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Ein Beitrag zur tiergerechten Haltung der Ratte anhand der Literatur

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(1)

Aus dem Institut für Tierschutz und Verhalten (Heim-, Labortiere und Pferde)

der Tierärztlichen Hochschule Hannover

__________________________________________________________

Ein Beitrag

zur tiergerechten Haltung der Ratte anhand der Literatur

INAUGURAL-DISSERTATION zur Erlangung des Grades eines

Doktors der Veterinärmedizin (Dr. med. vet.)

durch die Tierärztliche Hochschule Hannover

Vorgelegt von Oliver Schleif

aus Celle

Hannover 2001

(2)

Wissenschaftliche Betreuung: Univ.-Prof. Dr. med. vet. H. Hackbarth

1. Gutachter: Univ.-Prof. Dr. med. vet. H. Hackbarth 2. Gutachter: Univ.-Prof. Dr. med. vet. J. Schäffer

Tag der mündlichen Prüfung: 19.11.2001

Diese Arbeit ist in enger Zusammenarbeit mit dem Leiter der Versuchstierhaltung des Universitäts-Krankenhauses in Hamburg- Eppendorf, Herrn Dr. med. vet. J. Dimigen sowie Herrn Dr. rer. nat. A.

Haemisch, entstanden.

(3)

Meinen Eltern

(4)
(5)

INHALTSVERZEICHNIS

Seite

1 Einleitung

13

1.1 Geschichte, Ursprung und Laborisierung 14

2 Begriffe der Tierschutzgesetzgebung sowie ethologische

19

Konzepte zu ihrer Umsetzung

2.1 Die Begriffe des Tierschutzgesetzes 21

2.2 Ethologische Konzepte 32

2.3 Vergleich der verschiedenen ethologischen Konzepte 37

3 Die Ratte

44

3.1 Taxonomie 44

3.2 Die Wildratte (Rattus norvegicus) 45

3.3 Domestikation und Laborisierung 46

3.4 Ethogramm 48

3.4.1 Elementare Verhaltensweisen und Körperhaltungen 49

3.4.1.1 Lokomotionsverhalten 49

3.4.1.2 Körperhaltungen 51

3.4.2 Orientierungsverhalten 51

3.4.2.1 Akustische Orientierung 51

3.4.2.2 Olfaktorische Orientierung 53

3.4.2.3 Optische Orientierung 57

3.4.2.4 Taktile Orientierung 60

3.4.3 Vokalisationen 61

(6)

3.4.4 Stoffwechselbedingtes Verhalten 65

3.4.4.1 Ingestionsverhalten 65

3.4.4.2 Eliminationsverhalten 67

3.4.4.3 Caecotrophie 68

3.4.5 Komfort-, Ruhe- und Schlafverhalten 69

3.4.5.1 Körperpflege/Putzen 69

3.4.5.2 Ruhe- und Schlafverhalten 70

3.4.6 Explorations- und Markierungsverhalten 72

3.4.7 Nestbauen und Graben 77

3.4.8 Defensives Verhalten als Ausdruck der Angst 79

3.4.9 Sozialverhalten 83

3.4.9.1 Agonistisches Verhalten 83

3.4.9.2 Sexualverhalten 93

3.4.9.3 Aufzuchtverhalten 97

3.4.9.4 Spielverhalten 102

3.5 Vergleichende Betrachtung von Wild- und Laborratte 107

3.6 Verhaltensstörungen 110

4 Praxis der Rattenhaltung

115

4.1 Ratten in der Labortierhaltung 115

4.2 Ratten in der Heimtierhaltung 128

5 Angaben zur rattengerechten Haltung und ihre Bewertung

132

5.1 Umweltfaktoren 133

5.1.1 Raumtemperatur 134

5.1.1.1 Einfluss der Umgebungstemperatur auf 135

physiologische Parameter 5.1.1.2 Wahlversuche 136

(7)

5.1.2 Relative Luftfeuchtigkeit 137

5.1.2.1 Einflussbereiche der Luftfeuchtigkeit 138

5.1.3 Luftwechsel 139

5.1.4 Luftqualität 141

5.1.4.1 Durch Ammoniak bedingte klinische Symptome 141

5.1.4.2 Haltungseffekte auf Ammoniakkonzentrationen 144

5.1.5 Lichtintensität 146

5.1.5.1 Phototoxische Retinopathie 147

5.1.5.2 Einfluss auf das Schlafverhalten 148

5.1.6 Lichtzyklus 149

5.1.6.1 Einfluss auf das Sexualverhalten, die Zykluslänge 150

sowie auf endogene Biorhythmen 5.1.7 Geräusche 151

5.1.7.1 Einfluss von Geräuschbelastungen auf 152

physiologische und ethologische Parameter 5.1.7.2 Ultraschallvokalisationen in der innerartlichen 153

