A1792 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 104⏐⏐Heft 25⏐⏐22. Juni 2007
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alliativmedizin ist an sich die Urmedizin – also die Versor- gung der Bevölkerung bei den Siechen des späten Mittelalters und zu Beginn der Krankenhausbewe- gung“, sagte der Präsident der Bun- desärztekammer, Prof. Dr. med.Jörg-Dietrich Hoppe, gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt (DÄ, Heft 22/2007). Im Rahmen der
„Vernaturwissenschaftlichung“ der Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im gesamten 20. Jahrhundert seien jedoch Män- gel entstanden. Vor allem mit der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- derts einsetzenden rasanten Ent- wicklung der Medizin, mit der Ent- deckung der Antibiotika und den operativen Möglichkeiten nach der Entwicklung der Anästhesie kam es zu einschneidenden Veränderungen.
Die Tradition der Sterbebeglei- tung und Pflege Schwerstkranker war allerdings nie ganz abgebro- chen. So war es in Deutschland Pastor Theodor Fliedner, der vor rund 150 Jahren in Kaiserswerth ein Krankenhaus für Mittellose gründete, das vom ersten protestan- tischen Pflegeorden betrieben wur- de. Nach Kaiserswerth kamen so- wohl Florence Nightingale – sie legte dort sogar ihre Kranken- schwesterprüfung ab – als auch Mary Aikenhead, die 1879 in Dub- lin ein Hospiz gründete, das als ers- tes Hospiz auf den Britischen In- seln gilt. Pionierleistungen in der Schmerztherapie wurden vom Lon- doner St.-Luke’s-Krankenhaus er-
bracht, das 1893 von den Methodis- ten gegründet wurde.
1948 suchte Cicely Saunders eben dieses St.-Luke’s-Krankenhaus auf, zunächst um aus einem Lehr- krankenhaus entlassene Patienten zu besuchen, später zur Aufnahme ihrer systematischen Arbeit, die die moderne Palliativbetreuung begrün- den sollte. Ihre ersten Erfahrungen hatte Saunders im Zweiten Welt- krieg gemacht. Nach dem Krieg ließ sie sich als Sozialfürsorgerin ausbil- den. Nachts arbeitete sie als Sterbe- begleiterin in Londoner Kranken- häusern.
Entwicklung der Hospizidee Saunders studierte schließlich Me- dizin. Sie wies im Jahr 1962 nach, dass Patienten bei geeigneter Dosie- rung von Morphium ein normales Leben führen können und dass es bei richtiger Verwendung keine Suchtgefahr gebe. Sie stellte damit zum ersten Mal das Prinzip der Pal- liativmedizin auf eine wissenschaft- liche Grundlage und kam zu der
Schlussfolgerung, dass der ideale Ort für ein ganzheitliches Konzept mit medizinischer, sozialer und spi- ritueller Betreuung ein unabhängi- ges Hospiz sei. Im Jahr 1967 eröff- nete sie dann das St Christopher’s Hospice, das als die Wiege der mo- dernen Hospizbewegung gilt (DÄ, Heft 16/2007).
Die Hospizidee fand im englisch- sprachigen Raum eine rasche Aus- breitung. Im Jahr 1974 nahm in den USA das Connecticut Hospice seine Arbeit auf, ein Hausbetreuungs- dienst mit hauptberuflichen und eh- renamtlichen Helfern, aber ohne ei- gene Betten. 1975 wurde die erste Palliativstation am Royal Victoria Hospital in Montreal gegründet. Die Station war in das Krankenhaus in- tegriert, alle diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten des Krankenhauses standen den Patien- ten der Station zur Verfügung. Der Gründer dieses Krankenhauses, Belfour Mount, benutzte als erster in diesem Zusammenhang den Be- griff „palliative care“.
Ähnliche Einrichtungen entstan- den in den nächsten Jahren in vielen europäischen, asiatischen und ame- rikanischen Ländern. Eine Reihe von Hospizinitiativen wurde in der Bundesrepublik und vereinzelt auch in der Deutschen Demokratischen Republik gegründet. Erste palliativ- medizinische Ansätze fanden Ein- gang in die Tumornachsorge und in onkologische Schwerpunktpraxen, in Hausarztpraxen und in die Kran- kenpflege. Bereits in den 60er-Jah- ren begannen Mitarbeiter im Tübin- ger Paul-Lechler-Krankenhaus, ei- ner Klinik für Tropenmedizin und Innere Krankheiten, die in Londo- ner Hospizen gemachten Erfahrun- gen umzusetzen. Die Palliatividee wurde in die „normale“ Kranken- hausarbeit integriert.
Im Jahr 1971 wurde in Deutsch- land der im St Christopher’s Hos- pice gedrehte Dokumentarfilm
„Noch 16 Tage – eine Sterbeklinik in London“ ausgestrahlt. Dieser Film führte zur ersten öffentlichen Aus- einandersetzung mit dem Thema der unzureichenden Versorgung von Schwerstkranken und Sterbenden.
Der Film weckte aber gleichzeitig auch Assoziationen von „Sterbekli- PALLIATIVMEDIZIN
Quantensprung für die
Versorgung Schwerstkranker
In Deutschland entwickelte sich die palliative Versor- gung langsamer als in den angelsächsischen Ländern.
Inzwischen existieren aber auch hierzulande mehr als 140 Palliativstationen.
