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Archiv "Palliativmedizin: Eine Disziplin für den „ganzen Menschen“" (07.01.2008)

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A20 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 1–2⏐⏐7. Januar 2008

T H E M E N D E R Z E I T

M

it dem GKV-Wettbewerbs- stärkungsgesetz (GKV-WSG) und im Nachgang mit den Bestim- mungen des Gemeinsamen Bundes- ausschusses wird implizit die gesam- te Versorgung von Schwerkranken und Sterbenden neu geordnet. Laut Begründung zum GKV-WSG sollen von allen Schwerkranken und Ster- benden etwa 90 Prozent, also die große Mehrheit der Betroffenen, in der „allgemeinen“ und die Minder- heit (etwa zehn Prozent) in der „spe- zialisierten“ Versorgung betreut wer- den (Grafik 1). (1, 2)

Fließende Grenze

Diese Aufteilung ist sinnvoll: Sie begegnet einerseits dem Trend der Fragmentarisierung des Gesund- heitssystems, indem die große Mehrheit der Betroffenen in beste- henden Strukturen versorgt werden soll. Andererseits trägt sie den Er- fahrungen der letzten 25 Jahre in Deutschland Rechnung, in denen Einrichtungen modellhaft gezeigt haben, wie sinnvoll ein spezialisier- tes Palliativteam („Palliative Care

Team“, PCT) in bestimmten Situa- tionen sein kann.

Die Grenze zwischen „allge- mein“ und „spezialisiert“ ist aller- dings fließend und kann nur an- näherungsweise definiert werden (Tabelle). Sie hängt neben der Kom- plexität der Patientensituation von der Qualität der allgemeinen Versor- gung ab und kann sich auch im Ver- lauf der Erkrankung verändern. Ziel der Versorgung im spezialisierten Bereich muss immer die Stabi- lisierung und wenn möglich die Rücküberweisung in die allgemeine Versorgung sein. Die derzeitige Neuregelung einer „spezialisierten“

Versorgung schließt nicht aus, dass es künftig weitere Verbesserungen auch im Bereich der „allgemeinen“

Versorgung geben muss.

Für Palliativpatienten ist die opti- male Versorgung zu Hause essenzi- ell; sie können Arztpraxen oder Kli- nikambulanzen meistens nicht mehr erreichen. Ambulante Palliativver- sorgung muss sich also an der Ver- fügbarkeit zu Hause messen lassen.

Was explizit für die Versorgung zu

Hause neu geregelt wird, gilt im- plizit auch für den stationären Be- reich. Dort wird die Mehrheit der Palliativpatienten auf Allgemeinsta- tionen, beispielsweise der Onkolo- gie, Neurologie oder Gynäkologie, also im „allgemeinen“ Versorgungs- bereich, betreut. Nur für einen klei- nen Teil der Patienten ist die Über- nahme auf eine spezialisierte Pallia- tivstation notwendig. Dies ist noch weniger nötig, wenn zur Unterstüt- zung der allgemeinen Palliativver- sorgung auf den Normalstationen multiprofessionelle palliativmedi- zinische Konsildienste einbezogen werden. Diese können etwa dop- pelt so viele Patienten auf Allge- meinstationen wie auf den parallel bestehenden Palliativstationen ver- sorgen.

Differenziertes Angebot Eine parallele Funktion, also Bera- tung und wenn nötig Übernahme der Betreuung, werden auch die PCT im ambulanten Bereich ausüben. Sie werden sich um eine Patientengrup- pe kümmern, die derzeit stationär versorgt wird. Als Bindeglied sind zusätzlich palliativmedizinische Ta- geskliniken sinnvoll, die zurzeit an manchen Häusern mit Palliativstatio- nen eingerichtet werden (Grafik 2).