Kommunikation 5.1.7.3 Herkunft und Zusammensetzung von Geräuschen 155

in Tierhaltungen 5.2 Ernährung 156

5.2.1 Futter 156

5.2.2 Wasser 161

5.2.3 Nagematerial 162

5.3 Haltungsstrukturen 163

5.3.1 Käfiganreicherungen (Environmental Enrichment) 165

5.3.1.1 Physiologische, ethologische und neuroanatomische 169 Effekte von angereicherten Haltungssystemen 5.3.1.2 Präferenztests und deren Aussagekraft 170

5.3.1.3 Komplexe Anreicherungen (Super-Enrichment) 171

5.3.1.4 Einfluss von Enrichmentprogrammen auf die 172 Varianz von Messparametern

(8)

5.3.2 Fütterungseinrichtungen 176

5.3.3 Tränkevorrichtungen 176

5.3.4 Nagevorrichtungen 177

5.3.5 Käfigboden 178

5.3.6 Einstreu 181

5.3.6.1 Einfluss auf tierexperimentelle Befunde 182

5.3.6.2 Einfluss auf die Produktion von Schadgasen 183

5.3.7 Deckung, Ruheplätze, Nestmaterial 185

5.3.7.1 Nestboxen 186

5.3.7.2 Nestbaumaterial 188

5.3.8 Käfiggröße 189

5.3.8.1 Ansätze zur Abschätzung des Raumbedarfs 190

5.3.8.2 Käfiggrößenempfehlungen für die Labortierhaltung 192 5.3.8.3 Käfiggrößenempfehlungen für die Heimtierhaltung 195

5.3.8.4 Auswirkungen überhöhter Besatzdichten 197

5.3.8.5 Einfluss der Käfiggröße auf die Ammoniakproduktion 198 5.3.8.6 Einfluss der Käfiggröße auf das Spielverhalten 199

5.3.9 Käfighöhe 200

5.3.10 Einzelhaltung, Gruppenhaltung sowie Gruppenzusammen- 203

setzung 5.3.10.1 Einfluss sozialer Isolation auf physiologische und 203

ethologische Parameter 5.3.10.2 Pränatale soziale Isolation 210

5.3.10.3 Gruppenzusammensetzung und individuelle 210

Konstanz des Verhaltens 5.3.10.4 Optimale Gruppengröße 211

5.4 Kontakt zum Menschen 212

5.5 Diskussion 215

5.5.1 Bewertung der Umweltfaktoren 215

5.5.2 Bewertung des Themenkomplexes Nahrung 220

(9)

5.5.3 Bewertung der Haltungsstrukturen 222

5.5.3.1 Einrichtungselemente und Strukturen 222

5.5.3.2 Sozialpartner 225

5.5.4 Bewertung des Kontakts mit dem Menschen 227

5.5.5 Ableitung von Mindestflächenangaben für eine rattengerechte 228

Käfighaltung unter Vorgabe der wesentlichen Strukturen nach gegenwärtigem Wissensstand

6 Zusammenfassung

235

7 Summary

237

8 Anhang I: Verhaltensinventar der Ratte

239

9 Literatur

267

9.1 Schriftum 267

9.2 Gesetze, Europäische Übereinkommen, EG-Richtlinien und 347 Entwürfe

(10)

TABELLENVERZEICHNIS

Seite

Tab. 1 Ausdrucksmittel der Ratte für Schmerzen und Leiden 26 Tab. 2 Wesentliche äußere Faktoren und Verhaltensweisen bei Wander- 109 ratten im Vergleich mit "Laborratten"

Tab. 3 Verwendung des Versuchstiers “Ratte“ im Jahr 1998 u. 1999 117 Tab. 4 Zahlenmäßige Entwicklung der Versuchstierarten 117 Tab. 5 Dimensionen der Standard-Makrolonkäfige für die Labortierhaltung 121 Tab. 6 Richtwerte für die Umgebungsbedingungen in Haltungen von 122 Laborratten

Tab. 7 Richt- und Mindestwerte für den Platzbedarf von Laborratten 123 Tab. 8 Maximale Belegungsdichte der Standardkäfige für Ratten nach 124 EG-Richtlinie

Tab. 9 Richtlinien zur Käfighaltung von Laborratten 127 Tab. 10 Zusammensetzung von Alleinfuttermitteln für Ratten 158 Tab. 11 Intuitiv-empirischer Ansatz zur Entwicklung tiergerechter Haltungs- 167 formen

Tab. 12 Wissenschaftlich-ethologischer Forschungsansatz zur Entwicklung 167 tiergerechter Haltungsformen

