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Abhängigkeit des Rechts von der Medizin

Im Dokument Arztfehler und Haftpflicht (Seite 10-0)

B. Maßstab

I. Standards als Bezugsgröße

4. Abhängigkeit des Rechts von der Medizin

Wenn es sich auch bei Behandlungsfehler und verkehrserforderlicher Sorgfalt um juristische Begriffe handelt, so muss das Recht bei deren Beurteilung doch von den medizinischen Möglichkeiten ausgehen.61 Die Maßstäbe bestimmen nicht Juristen durch haftungsrechtliche Anforderungen, nicht der Gesetzgeber durch Gesetzgebungsakte und nicht irgendwelche anderen Gremien, vielmehr legt sie die Medizin selbst fest.62 Der Standard und seine Bedeutung im Recht sind abhängig von der Medizin, die rechtliche Entscheidung, eine Behandlung verfehle den Standard, kann ohne medizinisch-sachverständige Beratung meist nicht zuverlässig getroffen werden.63

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Abweichend hiervon wurde vereinzelt die Ansicht vertreten, es gälten in erster Linie juristische Maßstäbe. Gerade der Verzicht auf ärztliche Kategorien und die Betonung der normativ-juristischen Qualität des in § 276 Abs. 2 BGB vorausgesetzten Sorgfaltsbegriffs sollen dazu beitragen, der

„möglichen Gefahr einer Vernunfthoheit des Arztes über den Patienten (und den Richter) und einer umfassenden ärztlichen Gesundheitsbevormundung zu begegnen.“64 Jedoch kann das Recht nicht von sich aus sagen, was medizinisch möglich und nötig ist. Es bleibt ihm regelmäßig nichts anderes übrig, als bei der Suche nach Kriterien auf die medizinische Wissenschaft zurückzugreifen.

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Die Gerichte sind nur in einer Art Grenzkontrolle dafür zuständig, zu überprüfen, ob die gebräuchlichen Verfahren etwa vermeidbare Risiken enthalten oder mögliche Sorgfalt außer Acht lassen.65 Dabei betreffen juristische Korrekturen selten die ärztliche Abwägung von Heilungschancen und Behandlungsgefahren. In einigen wenigen Fällen sahen sich die Gerichte veranlasst, den Medizinern vorzugeben, wo im Integritätsinteresse des Patienten mit Kontrolluntersuchungen fortgefahren oder eine

58 Laufs/Kern in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 97 Rn. 3; Deutsch, Allg. Haftungsrecht, Rn. 381; Hart ZaeFQ 2000, 65 (66); ders. in Rieger/Dahm/Katzenmeier/Stellpflug/Ziegler, HK-AKM, Ärztliche Leitlinien, Nr. 530 Rn. 18;

Dressler FS für Geiß, 379 (380 f.); Franzki MedR 1994, 171 (173); Kreße MedR 2007, 393 (395).

59 Strache, Das Denken in Standards, 1968, 17; Hart MedR 1998, 8 (9 f.).

60 Schreiber Langenbecks Arch Chir 364 (1984), 295 (296).

61 So die ganz überwiegende Einsicht auch unter Juristen, vgl. Laufs in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 6 Rn. 32;

Laufs/Kern ebenda § 97 Rn. 4, s. aber auch Rn. 6; Spickhoff in Soergel § 823 Anh. I Rn. 57; Wagner in MüKoBGB

§ 630a Rn. 126 f.; Buchner in Lilie/Bernat/Rosenau, Standardisierung in der Medizin als Rechtsproblem, 63 (64);

Schreiber, Notwendigkeit und Grenzen rechtlicher Kontrolle der Medizin, 37 f.; Dressler FS für Geiß, 379 (381 f.); Steffen MedR 1995, 190; Hart MedR 1998, 8; G. Müller MedR 2001, 487; Kreße MedR 2007, 393 (394);

Jansen, Der Medizinische Standard, 186 ff.; aus der Rspr. etwa BGH NJW 1995, 776 (777) = MedR 1995, 276 (277); BGH NJW 2015, 1601 (1602) = MedR 2015, 724 (726) = JZ 2015, 573 (574) mAnm Spickhoff.

