• Keine Ergebnisse gefunden

Gründe für die ärztliche Therapiefreiheit

Im Dokument Arztfehler und Haftpflicht (Seite 34-37)

E. Therapiefreiheit des Arztes

III. Gründe für die ärztliche Therapiefreiheit

Bedenken gegenüber der ärztlichen Therapiefreiheit in der Literatur blieben vereinzelt,270 die Rechtsprechung hat den Grundsatz wiederholt anerkannt.271 Dies kommt bereits in der Bestimmung des Begriffs Behandlungsfehler zum Ausdruck, indem die Gerichte die Frage nach einer „vertretbaren“

Entscheidung des Arztes stellen.272 Versuche, den Arzt auf eine bestimmte Methode, z.B. der Schulmedizin, festzulegen, sind zum Scheitern verurteilt. Die Schwierigkeiten beginnen bereits bei der Definition des Begriffs „Schulmedizin“.273 Weder ein Rückgriff auf die allgemein anerkannten Regeln noch ein Verweis auf die in Wissenschaft und Praxis dominierende Richtung lassen die Konturen des Begriffs klar hervortreten.274 Angesichts der ständigen Fortentwicklung und Zunahme medizinischen Wissens muss die Grenze zwischen „anerkannt“ und „üblich“ versus „umstritten“ und „neu“ fließend bleiben.275 „Der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse ist dadurch gekennzeichnet, daß er kontrovers ist.“276 Für die Freiheit begründeter Methodenwahl, welche den Pluralismus unserer

266 Wiethölter in Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung über Wesen und Bedeutung der freien Berufe, Die Aufklärungspflicht des Arztes, 1962, 71 (75): „so wenig sich der Arzt zum Herrn des Patienten aufschwingen darf, so wenig der Richter zum Herrn des Arztes: der Arzt darf nicht die Entscheidungen des Patienten fällen, der Patient nicht die des Arztes und der Jurist nicht die von Patient und Arzt“; Pribilla in Mergen, Die juristische Problematik in der Medizin, Bd. III, 70 (74 f.); Laufs in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 3 Rn. 16; s.

auch Zuck, Das Recht der anthroposophischen Medizin, 22012.

267 Gallwas NJW 1976, 1134 (1135).

268 Lenckner in Forster, Praxis der Rechtsmedizin, 599 (600).

269 Vgl. Kaufmann, Rechtsphilosophie, 21997, 20. Kap. II 2.

270 Scharfe Kritik übt Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 105 u. 109: Der Arzt würde „gegenüber allen anderen Berufsgruppen in einer vom Gesetz eben gerade nicht vorgesehenen Weise privilegiert, würde ihm zu Lasten seiner Patienten ein völlig ungerechtfertigter Haftungsfreiraum eingeräumt, innerhalb dessen er – einerseits kein Behandlungsfehler, wegen der ‚Methodenfreiheit‘ andererseits auch keine Sorgfaltspflichtverletzung – die schadensstiftenden Konsequenzen der Betätigung seines ärztlichen Ermessens haftungsrechtlich nicht zu tragen hätte“; kritisch gegenüber einem Begriffsverständnis der Therapiefreiheit als ein a priori in das Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG eingelassener, vor staatlichen Regelungen vorab geschützter berufsspezifischer Entscheidungsspielraum Woggan in Glaeske/Schefold, Positivliste für Arzneimittel, 109; Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, 63 ff., 143 ff.; zust. Hart MedR 1996, 60 (61, Fn. 17).

271 Vgl. etwa BGHZ 102, 17 (22) = NJW 1988, 763 (764) = MedR 1988, 91 (92); BGHZ 106, 146 (150) = NJW 1989, 764 (765) = MedR 1989, 145 (146 f.); BGHZ 168, 103 (107) = NJW 2006, 2477 (2478 f.) = MedR 2006, 650; BGHZ 172, 254 (257) = NJW 2007, 2774 = JZ 2007, 1104 = MedR 2008, 87 (88) mAnm Spickhoff; BGH NJW 2017, 2685 = MedR 2018, 43 (44); VersR 2020, 168 (170) = MedR 2020, 379 (381) mAnm Jansen.

272 BGH NJW 1987, 2291 (2292); 2017, 2685 f. = MedR 2018, 43 (44); OLG Zweibrücken MedR 1999, 80 (82);

AG Bremen NJW-RR 2004, 534.

273 Zuck in Quaas/Zuck/Clemens, Medizinrecht, § 2 Rn. 61; eingehend ders., Das Recht der anthroposophischen Medizin, 22012, Rn. 33 ff.; aus sozialversicherungsrechtlicher Perspektive Enderlein VSSR 1992, 123 ff.

274 Jung ZStW 97 (1985), 47 f., mit der Bemerkung: „Die Geschichte der Medizin hält uns zur Skepsis gegenüber der Dogmatisierung einer einzigen Heilmethode an.“

275 Brüggemeier, Haftungsrecht, 477.

276 Kriele NJW 1976, 355 (356).

medizinischen Kultur zum Ausdruck bringt, sprechen im Besonderen drei Gründe: der medizinische Fortschritt, die Besonderheiten des Einzelfalls und der Wille des Kranken.

90

Wenn § 630a Abs. 2 BGB den Arzt auf die zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards verpflichtet, droht dies die Therapiefreiheit zu verkürzen.277 Die Behandlung erfolgt gerade nicht zwingend nach den allgemein anerkannten Standards, sondern allenfalls unter Berücksichtigung derselben (siehe auch § 2 Abs. 3 MBO-Ä: „Beachtung des anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse“). Der Gesetzgeber versucht dem Rechnung zu tragen durch den zweiten Halbsatz des § 630a Abs. 2 BGB („soweit nicht etwas anderes vereinbart ist“).

In der Begründung heißt es, es entspreche „der Dispositionsmöglichkeit der Parteien, einen von den anerkannten fachlichen Standards abweichenden Standard der Behandlung zu vereinbaren“.278 Der Arzt muss also künftig mit dem Patienten eine Vereinbarung darüber treffen, was bislang im Rahmen seiner – von Sorgfalts- und Aufklärungspflichten flankierten – Therapiefreiheit lag.279 Dadurch werden Akzente verschoben, denn die Gerichte begegnen Abreden betreffend Standardabweichungen in den an sie herangetragenen Streitfällen bislang mit Skepsis. Sie unterwerfen solche Vereinbarungen stets einer strengen Inhaltskontrolle und ziehen Haftungsbeschränkungen enge Grenzen.280 Die Gesetzesbegründung betont, dass „die medizinische Behandlung grundsätzlich offen sein muss für neue Behandlungsmethoden“.281 Dies werden die Gerichte künftig bei der Beurteilung insoweit notwendiger Vereinbarungen zwischen Arzt und Patient zu beachten haben.282

1. Medizinischer Fortschritt 91

„Das Fortschreiten der Medizin verlangt den beherrschten Wagemut von Ärzten, die das Eingeführte zu übertreffen suchen. Wenn die Berufsregel unbedingt verpflichtete, müßten Schritte in medizinisches Neuland unterbleiben. Die lex artis läßt sich aber nicht auf einem einmal erreichten Stand festhalten, sie läßt sich auch nicht verabsolutieren, wie die Medizingeschichte lehrt. Die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaften und die ärztlichen Erfahrungen befinden sich vielmehr in beständigem und sich an vielen Stellen beschleunigendem Wachstum.“283 Polemik gegen medizinische Außenseitermethoden verkennt, dass die weitere Entwicklung der Medizin nicht zuletzt von Anstößen

277 Katzenmeier NJW 2013, 817 (818); ders. MedR 2012, 576 (579); zust. Jaeger, Patientenrechtegesetz, Rn. 53;

krit. auch Spickhoff VersR 2013, 267 (272); G. Müller Karlsruher Forum 2013, 132; missverständlich Rehborn GesR 2013, 257 (259).