Somit steht dann ein differenziertes Angebot an Versorgungsstrukturen zur Verfügung, das rasch und flexi- bel den Bedürfnissen der Betroffe- nen entsprechend eingesetzt werden kann. Wann genau oder unter wel- chen Bedingungen eine „palliative Therapie“ mit primärem Therapie- ziel Lebensverlängerung in eine

„Palliativversorgung“ mit dem pri- mären Therapieziel Lebensqualität übergeht, bleibt eine Einzelfallent- scheidung. Bei Unsicherheit sollten

„spezialisierte“ Teams zugezogen werden, bis das Therapieziel defi- niert ist.

PALLIATIVMEDIZIN

Eine Disziplin für den „ganzen Menschen“

Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz hat die Versorgung von Schwerkranken und Sterbenden neu geordnet, mit Konsequenzen für Forschung, Lehre und Versorgung.

GRAFIK 1

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 1–2⏐⏐7. Januar 2008 A21

T H E M E N D E R Z E I T

Ausdrücklich ist im GKV-WSG von Palliativversorgung und nicht von Palliativmedizin die Rede. Der Gesetzestext definiert „Versorgung“

als Vorhandensein von Medizin, Pfle- ge und Koordination. Weitere Berufs- gruppen zu nennen, hätte die Zustän- digkeit des GKV-WSG als Teil des SBG V überschritten. Die bestehende Aufzählung ist also eine künstliche und nicht an Patientenbedürfnissen orientierte Einschränkung. Sie ist je- doch ein wichtiger erster Schritt, um anzuerkennen, dass in der Palliativsi- tuation die Bedürfnisse der Betroffe- nen so vielschichtig sind, dass eine einzelne Berufsgruppe allein diesen nicht adäquat begegnen kann, also ein Team notwendig ist.

Die Konsequenzen

Bei allen Diskussionen muss als Maßstab für die Behandlung und Ver- sorgung todkranker und sterbender Menschen deren Sichtweise und die ihrer Angehörigen im Vordergrund stehen und nicht das, was Professio- nelle als solche ansehen. Spezialisier- te Palliativmedizin konnte sich über- haupt nur dadurch entwickeln, dass starken und berechtigten Patienten- bedürfnissen im Hinblick auf das Le- bensende von etablierten Strukturen

nicht genügend Aufmerksamkeit ent- gegengebracht wurde.

Aufgrund der epidemiologischen Entwicklung werden alle, die im Be- reich von Alterskrankheiten, Krebs und Palliativmedizin tätig sind, ge- nug zu tun haben. Deshalb muss im Interesse der Betroffenen, aber auch im Interesse des Gesundheitssystems gelten:

> Patientensicht vor Eigeninter- esse

> ambulante vor stationärer Be- treuung sowie

> Beratung durch spezialisierte Teams vor Übernahme.

Je geringer jedoch die Qualität der ambulanten allgemeinen Versor- gung ist, umso mehr Patienten müs- sen in der ambulanten spezialisier- ten Palliativversorgung betreut wer- den. Je weniger die ambulante spe- zialisierte Versorgung den Notwen- digkeiten von Patienten und auch Angehörigen angemessen begegnet kann, desto mehr Patienten müssen stationär aufgenommen werden. Ei- ne hohe Qualität der Versorgung ist also im Interesse der Betroffenen, aber auch des Systems erforderlich.

Umso erstaunlicher ist es, dass derzeit in mehreren verschiedenen Zuständigkeitsbereichen (zum Bei-

spiel Versorgungsverträge, Vergabe der Zusatzbezeichnung) versucht wird, Qualitätsanforderungen im Palliativbereich möglichst niedrig zu halten.

Eine zweigliedrige Versorgung (allgemein und spezialisiert) erfor- dert eine zumindest zweigliedrige Aus- und Weiterbildung. Medizin- studierende erhalten derzeit nur in wenigen Ausnahmefakultäten eine adäquate Ausbildung in Palliativ- medizin. Wenn die Medizinerausbil- dung flächendeckend optimiert ist, werden dies und die reguläre Fach- arztausbildung genügen, um qualifi- ziert eine „allgemeine“ Palliativver- sorgung zu leisten? Oder muss eine weitere Qualifikation, zum Beispiel in Abhängigkeit vom Facharztge- biet, eingeführt werden? In den USA wird derzeit Palliativmedizin für mehrere klinische Kernbereiche als „subspeciality“ (mit theoreti- schem und praktischem Ausbildungs- curriculum) eingeführt. (4, 5)

Zusatzbezeichnung

Genügt diese Ebene dann, oder er- fordert die Breite der Diagnosen im Bereich „spezialisierter“ Palliativ- versorgung eine weitere Qualifikati- on mit palliativmedizinischer Erfah- TABELLE

Was leistet die allgemeine, was die spezialisierte Palliativversorgung?