62 Kern MedR 2004, 300 (301).

63 BGH NJW 2015, 1601 (1602) = MedR 2015, 724 (726) = JZ 2015, 573 (574) mAnm Spickhoff; Hart MedR 1998, 8; Groß, Ärztlicher Standard, 2; v. Pentz MedR 2016, 16; Spickhoff in Spickhoff, Medizinrecht, ZPO, Rn. 19;

vgl. zur zentralen Stellung des medizinischen Sachverständigen im Arzthaftungsprozess Katzenmeier, Arzthaftung, 395 ff. und in → Kap. XII Rn. 1 ff.

64 Giesen, Arzthaftungsrecht, Rn. 108; s. auch Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, 148 f.;

Schramm, Der Schutzbereich der Norm im Arzthaftungsrecht, 93; Grams GesR 2015, 321 ff.; krit. Buchborn MedR 1984, 126 (128).

65 Schreiber, Notwendigkeit und Grenzen rechtlicher Kontrolle der Medizin, 38; ders. Langenbecks Arch Chir 364 (1984), 295 (296) mit scharfer Kritik an Giesen: „absurde Behauptung“; zu den Aufgaben des Rechts in der Medizin Katzenmeier, Arzthaftung, 61 ff.

Therapie beendet werden muss.66 Im Übrigen aber enthält sich das Recht bei der Auswahl und Durchführung einer Behandlungsmethode mit Grund weitgehend der Formulierung eigener inhaltlicher Sorgfaltsmaßstäbe67 und die Rechtsprechung verfolgt die Grundtendenz, Ärzten im Kernbereich ihrer Tätigkeit für den Normalfall keine Verhaltensanforderungen vorzugeben.68 Häufiger erfolgen Korrekturen hinsichtlich der Organisation des Betriebs in einem Krankenhaus, etwa der Arbeitszeiteinteilung, der Lückenlosigkeit der Überwachung, der Zusammenarbeit im Team etc.69 Solche organisatorischen Fragen sind dem Recht und damit einer eigenständigen Wertung viel eher zugänglich.70

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Festzuhalten bleibt: Die rechtlichen Standards sind auch juristische, richterliche Urteilsmaßstäbe für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten, letzten Endes aber doch weitgehend medizinischer Provenienz.71 5. Abstufungen des Standards

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Die Anbindung des Rechts an die Möglichkeiten der Medizin kommt auch darin zum Ausdruck, dass in gewissen Grenzen horizontale Abstufungen bei den geforderten Standards anerkannt werden.72 Der rasche Fortschritt in der medizinischen Technik und die damit einhergehende Gewinnung immer neuer Erkenntnisse und Erfahrungen führt zwangsläufig zu Qualitätsunterschieden in der Behandlung von Patienten, etwa je nachdem, ob sie sich in eine Stätte der Maximalversorgung wie beispielsweise eine große Universitätsklinik, eine andere persönlich und apparativ besonders gut ausgestattete Spezialklinik oder aber in ein Krankenhaus der Allgemeinversorgung begeben.73 Auch verfügen Fachärzte über andere Fähigkeiten und Möglichkeiten als Allgemeinmediziner.74 Vor dieser Wirklichkeit darf das Recht die Augen nicht verschließen. Deshalb ist bei der Bestimmung des im Einzelfall vorauszusetzenden Standards nicht generell auf den optimalen, sondern auf den unter den konkreten Gegebenheiten erreichbaren abzustellen, muss es medizinisch wie rechtlich situationsorientiert gewisse Abstufungen geben.75

66 Rspr.-Nachw. bei Pauge/Offenloch Arzthaftungsrecht Rn. 193.

67 Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, 145 ff.: die Verweisung staatlicher Rechtsnormen auf außerrechtlich generierte, dynamische Standards erweist sich als eine Form effektiven Grundrechtsschutzes.

68 Groß VersR 1996, 657 (663); zur Therapiefreiheit des Arztes → Rn. 83 ff.

69 Schreiber in Nagel/Fuchs, Leitlinien und Standards im Gesundheitswesen, 167 (168); Odersky NJW 1989, 1 (4); Rspr.-Nachw. bei Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 192.

70 Groß, Ärztlicher Standard, 2; Puhl/Dierks FS für Geiß, 477 (483 f.). Zu den Standards guter Organisation → Rn. 41.

71 Schreiber Langenbecks Arch Chir 364 (1984), 295 (296); Groß, Ärztlicher Standard – Sorgfaltspflichten, Befundsicherung, Dokumentation und Beweislast, 3.

72 Vgl. Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 87; Ulsenheimer MedR 1995, 438 f.; Kullmann VersR 1997, 529 (530 f.); Rumler-Detzel VersR 1998, 546 (547 f.); Groß, Ärztlicher Standard, 4 f.; G. Müller in Katzenmeier/Bergdolt, Das Bild des Arztes im 21. Jahrhundert, 75 (77 f.).

73 Vgl. BGH NJW 1988, 1511; 1989, 2321; 1994, 1596; zur Vorratshaltung bei Medikamenten BGHZ 102, 17 = NJW 1988, 763 = MedR 1988, 91.

74 Zu fachgebietsspezifischen und ausbildungsorientierten Differenzierungen Walter, Spezialisierung und Sorgfaltsstandard im Arzt- und Anwaltshaftungsrecht, 2004, 172 ff., 197 ff.

75 Steffen MedR 1995, 190; ders. FS für Geiß, 487 (496); Wagner in MüKoBGB § 630a Rn. 119; s. auch Giesen Arzthaftungsrecht Rn. 75; Hart MedR 1996, 60 (69): Es erfolgt „eine bereichs-, besser: organisationsbezogene rechtliche Differenzierung des medizinischen Standards. Die Begründung bezieht sich explizit auf ökonomische, dh Finanzierbarkeitsüberlegungen“; krit. aber ders. GesR 2011, 447 (448); Jansen, Der Medizinische Standard, 258 ff. – Zu qualitätssteigernden Effekten der Telemedizin, deren neue Möglichkeiten dazu führen können, „bisher geübte temporale und sektorale Differenzierungen des haftungsrechtlich maßgeblichen Standards zu verwischen und diesen flächendeckend anzuheben“, vgl. Pflüger VersR 1999, 1070 (1072); zu den damit verbundenen Rechtsfragen DGMR MedR 1999, 557 f.; Ulsenheimer/Heinemann MedR 1999, 197 ff.; Hanika MedR 2001, 107 ff.; Deutsch VersR 2007, 1323 ff.; zu deren Einsatz im Rettungsdienst Katzenmeier/Schrag-Slavu, Rechtsfragen des Einsatzes der Telemedizin im Rettungsdienst, 2010. – Zu Fragen des Standards bei ärztlicher Fernbehandlung (zulässig gem. § 7 Abs. 4 MBO-Ä) Katzenmeier NJW 2019, 1769 ff.; Stellpflug GesR 2019, 76 ff.

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Andererseits muss jedes Krankenhaus über eine dem modernen Standard gerecht werdende apparative Grundausstattung verfügen.76 Eine Klinik, die zur standardgemäßen Versorgung eines bei ihr eingelieferten Notfallpatienten außerstande ist, hat unverzüglich für eine Verlegung in das nächstgelegene geeignete Krankenhaus Sorge zu tragen.77 Entsprechendes gilt für Arztpraxen. Ein bestimmter Mindeststandard darf als unverzichtbare Basisschwelle nicht unterschritten werden.78 Bietet der Arzt oder ein Krankenhaus diesen Mindeststandard, so kann im Einzelfall doch die Pflicht bestehen, den Patienten auf anderenorts bessere Behandlungsbedingungen hinzuweisen, wobei sich die Rechtsprechung bislang zurückhält mit der Forderung nach Aufklärung über die Qualität der medizinischen Versorgung.79

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Im Übrigen gilt es stets zu beachten, dass der haftungsrechtliche Maßstab keine Rücksicht nehmen kann auf örtliche Schwächelagen, auf personelle oder instrumentelle Engpässe im konkreten Behandlungsbereich, auf die fehlende Ausbildung und Erfahrung eines Arztes, auf Lücken in der Koordination, selbst wenn sie von einer restriktiven Haushaltspolitik vor Ort diktiert werden.80 Gegenüber solchen individuellen Defiziten muss das Recht situationsfest sein, will es das Vertrauen in die Medizin und seine Leistungsfähigkeit rechtfertigen.81 Örtliche Qualitätsgrenzen finden keine Berücksichtigung bei der Festlegung der Standards. Anderes kann hinsichtlich der allgemeinen Grenzen des Systems gesundheitlicher Versorgung gelten.

