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Sonderfall „Geburtsschäden“

Im Dokument Arztfehler und Haftpflicht (Seite 53-56)

G. Versicherungsrechtliche Fragen

II. Reformüberlegungen

2. Sonderfall „Geburtsschäden“

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Einer gesonderten Betrachtung bedürfen die sog. „Geburtsschäden“. Seit Jahrzehnten begreift die Rechtsprechung den Unterhaltsaufwand für ein – gesund oder behindert geborenes – unerwünschtes Kind als ersatzfähigen Vermögensschaden und gewährt den Eltern, die aufgrund eines schuldhaften ärztlichen Versäumnisses in ihrer Familienplanung gestört wurden, einen prinzipiell umfassenden Schutz.437 Wichtige Fallgruppen dieser „Haftung für neues Leben“438 bilden die fehlerhafte genetische Beratung, die fehlgeschlagene Sterilisation, der unterlassene oder falsche Hinweis auf die mögliche

429 Vgl. BVerfGE 34, 118; BVerfG NJW 1995, 1607; BGHZ 3, 298; 26, 152 (157); krit. Katzenmeier JZ 2002, 1029 (1035 f.).

430 Koziol RdM 1994, 3 (5); Katzenmeier VersR 2007, 137 (141).

431 Zu den Problemen Katzenmeier, Arzthaftung, 261 ff.

432 Larenz, Schuldrecht I, § 27 I; Larenz/Canaris, Schuldrecht II/2, § 75 I 2i; Lange/Schiemann, Schadensersatz, Einl. III 2b; Deutsch, Allg. Haftungsrecht, Rn. 18; Wagner in MüKoBGB Vor § 823 Rn. 45 ff., 51 ff.; Spindler in BeckOGK-BGB § 823 Rn. 11; Hager in Staudinger Vor §§ 823 ff. Rn. 10; Katzenmeier in NK-BGB Vor §§ 823 ff. Rn. 56 ff.; Spickhoff in Soergel Vor § 823 Rn. 31; Taupitz AcP 196 (1996), 114 (138 ff.); Wagner cP 206 (2006), 352 (454 ff.); Näher zur Präventivwirkung der Arzthaftung Katzenmeier, Arzthaftung, 249 ff.

433 Dunz, Aktuelle Fragen zum Arzthaftungsrecht, 1980, 66.

434 Näher Katzenmeier VersR 2007, 137 (140 f.) mwN auch zu Möglichkeiten der Ausgestaltung der Haftpflichtversicherung.

435 Laufs in Laufs/Uhlenbruck, ArztR-HdB, § 3 Rn. 21, § 97 Rn. 4; Katzenmeier, Arzthaftung, 264 ff., zur Bedeutung des Verschuldensprinzips für die Arzthaftung s. auf S. 150 ff., 185 ff.

436 S. auch Hart in Rieger/Dahm/Katzenmeier/Stellpflug/Ziegler, HK-AKM, Patientenversicherung, Nr. 4040 Rn. 1; Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, 243; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 395; Wagner in MüKoBGB Vor § 630a Rn. 43. In der Diskussion und bei der Verabschiedung des PatRG sah der Gesetzgeber keine Veranlassung, der Frage eines Systemwechsels nachzugehen, er betonte stattdessen die hohe Bedeutung der Individualhaftung, s. BT-Drs. 17/10488, 9; zust. Wagner VersR 2012, 789 (799 f.); ähnlich Wenner SGb 2013, 162 (168).

437 Grdl. BGHZ 76, 249 = NJW 1980, 1450; BGHZ 76, 259 = NJW 1980, 1452; BGHZ 86, 240 = NJW 1983, 1371 = MedR 1983, 101; BGHZ 89, 95 = NJW 1984, 658 = MedR 1985, 91; BGHZ 95, 199 = NJW 1985, 2752

= MedR 1986, 31; BGHZ 151, 133 = NJW 2002, 2636 = MedR 2002, 640; BGH NJW 2006, 1660 = MedR 2007, 246; NJW 2007, 989 = MedR 2007, 540.