Kriterium Allgemeine Palliativversorgung Spezialisierte Palliativversorgung 1. Schmerzen Untersuchung, angemessene Diagnostik inadäquate Schmerzkontrolle

Beginn der Therapie nach WHO-Stufenleiter inakzeptable Nebenwirkungen mind. tägliche Kontrolle des Therapieeffekts*

Dokumentation*

2. andere Symptome Untersuchung, angemessene Diagnostik inadäquate Symptomkontrolle

Beginn der Therapie inakzeptable Nebenwirkungen

mind. tägliche Kontrolle des Therapieeffekts* komplexe Symptomkombinationen Dokumentation*

3. psychologische Unterstützung grundlegende psychologische und spirituelle Hilfe*/** komplexe psychologische oder/und für Patient und Angehörige angemessene Kontrolle und Dokumentation* spirituelle Situation

4. sterbender Patient Diagnose Sterbephase komplexe somatische, psychologische

adäquate Symptomkontrolle oder/und spirituelle Situation adäquate psychologische Unterstützung*/**

5. Krankheitsverarbeitung Sicherstellen, dass Patient und Angehörige Verleugnung oder andere Kommunikations- Diagnose und Krankheitssituation kennen und hindernisse in der Familie, die eine bewusst Therapieentscheidungen treffen können adäquate Behandlung verhindern Re-Evaluation bei klinischer Änderung komplexe Familiendynamik Dokumentation*

6. bedarfsgerechte Versorgung ggf. Überweisung an teilstationäre oder stationäre Verlegung unter Zeitdruck, Verlegung in

Einrichtung* Palliativstation oder Hospiz

* dabei kann die Hinzuziehung eines ambulanten Palliativpflegedienstes hilfreich sein und eine stationäre Einweisung verhindern helfen

** dabei kann die Hinzuziehung einer ambulant arbeitenden Hospizgruppe hilfreich sein und eine stationäre Einweisung verhindern helfen

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A22 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 1–2⏐⏐7. Januar 2008

T H E M E N D E R Z E I T

rung in mehreren Facharztberei- chen? Die derzeitige Regelung einer

„Zusatzbezeichnung Palliativmedi- zin“ war ein essenzieller erster Schritt, wird aber im Zuge der künf- tigen Entwicklung angepasst wer- den müssen. Schon heute ist die Ver- gabe der Zusatzbezeichnung je nach Auslegung der Weiterbildungsord- nung durch die einzelnen Lan- desärztekammern inhaltlich zwei- geteilt: Einerseits erhalten Ärzte mit gutem theoretischem Fachwissen und langer Erfahrung die Zusatz- bezeichnung. Die gleiche Zusatz- bezeichnung erhalten aber auch Ärzte, die nur noch eine weitere Be- zeichnung erhalten wollen und eine Selbsterklärung abgeben müssen.

Darüber und über die adäquate Aus- bildung der anderen beteiligten Be- rufsgruppen muss in Zukunft weiter diskutiert werden.