II. Kostendruck und Standard 21

Vor dem Hintergrund des Kostenanstiegs im Gesundheitswesen bei immer knapper werdenden finanziellen Ressourcen gewinnt die Frage zunehmend an Bedeutung, ob Krankenhausträger und Ärzte die hohen Standards medizinischer Versorgung wie gewohnt zu halten vermögen, oder ob Maßnahmen der Kostendämpfung (vornehmlich) in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu Begrenzungen des ärztlichen Heilauftrags führen (müssen) – auch mit haftungsrechtlichen Konsequenzen.82

76 BGH NJW 1992, 754 (755); 1989, 2321 (2322); Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, Rn. B 6; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 637; s. auch Damm NJW 1989, 737 (739).

77 OLG Köln NJW-RR 2003, 1032.

78 Kullmann VersR 1997, 529 (531); Bergmann VersR 1996, 810 (812); krit. ggü. Standarddifferenzierungen und der Begriffsverwendung Hart NJW 2016, 222.

79 Vgl. grundlegend BGHZ 102, 17 (23 ff.) = NJW 1988, 763 (764 f.) = MedR 1988, 91 (92 ff.); BGH NJW 1984, 1810; 1987, 2291; 1988, 2302; 1992, 754; dazu Steffen FS für Geiß, 487 (502); der Rspr. zust. Laufs in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 60 Rn. 6 f.; demggü. krit. Giesen JZ 1988, 414; Damm JZ 1998, 926 (930); Hart MedR 1999, 47 (48 ff.); Francke/Hart, Charta der Patientenrechte, 181 ff., 228 ff.; zur Forderung der 69. GMK nach mehr Patienteninformationen über medizinische Qualitätsfragen vgl. Katzenmeier MedR 1997, 498 f.

80 BGHZ 144, 296 (306) = NJW 2000, 2737 (2740) = MedR 2001, 197 (199); Ulsenheimer MedR 1995, 438 (440).

81 Steffen MedR 1993, 338; Pauge/Offenloch, Arzthaftungsrecht, Rn. 169.

82 Die Zusammenhänge zwischen wirtschaftlichen Gegebenheiten und medizinischen Erfordernissen wurden erst in den 1990er Jahren Gegenstand einer vertieften Diskussion. Aus dem inzwischen reichhaltigen Schrifttum hervorzuheben sind: Goetze, Arzthaftungsrecht und kassenärztliches Wirtschaftlichkeitsgebot, 1989; Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, 1992; Nagel/Fuchs, Soziale Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 1993; DGMR, Empfehlungen zum V. Einbecker Workshop MedR 1993, 484; AG RAe im MedR, Die ärztliche Behandlung im Spannungsfeld zwischen kassenärztlicher Verantwortung und zivilrechtlicher Haftung, 1992; dies., Die Budgetierung des Gesundheitswesens – Wo bleibt der medizinische Standard?, 1997;

Voß, Kostendruck und Ressourcenknappheit im Arzthaftungsrecht, 1999; Conradi, Verknappung medizinischer Ressourcen und Arzthaftung, 2000; Vosteen, Rationierung im Gesundheitswesen und Patientenschutz, 2000;

Steffen FS für Geiß, 2000, 487 ff.; Katzenmeier, Arzthaftung, 285 ff.; Beiträge 28. Symposion der Kaiserin-Friedrich Stiftung und DGMR 2003, ZaeFQ 2004, 173–240; s. auch DGMR MedR 2003, 711; Kick/Taupitz (Hrsg.), Gesundheitswesen zwischen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit, 2005; Schirmer/Fuchs in Katzenmeier/Bergdolt, Das Bild des Arztes im 21. Jahrhundert, 2009, 121 ff.; Arnade, Kostendruck und Standard;

Stöhr MedR 2010, 214 ff.; Gaßner/Strömer MedR 2012, 159 ff.; Makowsky VersR 2019, 983 ff.; Jansen, Der Medizinische Standard, 269 ff.

1. Ressourcenknappheit 22

In den vergangenen Jahrzehnten sind die Ausgaben für das Gesundheitswesen in der Bundesrepublik Deutschland beträchtlich gestiegen.83 Ursache dafür ist zunächst ein wachsendes Krankheitsvolumen, da die Menschen immer älter werden, der Krankheitsbegriff sich ausweitet und mit den Umweltbelastungen und Stressfaktoren im Alltag die Leiden insgesamt zunehmen.84 In noch viel stärkerem Maße vergrößert sich das Behandlungsvolumen, die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen.

Die Entwicklung der Medizin erscheint als eine „Explosion des Machbaren“.85 Fortwährend steigern sich die Angebote der Apparate- und Präparate-Medizin und wecken ihrerseits neue Ansprüche.86 Da sich mit ihren Errungenschaften der Kreis der Therapiebedürftigen ausweitet, jeder medizinische Fortschritt einen zusätzlichen Bedarf erzeugt, der nicht bestand, als es die Mittel zu seiner Befriedigung noch nicht gab, ist die Rede von der Medizin in der „Fortschrittsfalle“.87 Es zeigt sich ein immer deutlicherer „Überhang des theoretisch Machbaren über das praktisch Finanzierbare“ in der modernen Medizin,88 eine „Kluft zwischen Verheißung und Erfüllung“ öffnet sich im Gesundheitswesen.89 a) Effiziente Mittelverwendung

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Damit möglichst viele Patienten in gleicher Weise und in ausreichendem Maße weiterhin von den Leistungen der Medizin profitieren können, sind dringend Rationalisierungen geboten, welche eine effiziente Mittelverwendung in allen Bereichen der Medizin sicherstellen.90 Gesundheitsökonomische Überlegungen leisten wichtige Hilfe bei dem Bestreben, die vorhandenen Ressourcen optimiert, d.h.

mit maximalem Nutzen für die Gesundheit aller zu verwenden.91 Dazu ist es gerade in Zeiten knapper werdender Mittel eines solidarisch finanzierten Gesundheitswesens erforderlich, von der ausschließlich individualmedizinischen Betrachtung in der Medizin abzurücken und das Wohl der Allgemeinheit mitzubedenken.92 Fragen nach Prioritäten und Präferenzen, Nutzen-Risiko-Abwägungen und Kosten-Nutzen-Relationen sowie Fragen nach dem Bedarf einzelner Gesundheitsmaßnahmen gewinnen an Bedeutung.93 Ökonomische Analysen zeigen freilich immer nur Wege auf, wie mit verfügbaren Mitteln mehr oder wie das gleiche mit weniger Mitteln zu erreichen ist, niemals sind ihre Ergebnisse selbst Entscheidungen hinsichtlich des geschuldeten Aufwandes bei Diagnose oder Therapie. Aus ethischer

83 Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes stiegen sie erstmalig im Jahre 2017 auf über eine Mrd. EUR pro Tag (insgesamt 375 Mrd. EUR; entspricht 11,5 % des BIP); 2016 wurde in der GKV die Grenze von 200 Mrd.

EUR überschritten, vgl. Statistisches Jahrbuch 2019, abrufbar über www.destatis.de, Rubrik Gesundheit.

84 Laufs in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 2 Rn. 5; Uhlenbruck MedR 1995, 427. Gerade auch eine immer leistungsfähigere Medizin trägt dazu bei, dass sich die durchschnittliche Lebenserwartung im Laufe des letzten Jahrhunderts nahezu verdoppelt hat. Mit ihren Technologien bewirkt sie in vielen Fällen allerdings nur eine Verlängerung der Zeitspanne vom Beginn einer Krankheit bis zum Tod, ohne sie abschließend zu heilen, dazu Krämer, Wir kurieren uns zu Tode, 31; Oberender FS für Gitter, 701.

85 Krämer, Die Krankheit des Gesundheitswesens, 40; ders. MedR 1996, 1 f.; Laufs in Laufs/Kern, ArztR-HdB,

§ 2 Rn. 9; ders. NJW 1996, 1571 (1575).

86 Laufs in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 2 Rn. 6; zu den Erwartungen einer „emanzipierten“ Patientenschaft Katzenmeier, Arzthaftung, 25 ff.