438 H. Lange, Haftung für neues Leben?, 1991, 19; Laufs NJW 1998, 796 f.

Erfolglosigkeit eines sterilisierenden Eingriffs, die fehlerhafte Verordnung eines Verhütungsmittels, der missglückte erlaubte Schwangerschaftsabbruch sowie der im Rahmen pränataler Diagnostik pflichtwidrig nicht als Möglichkeit eröffnete zulässige Abbruch der Schwangerschaft.439

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Dem Kind selbst steht auch bei schweren oder schwersten angeborenen Behinderungen kein eigener Anspruch zu,440 nach der geltenden Differenzhypothese fehlt es an einem Schaden. Denn Alternative zu diesem Leben wäre in den einschlägigen Fällen nicht ein Leben als gesunder Mensch sondern einzig die Nicht-Existenz. Ein Recht auf Nicht-Existenz aber lässt sich nicht postulieren und die Existenz kann gegenüber der Nicht-Existenz auch nicht als Nachteil begriffen werden. In besonderem Maße unbefriedigend ist die unzureichende Absicherung des Kindes nach einem Ableben der Eltern. Dem Kind kommt gerade dann nichts mehr zugute, wenn es einer Versorgung – wegen des Wegfalls der Unterhaltspflichtigen – am meisten bedarf. Angesichts dessen postulieren manche eine pragmatische Lösung und bejahen einen Anspruch wegen „wrongful-life“.441 Dies bedeutete freilich einen offenen Bruch mit dem geltenden Schadensersatzrecht.442

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Geburtsschäden sind regelmäßig Großschäden, der Schadensersatz beläuft sich nicht selten auf mehrere Millionen Euro.443 Die gestiegenen Aufwendungen der Versicherer haben Prämiensteigerungen zur Folge. Bei Haftpflichtversicherungsprämien im Fachgebiet Gynäkologie mit Geburtshilfe von aktuell sechzigtausend Euro und mehr jährlich444 ist die Grenze des Finanzierbaren erreicht und die Berufsausübung als solche in Frage gestellt.445 Aktuellen Meldungen zufolge ist es „unmöglich, als niedergelassener Frauenarzt auch nur im Ansatz die Haftpflichtprämien durch die Geburtshilfe zu erwirtschaften“, „immer mehr Kliniken müssen ihre geburtshilflichen Abteilungen schließen“.446 Es drohen Versorgungsengpässe und Gefahren für die medizinische Versorgung schwangerer Frauen. Bei einer anhaltenden Entwicklung wird sich das geltende Haftpflichtsystem jedenfalls im Fachgebiet Gynäkologie mit Geburtshilfe nicht mehr lange aufrechterhalten lassen.447 Ob Haftungsbegrenzungen oder Regressbeschränkungen in Betracht zu ziehen sind oder ob eine Ablösung der privaten Haftpflicht durch eine Heilbehandlungsrisikoversicherung, eine Poollösung, eine Staatsbeteiligung oder gar eine Staatshaftung angezeigt ist,448 wurde bislang kaum diskutiert.449

439 Zusammenstellung der Fallgruppen in BGH NJW 2008, 2846 = MedR 2009, 44.

440 BGHZ 86, 240 (250 ff.) = NJW 1983, 1371 (1373 f.) = MedR 1983, 101 (102 ff.); OLG München NJW 1981, 2012; OLG Düsseldorf VersR 1995, 1498; BGH VersR 2002, 192 mAnm Büsken. Bei Schädigungen der Leibesfrucht durch einen Fehler bei der prä- oder perinatalen Tätigkeit haftet der Arzt dem Kind nach allgemeinen Grundsätzen, BGHZ 8, 243 = NJW 1953, 417; BGHZ 58, 48 = NJW 1972, 1126; BGHZ 106, 153 = NJW 1989, 1538 = MedR 1989, 139.

441 Vgl. Stoll, Haftungsfolgen im bürgerlichen Recht, 1993, 284 ff.; Picker, Schadensersatz für das unerwünschte eigene Leben „Wrongful Life“, 1995, 116 f.; Lange/Schiemann, Schadensersatz, 32003, 336 f. (anders noch in

21990); Deutsch VersR 1995, 609 (614); Spickhoff VersR 2006, 1569 (1570 f.) auf der Grundlage des Arztvertrages; Wagner in MüKoBGB § 823 Rn. 207 auf der Grundlage von § 823 Abs. 1 BGB; Brüggemeier, Haftungsrecht, 2006, 258 f.

442 Winter JZ 2002, 330 (331 ff.); s. auch Zimmermann JZ 1997, 131 (132); Stürner JZ 1998, 318 (325); Bernat FS für Krejci, 2001, 1041 (1057); Coester-Waltjen Reproduktionsmedizin 2002, 183 (188 f.); G. Müller NJW 2003, 697 (706); Katzenmeier/Knetsch FS für Deutsch, 2009, 247 (277 f.) mwN.

443 Vgl. die Angaben bei Schlösser MedR 2011, 227.

444 Ärzteblatt v. 25.10.2017, www.aerzteblatt.de/nachrichten/83114.

445 Vgl. etwa Medizinrechtsausschuss des DAV in ZMGR 2010, 82, 93; Flintrop/Korzilius DÄBl 2010, A-692 ff.;

Schlösser MedR 2011, 227; Püster, Entwicklungen der Arzthaftpflichtversicherung, 85 f.; Köhler/Bovenkerk FS für Bergmann, 2016, 123 (124); Maybaum DÄBl 2017, A-2128.

446 DÄBl 2017, A-2010; Maybaum DÄBl 2017, A-2128 (A-2129 f.).

447 Weitere Hochrisikofachgebiete sind die Orthopädie und die Chirurgie.

448 Diese Optionen nennt Schlösser MedR 2011, 227 (229); s. auch Arnold DÄBl 2010, A-695 (A-696).

449 Die existenzbedrohende Entwicklung der Haftpflichtversicherungsprämien bei den Hebammen sucht die Politik seit dem Sommer 2014 durch die Gewähr von Sicherstellungszuschlägen abzufedern. Seit dem Gesetz v.

16.7.2015, BGBl. I 1211, schließt § 134a Abs. 5 SGB V Regressansprüche der Kranken- und Pflegekassen nach

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Bei der Suche nach einer Lösung kann die Rechtsvergleichung wertvolle Anregungen geben. Besondere Aufmerksamkeit verdient die jüngere Rechtsentwicklung in Frankreich.450 Im Jahre 2002 beschloss das französische Parlament das Gesetz über die Patientenrechte und die Qualität des Gesundheitswesens („loi relative aux droits des malades et à la qualité du système de santé“).451 Dessen Art. 1 (nunmehr in Art. L. 114-5 C.act.soc. fam. kodifiziert) schließt Ansprüche des auf Grund genetischer Fehldisposition behindert geborenen Kindes gegen den Arzt explizit aus und verkürzt außerdem die Ansprüche der Eltern, es rückt andererseits einen Gedanken in den Mittelpunkt, der in der öffentlichen Diskussion auch hierzulande bislang zu kurz kam: die Verantwortung der Allgemeinheit. Das Gesetz bestimmt, dass der Ersatz des durch die Behinderung des Kindes anfallenden Unterhaltsmehraufwands Sache der

„solidarité nationale“ sei. Zu dieser Klarstellung sah sich der Gesetzgeber angesichts einer für unzureichend erachteten fürsorge- und sozialversicherungsrechtlichen Lage veranlasst.

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Seit Inkrafttreten des Gesetzes über die Chancengleichheit und Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderung452 und der Ausweitung des Ausgleichsanspruchs („prestation de compensation“) auf Kinder und Jugendliche unter zwanzig Jahre453 wird der Versorgungsbedarf behindert geborener Kinder durch sozialrechtliche Fürsorgeleistungen abgedeckt. Mit dieser Neuregelung beabsichtigt der französische Gesetzgeber, gerade auch die Öffentlichkeit für die Belange von Menschen mit Behinderung zu sensibilisieren und durch die Einführung eines zusätzlichen Arbeitstages (journée de solidarité), der neben Umlagen der staatlichen Krankenversicherung und allgemeiner Steuergelder zur Finanzierung der Leistungen beiträgt, in die Pflicht zu nehmen.454 Dabei sind die Fürsorgeleistungen nicht auf Fälle fehlerhaft durchgeführter Pränataldiagnostik oder fehlgeschlagener Schwangerschaftsabbrüche beschränkt (für die sich auch eine Fondslösung angeboten hätte), die Neuregelung versteht sich vielmehr als umfassende Reform zugunsten hilfsbedürftiger Menschen ohne Rücksicht auf Art und Hintergrund der Behinderung.

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Das haftungsrechtliche Prinzip der Totalreparation hat die Verlagerung in das Sozialversicherungsrecht nicht unbeschadet überstanden. Die Limitierung des Anspruchs durch einkommensabhängige Höchstsätze, die Beschränkung auf besonders schwere Behinderungen und die Existenz eines subsidiären Kompensationsfonds zeigen, dass der Gesetzgeber kein vollwertiges Pendant für die vormaligen Schadensersatzansprüche geschaffen hat. Gleichwohl scheint die „Kind als Schaden“-Problematik in Frankreich nach jahrelangem Ringen einer allgemein akzeptierten Lösung zugeführt zu sein.455

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Eine Lösung nach französischem Vorbild gilt es auch für Deutschland in Betracht zu ziehen, um einerseits Menschen mit Behinderungen abzusichern, andererseits drohende Versorgungsengpässe in der Geburtshilfe abzuwenden. Wenngleich zögerlich, so beginnt sich doch auch hierzulande das

§ 116 Abs. 1 SGB X gegenüber freiberuflich tätigen Hebammen wegen Schäden aufgrund von Behandlungsfehlern in der Geburtshilfe für Fälle einfach fahrlässiger Schadensverursachung aus. Diskutiert wird eine Erweiterung des Regressausschlusses auch für grob fahrlässig versurachte Schäden auch durch Gynäkologen.

450 Die verschiedenen Entwicklungsstadien begleitend Katzenmeier FS für Jayme, 2004, 1277 ff.; ders./Knetsch FS für Deutsch, 2009, 247 ff.; dies. Gedächtnisschrift für Hübner, 2012, 109 ff.

451 Loi n° 2002-303, JO v. 5.3.2002, 4118; abrufbar unter http://www.legifrance.gouv.fr; dazu Nitschmann, Das Arzt-Patient-Verhältnis im „modernen“ Gesundheitssystem, 2006.

452 Loi n° 2005-102, JO v. 12.2.2005, 2353.

453 Loi n° 2007-1786, JO v. 21.12.2007, 20603.

454 Durch Art. 2 Loi n° 2004-626 du 30 juin 2004 relative à la solidarité pour l'autonomie des personnes âgées et des personnes handicapées wurde die unbezahlte Werktätigkeit an einem zusätzlichen Arbeitstag eingeführt.

455 Ausführlich zur Rechtsentwicklung in Frankreich Katzenmeier/Knetsch FS für Deutsch, 2009, 247 (250 ff.);

dies. Gedächtnisschrift für Hübner, 2012, 109 (112 ff.). Zu dem in Japan im Jahr 2009 etablierten No-Fault Obstetric Compensation System for Cerebral Palsy s. Tomizuka/Matsuda, Health Policy Monitor, Oct. 2009, abrufbar unter www.hpm.org/survey/jp/a14/4.

Bewusstsein zu entwickeln, dass die Gesellschaft in wesentlich stärkerem Maße als bisher die Verantwortung für ihre schwachen Mitglieder übernehmen und deren Existenz in angemessener Weise sicherstellen muss.456 Vorsorge für den mit Behinderung geborenen Menschen lässt sich sachgerecht nur im (Sozial-)Versicherungsrecht ansiedeln, welches Leistungen an der Bedürftigkeit ausrichtet und nicht von dem Verhinderungswillen und damit Schaden der Eltern abhängig macht.457

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Ob sich für die Bundesrepublik eine Heilbehandlungsrisikoversicherung oder ein Fonds für Geburtsschäden schließlich empfiehlt, richtet sich nicht zuletzt nach nüchternen Vergleichsanalysen, nach Überlegungen zu Rentabilität und Effizienz der alternativen Schadensausgleichsordnungen.

Insbesondere um die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen einer Assekuranz auf dem Medizinsektor abschätzen zu können, bedürfte es einer intensiven Zusammenarbeit und Diskussion von Vertretern verschiedener Wissenschaftsdisziplinen. Währenddessen steht eine tragfähige, interdisziplinär geführte, empirische Vergewisserung weiterhin aus. Solange rechtstatsächliche Erhebungen und eine Kostenanalyse ebenso fehlen wie verwendbare Unterlagen über die Bemessung des zu versichernden Risikos, ist eine abschließende Bewertung des Konzeptes bedürfnisorientierter Kompensationssysteme nicht möglich.458

3. Haftungsbegrenzung

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