Dr.-Mildred- Scheel-Haus:Inge- borg Jonen-Thiele- mann im Gespräch mit einem Patienten
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Foto:KNA
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nik“, und von Kritikern wurde die Hospizidee sogar als Schritt zur Euthanasie missverstanden. Dieses Missverständnis führte immer wie- der zu Diskussionen. Erst in den 80er-Jahren entstanden Initiativen und Vereine, die wesentlich zur Weiterverbreitung und Akzeptanz der Hospizidee beitrugen. So ent- stand beispielsweise im Jahr 1984 unter der Leitung von Johann-Chris- toph Student an der Evangelischen Fachhochschule Hannover die Ar- beitsgruppe „Zuhause sterben“, die sich um eine Verbesserung der Si- tuation von Sterbenden und Trau- ernden bemühte. Zunehmend be- gannen auch kirchliche und andere Wohlfahrtsverbände, die Hospiz- idee zu unterstützen.
Pionierarbeit geleistet
Der deutsche Pater Helmut R. Zie- linski lernte im St Christopher’s Hospice nicht nur die Pflege-, son- dern auch die Schmerzbehand- lungskonzepte von Cicely Saunders kennen. Gemeinsam mit den Köl- ner Ärzten Prof. Dr. med. Dr. Heinz Pichlmaier und Dr. med. Ingeborg Jonen-Thielemann entwickelte er Pläne, auch in Deutschland eine Palliativstation zu errichten. Mit Unterstützung der Deutschen Krebs- hilfe konnte dies im Jahr 1983 in Köln verwirklicht werden. „Die Einrichtung der ersten Palliativsta- tion in Deutschland gilt als Quan- tensprung für die Versorgung un- heilbar kranker Krebspatienten in Deutschland“, schreibt die Deut- sche Krebshilfe. Diese Station, die zunächst in der Chirurgischen Kli- nik der Universität angesiedelt war, wurde 1992 in das mit 15 Palliativ- betten ausgestattete Dr.-Mildred- Scheel-Haus auf dem Gelände der Universitätskliniken zu Köln um- gesiedelt.
Anfang der 80er-Jahre war die fachgerechte Betreuung schwerst- kranker Menschen noch Pionierar- beit. Doch die kleine Kölner Station wurde bald zum Vorbild für weitere Einrichtungen. Bereits im Jahr 1984 wurde in Köln ein Hausbetreuungs- dienst eingerichtet. 1988 folgte die Gründung des ersten Hospizes für palliative Therapie. Ebenfalls mit Unterstützung der Deutschen Krebs-
hilfe wurden in Bonn die Palliativ- stationen der Paul-Janker-Klinik und des Malteser-Krankenhauses eröffnet. Dennoch ging die Ent- wicklung der Palliativmedizin in Deutschland langsamer voran als in Großbritannien. So gab es Anfang der 90er-Jahre nur je etwa ein Dut- zend Hospize und Palliativstatio- nen. Im Jahr 1994 wurde die Deut- sche Gesellschaft für Palliativmedi- zin (DGP) gegründet, die Ärzte und andere Berufsgruppen zur gemein- samen Arbeit am Aufbau und Fort- schritt der Palliativmedizin vereinen will. Inzwischen existieren immer- hin 1 300 ambulante Hospizdienste, 139 stationäre Hospize und 142 Pal- liativstationen.
Der größte Nachholbedarf be- steht nach Ansicht der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin bei den ambulanten Palliativdiens- ten. Bis auf wenige Modellprojekte und Einzelinitiativen habe sich de- ren Etablierung in Deutschland bis- her nicht durchsetzen können. Nach dem vor Kurzem in Kraft getretenen GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz sollen von den Kostenträgern künf- tig die nötigen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Im stationären Be- reich geraten durch die Einführung des DRG-Systems in der Kranken- hausfinanzierung inzwischen vie- lerorts Palliativstationen ebenfalls in eine bedrohliche Lage, da eine Abbildung der auf Palliativstatio- nen geleisteten Arbeit in der DRG-
Systematik bisher nicht möglich war.
Im Bereich der Aus-, Weiter- und Fortbildung ist es, so die DGP, in den letzten Jahren „zu bemerkens- werten Initiativen und Veränderun- gen gekommen“. Vom Deutschen Ärztetag wurde im Jahr 2003 eine neue (Muster-)Weiterbildungsord- nung verabschiedet, die eine eigen- ständige Zusatz-Weiterbildung Pal- liativmedizin ermöglicht und die Palliativmedizin darüber hinaus auch zum Gegenstand der Weiter- bildung in allen patientennahen Fachgebieten gemacht hat. „Auch in der neuen Approbationsordnung für Ärzte werden Palliativmedizin und Schmerztherapie immerhin er- wähnt. Hingegen wurde der Forde- rung der DGP, die Palliativmedizin zum Pflichtlehr- und Prüfungsfach für Medizinstudenten zu machen, leider nicht entsprochen.“ I Gisela Klinkhammer
LITERATUR
Aulbert E, Nauck F, Radbruch L: Lehrbuch der Palliativmedizin. Stuttgart. Schattauer 2007.
5–10.
Deutsche Krebshilfe: 30 Jahre Deutsche Krebshilfe – Verantwortung für das Leben.
2004. 66–9.
Ford G: Entstehungsgeschichte und Entwick- lung der Palliativbetreuung im Vereinigten Königreich (www.fes.de/fulltext/asfo/
00231003.htm).
GRAFIK
Entwicklung von Palliativmedizin und Hospizarbeit in Deutschland (Stand: 1. 10. 2006)
2006
1998
1992
1986
50
20 43
58
50 14
0
0 1 1
10 9
122 138
1300
500
ambulante Palliativdienste Palliativstationen stationäre Hospize ambulante Hospizdienste Weitere Informationen zur Palliativ- medizin: www.aerzteblatt.de/
dossiers/palliativ
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Quelle:Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin