebenen systemischen Entscheidung ermitteln muss. Ansonsten überließe man dem Arzt eine moralisch zweifelhafte Vorenthaltungspflicht, die er im Wege einer verdeckten oder impliziten Rationierung aufgrund nicht näher bestimmter Kriterien zum Nachteil einzelner Patienten zu konkretisieren hätte. Ihm käme die Rolle eines „Funktionärs austeilender Gerechtigkeit“ zu, welche den besonderen Charakter seines Dienstes grundlegend veränderte, zu deutlich mehr Rechtsstreitigkeiten führte und zu weiteren Reglementierungen des klinischen Alltags von außen.104 Im Umgang mit dem Hilfesuchenden steht der Arzt immer zuerst in dessen Diensten.105 Strategien der Mittelbeschränkung dürfen ihn nicht dazu zwingen, gesundheitsökonomische Entscheidungen am Krankenbett für oder gegen den einzelnen Patienten zu treffen.106 Gemäß dem

98 Calabresi/Bobbitt, Tragic Choices. The conflicts society confronts in the allocation of tragically scarce resources, 1978; Uhlenbruck MedR 1995, 427 (430).

99 Krämer MedR 1996, 1 (5); ders., Die Krankheit des Gesundheitswesens; Oberender FS für Gitter, 701 (707);

Künschner ZaeF 87 (1993), 559 (561).

100 Richter EthikMed 1997, 3 (11 ff.); Huster et al. MedR 2007, 703 (705); vgl. auch das „Ulmer Papier“, Beschluss des 111. DÄT, Teil A 4., DÄBl 2008, A-1189 (A-1195).

101 Oberender FS für Gitter, 701 (707); skeptisch gegenüber dem erhofften Entlastungseffekt Laufs NJW 1999, 1758 (1767).

102 Zum Begriff der medizinischen Notwendigkeit Schöne-Seifert et al. EthikMed 2018, 325 ff.

103 Vgl. dazu die Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO), DÄBl 2007, A-2750 ff.; Artikelserie im DÄBl 2009, eröffnet mit Fuchs/Nagel/Raspe, A-554; Schwerpunktheft ZEFQ 103 (2009), Heft 2 sowie 106 (2012), Heft 6; Wenner GesR 2009, 169 (178 ff.); Welti MedR 2010, 379 (381 ff.);

Huster DVBl 2010, 1069 (1073 ff.); Heyers MedR 2016, 857 (859 ff.); einen Überblick über Erfahrungen mit existierenden Priorisierungssystemen und deren verschiedenartige Wirkweisen gibt Schmitz-Luhn, Priorisierung in der Medizin; s. auch ders. FS für Dahm, 437 (438 ff.); zu in Betracht kommenden Priorisierungskriterien s. die Beiträge in Schmitz-Luhn/Bohmeier, Priorisierung in der Medizin.

104 Laufs in Nagel/Fuchs, Soziale Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 290; ders. NJW 1999, 2717 (2718).

105 Laufs, Der ärztliche Heilauftrag aus juristischer Sicht, 46 ff.; ders. in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 2 Rn. 7.

106 Hoppe MedR 2011, 216 (219); Richter EthikMed 1997, 3 (11); Oberender FS für Gitter, 701 (711). Zu entsprechenden Erfahrungen in der Praxis indes die qualitativ-empirische Studie von Naegler/Wehkamp, Medizin zwischen Patientenwohl und Ökonomisierung, 2018; s. auch Weyersberg/Roth/Woopen DÄBl 2018, A-382 ff.;

Leitsatz „salus aegroti suprema lex“ ist er gehalten, dem Kranken alles angedeihen zu lassen, was der Wiederherstellung, Erhaltung oder Verbesserung der Gesundheit dient.

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Die vorrangige Sorge des Arztes um den einzelnen Patienten bleibt freilich eingebettet in die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft.107 Ein diagnostischer oder therapeutischer Aufwand jenseits der Grenzen wirtschaftlicher Rationalität lässt sich bereits mit Rücksicht auf die Solidargemeinschaft der Versicherten nicht rechtfertigen und widerspräche auch dem Gesetz. Die Berufsordnungen der Länder bestimmen entsprechend § 1 Abs. 1 S. 1 MBO-Ä: „Ärztinnen und Ärzte dienen der Gesundheit des einzelnen Menschen und der Bevölkerung.“ Bei der Begrenztheit der Mittel führt hoher Aufwand an der einen Stelle oft zwangsläufig zu Engpässen oder Mängeln bei der Versorgung anderer Patienten. Darum hat der Arzt in Zukunft bei seiner Indikationsstellung mehr noch als bisher nicht nur den möglichen Nutzen für den individuellen Kranken, sondern auch die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen zu bedenken.108 Ärzte sind immer stärker gefordert, die sozialen Konsequenzen ihrer Ressourcenverwendungsentscheidung zu verantworten und den Ressourceneinsatz auf das medizinisch Sinnvolle zu begrenzen.109 Der bestehende Zielkonflikt zwischen medizinischer Leistungsfähigkeit, humanitärer Ausrichtung und Wirtschaftlichkeit des Versorgungssystems verschärft sich weiter.110

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Bei der notwendigen Ermittlung und Festsetzung von Prioritäten sind Transparenz, Partizipationsoffenheit, Begründungsrechtfertigung, Einbeziehung von Interessenskonflikten in die Entscheidungsfindung und Wissenschaftlichkeit durch Evidenzbasierung medizinischer Erwägungen essentiell.111 Erst ein offenes, demokratisches und rechtsstaatliches Verfahren ermöglicht die Konsensbildung, erzeugt Einsicht in die Korrektheit der gefundenen Lösungen und führt so zur Akzeptanz in der Bevölkerung. Dabei sind wesentliche Entscheidungen, insbesondere im grundrechtsrelevanten Bereich, durch das Parlament selbst zu treffen.112 Die verschiedenen in Betracht kommenden Priorisierungskriterien sind in ihrer Auswahl, Ausgestaltung und Anwendung am Maßstab der Grundrechte zu prüfen.113 Für eine Allokation medizinischer Leistungen enthält das Grundgesetz keine konkreten Anweisungen, es gibt vielmehr einen Rahmen vor, in dem der Gesetzgeber

Vogd et al. DÄBl 2017, A-1972 f. Für eine „ethische Mangelverwaltung“ daher etwa Marckmann/Maschmann DÄBl 2017, A-2028 ff.

107 Laufs in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 2 Rn. 8; Taupitz in Wolter/Riedel/Taupitz, Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, 113 (124); Fuchs MedR 1993, 323 (324).

108 Laufs in Nagel/Fuchs, Soziale Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 290 (292); ders. in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 6 Rn. 19; Laufs/Kern ebenda § 102 Rn. 7; ders. in Nagel/Fuchs, Soziale Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 290 (292); Fuchs MedR 1993, 323 (324); Taupitz in Kick/Taupitz, Gesundheitswesen zwischen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit, 21 (29 f.).

109 Oberender FS für Gitter, 701; Oberender/Zerth FS für Neubauer, 2006, 67; Taupitz, Gutachten 63. DJT, A 25 ff.

110 Weissauer FS für Spann, 1986, 511 (516); Laufs NJW 1994, 1562 (1565); ders. NJW 2000, 1757 (1763 f.); s.

auch die Beiträge in Schöne-Seifert/Buyx/Ach, Gerecht Behandelt? Rationierung und Priorisierung im Gesundheitswesen, 2006.

111 S. nur Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO), DÄBl 2007, A-2750 (A-2751);

Dannecker/Huster/Katzenmeier et al., DÄBl 2009, A-2007 (2008 f.); Schmitz-Luhn, Priorisierung in der Medizin, 135 ff.

112 BVerfGE 34, 165 (192 f.); 47, 46 (78 f.); 83, 130 (142); 98, 218 (251); in der Priorisierungsdebatte Isensee, Gedächtnisschrift für Heinze, 417 (427 ff.); Neumann NZS 2005, 617 (621); Huster DVBl 2010, 1069 (1072). Die demokratische Legitimation des den Leistungskatalog der GKV bestimmenden G-BA ist bis heute umstritten.

Grds. zur Problematik Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000. Die Bandbreite der in der Rechtswissenschaft vertretenen Positionen spiegeln die im Jahre 2017 im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit erstellten Gutachten von Gassner, Kingreen und Kluth wider, abrufbar unter www.bundesgesundheitsministerium.de.

113 Wenner GesR 2009, 169; Welti ZEFQ 103 (2009), 104; Katzenmeier ZEFQ 104 (2010), 364.

agieren kann.114 Darüber hinaus gilt es, auch die Fernwirkungen eines prior- und posteriorisierenden Verteilungssystems zu berücksichtigen, etwa die Auswirkungen der Erbringung von nunmehr privat hinzuzukaufenden Leistungen auf das Gefüge von Haftungs- und Sozialrecht,115 auf die Information und Aufklärung des Patienten in Bezug auf solche privaten Leistungen116 sowie auf das Arzt-Patient-Verhältnis grundsätzlich.117

2. Spannungsverhältnis zwischen Haftungs- und Sozialrecht

Im Dokument Arztfehler und Haftpflicht (Seite 13-17)