87 Krämer, Die Krankheit des Gesundheitswesens, 28 ff.; ders. MedR 1996, 1 (3); Laufs in Laufs/Dierks/Wienke/Graf-Baumann/Hirsch, Die Entwicklung der Arzthaftung, 1; DGMR ebd. 353; Oberender FS für Gitter, 701 ff.; Fuchs MedR 1993, 323: „Fortschritts-Ausgaben-Spirale“; Imhof, GuP 2011, 217, 220.

88 Krämer MedR 1996, 1; ders. KrV 2005, 103 (104); Arnold in Häfner, Gesundheit unser höchstes Gut?, 1999, 247 ff.

89 Flöhl zit. nach Krämer MedR 1996, 1; Fuchs MedR 1993, 323 (326); Deutscher Ethikrat, Kosten und Nutzen im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung, Stellungnahme, 2011, 16 f.

90 Zum Begriff der Rationalisierung Kingreen in ders./Laux, Gesundheit und Medizin im interdisziplinären Diskurs, 2008, 147 (151).

91 Hart MedR 1996, 60 f.; Richter EthikMed 1997, 3.

92 Deutscher Ethikrat, Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus, Stellungnahme, 2016, 54 ff, 115 ff.

93 Zu Möglichkeiten und Grenzen kostensensibler Leitlinien vgl. die Beiträge in Marckmann, Kostensensible Leitlinien, 2011 und 2015; krit. Hauck SGb 2010, 193 ff.

Sicht ist das simplifizierende Vorteil-Nachteil-Kalkül nur bedingt verwertbar, ökonomische Evaluierungen können keine Entscheidungspriorität haben, da mit der Forderung nach Gesundheit die Effektivität einer Heilmaßnahme das maßgebende Kriterium sein und bleiben muss.94

b) Rationierung medizinischer Leistungen 24

Effizienzsteigernde Rationalisierungen werden nicht ausreichen, um dem Kostenanstieg im Gesundheitswesen wirksam zu begegnen. Letzten Endes sind Rationierungen unumgänglich,95 wobei diese ethisch stets bedenklich bleiben, da sie immer einen Verzicht auf effektive Leistungen bedeuten.96 25

In der Diskussion um Verteilungsgerechtigkeit gilt es verschiedene Stufen der Allokationsentscheidungen zu unterscheiden:97 Auf der oberen Ebene der Makroallokation entscheidet die Regierung über die Verteilung des Bruttosozialprodukts auf die verschiedenen Ressorts und damit über die Höhe der Gesundheitsausgaben insgesamt. Auf der unteren Ebene der Makro-Allokation wird über die Aufteilung des Gesamtgesundheitsbudgets auf verschiedene Bereiche wie Prävention, kurative Medizin, Rehabilitation, Palliativmaßnahmen entschieden. Davon zu trennen ist die Mikroallokationsstufe, die durch praktische Behandlungskonflikte gekennzeichnet ist. Auf deren oberer Ebene geht es um Verteilungsprinzipien etwa in Abteilungen eines Krankenhauses, nach denen sich bestimmt, welche Patientengruppen welche Behandlung bekommen oder von einer Behandlung ausgeschlossen werden, welche Behandlungsart abgebrochen oder erst gar nicht aufgenommen werden soll. Auf der unteren Ebene der Mikroallokation schließlich hat der einzelne Arzt jeweils darüber zu entscheiden, welche Aufwendungen der konkrete Patient erhält.

94 Hart MedR 1996, 60 (61 f.); Richter EthikMed 1997, 3 (11); Steffen FS für Geiß, 487 (497 f.); R. Giesen ZVersWiss 2004, 557 ff.; Honecker ZVersWiss 2004, 623 ff.; Kemmler NZS 2014, 521 (529 f.); s. auch Deutscher Ethikrat, Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen - Zur normativen Funktion ihrer Bewertung, Stellungnahme, 2011; Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Zum Verhältnis von Medizin und Ökonomie im deutschen Gesundheitssystem, 2016, abrufbar unter www.leopoldina.org; AWMF, Medizin und Ökonomie - Maßnahmen für eine wissenschaftlich begründete, patientenzentrierte und ressourcenbewusste Versorgung, 2018, abrufbar unter www.awmf.org. – Weiterführend die Kritik an der utilitaristischen Theorie von Mackie, Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen, 1986, 157 ff.; dazu Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik,

52013; Maio, Lehrbuch Ethik in der Medizin, 22017, 41 ff. (sowie 395 ff. allg. zum Verhältnis von Medizin und Ökonomie).

95 Vgl. etwa Nationaler Ethikrat, Gesundheit für alle – wie lange noch?, Rationierung und Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 2006, abrufbar unter www.ethikrat.org; Beschluss des 111. DÄT „Ulmer Papier“, DÄBl 2008, A-1189 (A-1194 f.), auch abrufbar unter www.bundesaerztekammer.de; Schumpelick/Vogel, Was ist uns die Gesundheit wert? Gerechte Verteilung knapper Ressourcen, 2007; Schöne-Seifert/Buyx/Ach, Gerecht behandelt?

Rationierung und Priorisierung im Gesundheitswesen, 2006; Isensee ZVersWiss 2004, 651 ff.; ders., Gedächtnisschrift Heinze, 2005, 417 ff.; Huster et al. MedR 2007, 703 ff.; ders. DVBl 2010, 1069 ff; ders. VSSR 2011, 183 ff.; ders., Denkschrift 60 Jahre BSG, Bd. 2, 2015, 223 ff.; s. auch Welti MedR 2010, 379 ff.; Oduncu MedR 2012, 359 ff.

96 Vgl. Fuchs MedR 1993, 323 (324); Bossmann MedR 1996, 456 ff.; Richter EthikMed 1997, 3 (12); Beiträge in EthikMed 2001, Heft 1–2. Zu den rechtlichen Grenzen einer Rationierung in der Medizin Uhlenbruck MedR 1995, 427 (429 ff.); Nettesheim VerwArch 2002, 315 ff.; Isensee ZVersWiss 2004, 651 (662 ff.); ders., Gedächtnisschrift Heinze, 417 (427 ff.); R. Giesen ZVersWiss 2004, 557 (576 ff.); Seewald in Seewald/Schoefer, Zum Wert unserer Gesundheit, 2008, 29 (45 ff.); Rixen in Fischer/Meyer, Gesundheit und Wirtschaftswachstum, 2010, 51 (57 ff.);

Kemmler NZS 2014, 521 ff.; speziell zur Altersrationierung Huster MedR 2010, 369 ff.; zu strafrechtlichen Risiken der Rationierung s. Sternberg-Lieben FS für Weber 2004, 69 ff.; ders. FS für Geppert, 2011, 723 ff.;

Dannecker/Streng MedR 2011, 131 ff.; zu haftungsrechtlichen Risiken → Rn. 31 ff.

97 Grundlegend Engelhardt, Foundations of Bioethics, 1986, 344 f.; s. auch etwa ders. in Sass, Ethik und öffentliches Gesundheitswesen, 1988, 35; Illhardt/Piechowiak in Kahlke/Reiter-Theil, Ethik in der Medizin, 1995, 126 ff.; v. Engelhardt DÄBl 2019, A-358 ff.

(aa) Ort der Entscheidung 26

Da der Arzt vor Ort über die medizinische Behandlung eines konkreten, identifizierbaren Menschen entscheidet, ist er mit der Vorenthaltung effektiver medizinischer Leistungen im Einzelfall regelmäßig moralisch überfordert.98 Unumgängliche Rationierungsmaßnahmen sollten daher indirekt in Form von Sparbeschlüssen auf einer möglichst hohen hierarchischen Ebene getroffen werden.99 Nicht die interaktionelle Ebene zwischen Arzt und Patient, sondern der gesundheitspolitische Diskurs, der die Rahmenbedingungen für eine effiziente Mittelverteilung aufgrund der vorfindlichen wissenschaftlichen Gesamtanalyse festlegen muss, ist Ort der Entscheidung.100 Durch eine politisch vorweggenommene, vom gesellschaftlichen Konsens gedeckte ex ante-Beschränkung seiner Handlungsmöglichkeiten wird der Einzelne zumindest partiell von der Bürde direkter Rationierungsentscheidungen entlastet.101

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Das Interesse der interdisziplinären Gesundheitsforschung gilt aktuell der Frage, ob an die Stelle der kasuistischen, intransparenten und häufig impliziten Vorenthaltung medizinisch notwendiger102 Leistungen (Rationierung) künftig eine Rangordnung treten kann, bei der klar definierte Kriterien und transparente Verfahren zu nachvollziehbaren, akzeptablen Entscheidungen führen (Priorisierung).103 (bb) Der Arzt zwischen Individual- und Allgemeinwohl