278 BT-Drs. 17/10488, 20; näher dazu Katzenmeier in BeckOK-BGB, § 630a Rn. 189 ff.

279 Katzenmeier MedR 2012, 576 (579); s. auch Jaeger, Patientenrechtegesetz, Rn. 56.

280 Vgl. OLG Stuttgart NJW 1979, 2355; Katzenmeier MedR 2011, 201 (210 ff.); Spickhoff VersR 2013, 267 (271);

Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 159; zu Möglichkeiten und Grenzen einvernehmlicher Unterschreitungen medizinischer Behandlungsstandards nach § 630a Abs. 2 BGB Neelmeier NJW 2015, 374 ff. Den Patientenwunsch nach behandlungsfehlerhaftem Vorgehen muss der Arzt jedenfalls ablehnen, OLG Hamm MedR 2017, 310; dazu Geier MedR 2017, 293 und J. Prütting MedR 2017, 531; zu Willensmängeln des Patienten Nußstein VersR 2018, 1361 (1362 ff.). Demggü. meint Taupitz GesR 2015, 65 (70), „dass eine stillschweigende Vereinbarung unter das Maß des an sich maßgeblichen anerkannten fachlichen Standards (erst recht:

Facharztstandards) darin liegen könne, dass der Patient den Behandelnden in Kenntnis seiner fehlenden Qualifikation aufsucht.“ Die Vereinbarung komme zustande durch (71) Angebot des Arztes und Einwilligung des Patienten.

281 BT-Drs. 17/10488, 20.

282 So auch G. Müller GuP 2013, 1 (4): es bleibe „zu hoffen, dass sich die Rechtsprechung durch die Neuregelung nicht beirren lässt“.

283 Laufs FS für Deutsch, 1999, 625 (627); ders. in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 6 Rn. 35; s. auch Siebert MedR 1983, 216 (218); Eser ZStW 97 (1985), 1 (12); Bockelmann in Ponsold, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin,

31967, 41: „die strikte Bindung eines jeden Arztes an die ‚allgemein anerkannten Regeln‘ (. . .) würde auf die Kanonisierung desjenigen Standes ärztlichen Wissens hinauslaufen, der zu dem Zeitpunkt erreicht wäre, in dem man mit jener Bindung Ernst machte. Das würde den Stillstand der Medizin bedeuten – eine indiskutable Konsequenz“.

auch durch die Vertreter unkonventioneller Heilverfahren abhängig ist.284 Die Redewendung „die Außenseitermethode von gestern ist die Schulmedizin von heute, die Schulmedizin von heute ist der Behandlungsfehler von morgen“285 ist insofern treffend, als sie zum Ausdruck bringt, dass Fortschritt nur unter der Voraussetzung von Methodenfreiheit möglich ist.

2. Individualität des Behandlungsgeschehens 92

Eine Bindung des Arztes an Methoden der Schulmedizin würde weiter einem schematischen, die Individualität des jeweiligen Behandlungsgeschehens nicht ausreichend berücksichtigenden Vorgehen Vorschub leisten.286 Ärztliches Handeln entzieht sich der Kanonisierung, es wird diktiert von den Besonderheiten des Einzelfalls, wobei die Indikation abhängig ist von der konkreten Krankheitsverursachung, den Persönlichkeitsmerkmalen, der Interaktion zwischen Arzt und Patient, der sozialen Stellung des Patienten, seiner Einordnung in Umwelt und Arbeitsleben, in Familie und Beruf etc. Diesen Umständen des Einzelfalls trägt allein eine Pluralität der Verfahren hinreichend Rechnung.287 3. Patientenautonomie

93

Schließlich entspricht nur die Methodenfreiheit dem Grundsatz der Autonomie des Patienten.288 Staatliche Begrenzungen der Zahl der Behandlungsvarianten tangieren nicht allein das Recht des Arztes auf freie Berufsausübung gemäß Art. 12 Abs. 1 GG, sondern zugleich das in Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m.

Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Dieses Grundrecht schützt auch davor, dass bestimmte Methoden zur Behandlung einer Krankheit durch Gesetz vorgeschrieben werden.289 Therapiefreiheit ist kein Privileg des Arztes, sondern ein fremdnütziges Recht.290 Sie ermöglicht dem Arzt, unabhängig von der Fessel normierender Vorschriften nach pflichtgemäßem und gewissenhaftem Ermessen im Einzelfall diejenigen therapeutischen Maßnahmen zu wählen, die nach seiner begründeten Überzeugung unter den gegebenen Umständen den größtmöglichen Nutzen für seinen Patienten erwarten lassen.291 Der Schutz der Rechtsgüter des Kranken kann mit dem Schutz der ärztlichen Therapiefreiheit parallel laufen, insbesondere dann, wenn der Schutz dieser Güter die Zurverfügungstellung medizinischer Leistungen erfordert oder deren unangemessene Einschränkung verbietet. „Individueller Grundrechtsschutz des Patienten und ärztliche Therapiefreiheit sind damit teilweise und faktisch auf dasselbe Ziel ausgerichtet.“292 Zwischen der Freiheit des Arztes und dem

284 Eser ZStW 97 (1985), 1 (12); Katzenmeier JZ 2007, 1108 (1109).

285 Schroeder-Printzen MedR 1996, 376 (379), s. auch auf S. 378 das Zitat von Max Planck: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, daß die Gegner allmählich aussterben und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht wird.“

286 Jung ZStW 97 (1985), 47 (55).

287 Schölmerich in Deutsch/Kleinsorge/Scheler, Verbindlichkeit der medizinisch-diagnostischen und therapeutischen Aussage, 69 (75); Müller/Raschke NJW 2013, 428 (429).

288 BGHZ 113, 297 (300 f.) = NJW 1991, 1535 (1536 f.) = MedR 1991, 195 f.; Jung ZStW 97 (1985), 47 (54), mit dem Zusatz: „Wenn bei Methodenfreiheit immer die Autonomie des Patienten mitgedacht wird, so stellt dies auch ein Votum gegen ärztlichen Paternalismus dar“; Laufs ZaeFQ 1997, 586.

289 Grupp MedR 1992, 257 (258); H. Schmid NJW 1986, 2339 (2341): Es „darf niemandem die Behandlung durch Außenseitermethoden verwehrt werden, solange der Gesetzgeber sich nicht veranlaßt sieht, wegen grundsätzlicher Gefahren für die Volksgesundheit derartige Methoden überhaupt zu verbieten.“

290 So Buchborn in Kleinsorge/Hirsch/Weißauer, Forschung am Menschen, 1985, 19; Laufs FS für Deutsch, 1999, 625 (626); ders. ZaeFQ 1997, 586 (588); ders. NJW 1997, 1609; 2000, 1757 (1758); ders. in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 3 Rn. 14; Plagemann, Kassenarztrecht, Rn. 16; Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und Lex artis, 223 f.; Hauck SGb 2014, 8 f.

291 Buchborn in Kleinsorge/Hirsch/Weißauer, Forschung am Menschen, 19; Laufs FS für Deutsch, 1999, 625 (626). Unzutreffend daher der Ausgangspunkt von Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 109, durch Anerkennung der Methodenfreiheit würde dem Arzt „zu Lasten seiner Patienten ein völlig ungerechtfertigter Haftungsfreiraum eingeräumt“.

292 Hart MedR 1996, 60 (66); zust. Laufs ZaeFQ 1997, 586 (588); ders. NJW 1997, 1609; ders. in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 3 Rn. 14.

Willen des Patienten besteht keine typische Kollisionslage, vielmehr korrespondieren beide Interessen miteinander, ja sie bedingen einander im therapeutischen Arbeitsbündnis.293

IV. Sorgfalts- und Aufklärungspflichten als unausweichliches Korrelat

Im Dokument Arztfehler und Haftpflicht (Seite 34-37)