Wer bildet im Bereich der Pallia- tivversorgung aus? Auch hier hat es sich seit den ersten Kurserfahrun- gen der 80er-Jahre vor allem in den Palliativakademien in der Förde- rung der Deutschen Krebshilfe ge- zeigt, dass sich die Ausbildung durch ein auf Palliativversorgung spezialisiertes Moderatorenteam be- währt hat. Dies ist nicht nur inhalt- lich begründet, sondern auch in der Verwendung speziell für die Pallia- tivlehre international entwickelter Lehrmethoden, wie sie zum Bei- spiel in den Kursen „Train the Trai- ner“ auf der Insel Frauenchiemsee vermittelt werden. (6, 7)

Um im Bereich Palliativversor- gung möglichst rasch voranzukom-

men, bedarf es auch im Forschungs- bereich spezialisierter Gruppen, die im internationalen Austausch spezi- ell auf die Situation von Palliativpa- tienten zugeschnittene Forschungs- methoden entwickeln.

Fazit

Um spezialisierte Patientenversor- gung, Lehre und Forschung im Pal- liativbereich leisten zu können, be- darf es eines in diesem Bereich ar- beitenden Teams, „des ganzen Men- schen“ in Anlehnung an Wilhelm Erb, der 1880 vor der Entstehung der neuen Fachrichtung Neurologie sag- te, hierfür sei der „ganze Mann“ ge- fordert. Spezialisierte Palliativmedi-

zin ist spätestens mit dem GKV- WSG nicht nur eine selbstständige Versorgungsstruktur, sondern mit ei- gener wissenschaftlicher Fachgesell- schaft (www.dgpalliativmedizin.de) und inzwischen fünf besetzten und weiteren geplanten unabhängigen Lehrstühlen ein eigenes klinisch- akademisches Gebiet geworden. I Prof. Dr. med. Raymond Voltz

LITERATUR

1. www.die-gesundheitsreform.de.

2. http://dip.bundestag.de/btd/16/031/

1603100.pdf.

3. www.aerzteblatt.de/v4/news/news.asp?

id=29820.

4. www.aahpm.org.

5. von Gunten CF, Lupu D: Progress for palliative medicine as a subspecialty.

J Support Oncol. 2005 Jul–Aug;3(4):267–8.

6. http://131.188.230.204/GMA/content/e3/

e527/e1363/e1365/FlyerPalliativ2008.pdf.

7. www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.

asp?src=heft&id=5650.

Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. R. Voltz Klinik für Palliativmedizin Klinikum der Universität zu Köln Kerpener Str. 62, 50924 Köln E-Mail: raymond.voltz@uk-koeln.de Danksagung: Meinen Kollegen Dr. Ch. Ostgathe, Dr. J. Gärtner sowie unserem Pflegeteamleiter Th. Montag für Hinweise zum Manuskript und die sehr gute Teamarbeit sowie der Deutschen Krebs- hilfe e.V. für ihre seit 25 Jahren andauernde Förde- rung der Palliativmedizin einschließlich unserer Einrichtung.

GRAFIK 2

SERIE PALLIATIVMEDIZIN

Bisher erschienene Beiträge:

>Heft 16/2007: Gisela Klinkhammer:

Palliativmedzin – junge Disziplin mit großem Potenzial

>Heft 22/2007: Interview mit Prof.

Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer:

„Die Palliativmedizin gehört zum Aufgabenbereich des Arztes“

>Heft 25/2007: Gisela Klinkhammer:

Quantensprung für die Versorgung Schwerstkranker

>Heft 28–29/2007: Birgit Hibbeler:

Palliativmedizin im Studium – Berührungsängste abbauen

>Heft 31–32/2007: Bernadette Fitt- kau-Tönnesmann: Palliativtraining

– auch Sterbebegleitung kann ge- lernt werden

> Heft 36/2007: Mark Taubert:

Palliativmedizin in Großbritannien – beliebte Karriereoption

> Heft 40/2007: Petra Spielberg: Pal- liativmedizin in Europa – noch kei- ne flächendeckende Versorgung

> Heft 42/2007: Claudia Bausewein:

Serie Palliativmedizin – finale Be- treuung nicht nur für Krebspatienten

> Heft 46/2007: Christine Vetter: Kin- derhospiz – im Haus Balthasar wird geweint und gelacht

> Heft 48/2007: Gisela Klinkhammer:

Palliativmedizin – den Sterbewillen in einen Lebenswillen ändern

Referenzen

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