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Ist eine Rationierung unvermeidlich, so müssen die Kriterien für die Patientenauswahl durch gesellschaftlich-demokratische Entscheidungsfindungen legitimiert sein. Es bedarf eines Allokationssystems, das strukturierte Entscheidungsvorgaben bis auf die untere Mikroallokationsebene schafft, so dass der Arzt nicht selbst für oder gegen einen Patienten entscheiden, sondern nur das Vorliegen der Faktoren einer vorgegebenen systemischen Entscheidung ermitteln muss. Ansonsten überließe man dem Arzt eine moralisch zweifelhafte Vorenthaltungspflicht, die er im Wege einer verdeckten oder impliziten Rationierung aufgrund nicht näher bestimmter Kriterien zum Nachteil einzelner Patienten zu konkretisieren hätte. Ihm käme die Rolle eines „Funktionärs austeilender Gerechtigkeit“ zu, welche den besonderen Charakter seines Dienstes grundlegend veränderte, zu deutlich mehr Rechtsstreitigkeiten führte und zu weiteren Reglementierungen des klinischen Alltags von außen.104 Im Umgang mit dem Hilfesuchenden steht der Arzt immer zuerst in dessen Diensten.105 Strategien der Mittelbeschränkung dürfen ihn nicht dazu zwingen, gesundheitsökonomische Entscheidungen am Krankenbett für oder gegen den einzelnen Patienten zu treffen.106 Gemäß dem

98 Calabresi/Bobbitt, Tragic Choices. The conflicts society confronts in the allocation of tragically scarce resources, 1978; Uhlenbruck MedR 1995, 427 (430).

99 Krämer MedR 1996, 1 (5); ders., Die Krankheit des Gesundheitswesens; Oberender FS für Gitter, 701 (707);

Künschner ZaeF 87 (1993), 559 (561).

100 Richter EthikMed 1997, 3 (11 ff.); Huster et al. MedR 2007, 703 (705); vgl. auch das „Ulmer Papier“, Beschluss des 111. DÄT, Teil A 4., DÄBl 2008, A-1189 (A-1195).

101 Oberender FS für Gitter, 701 (707); skeptisch gegenüber dem erhofften Entlastungseffekt Laufs NJW 1999, 1758 (1767).

102 Zum Begriff der medizinischen Notwendigkeit Schöne-Seifert et al. EthikMed 2018, 325 ff.

103 Vgl. dazu die Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO), DÄBl 2007, A-2750 ff.; Artikelserie im DÄBl 2009, eröffnet mit Fuchs/Nagel/Raspe, A-554; Schwerpunktheft ZEFQ 103 (2009), Heft 2 sowie 106 (2012), Heft 6; Wenner GesR 2009, 169 (178 ff.); Welti MedR 2010, 379 (381 ff.);

Huster DVBl 2010, 1069 (1073 ff.); Heyers MedR 2016, 857 (859 ff.); einen Überblick über Erfahrungen mit existierenden Priorisierungssystemen und deren verschiedenartige Wirkweisen gibt Schmitz-Luhn, Priorisierung in der Medizin; s. auch ders. FS für Dahm, 437 (438 ff.); zu in Betracht kommenden Priorisierungskriterien s. die Beiträge in Schmitz-Luhn/Bohmeier, Priorisierung in der Medizin.

104 Laufs in Nagel/Fuchs, Soziale Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, 290; ders. NJW 1999, 2717 (2718).

105 Laufs, Der ärztliche Heilauftrag aus juristischer Sicht, 46 ff.; ders. in Laufs/Kern, ArztR-HdB, § 2 Rn. 7.

106 Hoppe MedR 2011, 216 (219); Richter EthikMed 1997, 3 (11); Oberender FS für Gitter, 701 (711). Zu entsprechenden Erfahrungen in der Praxis indes die qualitativ-empirische Studie von Naegler/Wehkamp, Medizin zwischen Patientenwohl und Ökonomisierung, 2018; s. auch Weyersberg/Roth/Woopen DÄBl 2018, A-382 ff.;

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