Tab. 13 Vergleich und Beurteilung der Eigenschaften von Kontakteinstreu- 184 materialien

Tab. 14 Minimale Käfigabmessungen für männliche und weibliche Ratten 194 Tab. 15 Zusammenstellung wichtiger Klimafaktoren 219 Tab. 16 Tägliche Rationsgestaltung für eine Ratte 221 Tab. 17 Mindestflächenangaben für eine rattengerechte Käfighaltung unter 232 Vorgabe ihrer wesentlichen Strukturen

(11)

Abkürzungen

Abs. Absatz ABl. Amtsblatt

ACGIH American Conference of Govermental Industrial Hygienists ACTH Kortikotropin (Adrenocorticotropes Hormon)

Art. Artikel Aufl. Auflage

BGBl. Bundesgesetzblatt

BRD Bundesrepublik Deutschland BT Bundestag

BMELF Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten bzw. beziehungsweise

C Celsius

ca. zirka (ungefähr)

CCAC Canadian Council on Animal Care dB Dezibel

DDR Deutsche Demokratische Republik d.h. das heißt

DIN Deutsche Industrie-Norm

DVG Deutsche Veterinärmedizinische Gesellschaft EC enriched condition (angereicherte Haltung) edt. Edition (Ausgabe)

EG Europäische Gemeinschaft EKG Elektrokardiogramm

EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft et al. et alii (und andere)

etc. et cetera (und so weiter)

GV-SOLAS Gesellschaft für Versuchstierkunde - Society for Laboratory Animal Science

Hz Hertz

IASP International Association for the Study of Pain IC isolation condition (Einzelhaltung)

i.d.R. in der Regel

ILAR Institute for Laboratory Animal Resources IVC individual ventilated cage

Kap. Kapitel

KBE Koloniebildende Einheit KGW Körpergewicht

kHz Kilohertz lx Lux

m Meter

MAK maximale Arbeitsplatzkonzentration mod. modifiziert

mm Millimeter msec. Millisekunde

(12)

MTK maximale Tierplatzkonzentration n. Chr. nach Christus

Nr. Nummer

NRC National Research Council rel. relativ

rel. LF relative Luftfeuchtigkeit REM rapid eyemovement

RSPCA Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals S. Seite

SC social condition (Gruppenhaltung) sec. Sekunde

s.o. siehe oben sog. so genannt

SPF spezifiziert pathogenfrei spp. Spezies

Tab. Tabelle

TGL Tierphysiologische Angaben und Forderungen zur Stallklima- gestaltung

TierSchG Tierschutzgesetz

TierSchTrV Tierschutztransportverordnung TierSchV Tierschutzverordnung

TLV threshold limit value TS Trockensubstanz

TVT Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz u. und

u.a. unter anderem

UFAW Universities Federation for Animal Welfare USV Ultraschallvokalisationen

u.U. unter Umständen u.v.a. und viele andere v. vor

v.a. vor allem

VdRD Verein der Rattenliebhaber und -züchter in Deutschland e.V.

z.B. zum Beispiel zit. zitiert z.T. zum Teil zus. zusätzlich

(13)

1 Einleitung

Seit Mitte des vorletzten Jahrhunderts findet die Wanderratte (Rattus norvegicus) Anwendung in der wissenschaftlichen Forschung und wird als Heimtier gehalten.

Heute gehören Ratten - neben Mäusen - in der Bundesrepublik Deutschland zu den am häufigsten verwendeten Versuchstieren. Ihr Anteil beträgt ca. 25% der insgesamt in Deutschland in genehmigten und angezeigten Tierversuchsvorhaben verwende- ten Versuchstiere.

Das Tierschutzgesetz verlangt in seiner Fassung vom 25. Mai 1998 (BGBl. I Nr. 30 S. 1105), neben dem Leben des Tieres auch sein Wohlbefinden zu schützen, ihm nicht ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zuzufügen, seine Haltung verhaltensgerecht sowie seine Pflege und Ernährung artgerecht zu gestalten. Dabei gibt es keine konkreten Angaben darüber, wie die auf ethischer Basis vorgegebenen, tierliche Zustände und Befindlichkeiten ansprechenden Begriffe in der Praxis zu verstehen bzw. sicher zu erkennen sind. BRANDHUBER (1996) weist darauf hin, dass selbst Gerichte dazu außerstande sind und darum Sachverständige zur Entscheidung hinzuziehen.

Auf naturwissenschaftlicher Ebene sind bisher noch keine allgemein anerkannten Definitionen für diese und ähnliche Begriffe gefunden worden; ebenso wenig wie es bisher gelungen ist, die vom Gesetzgeber für alle Tiere vorausgesetzten, gültigen Konzepte zur Beurteilung tierlicher Befindlichkeiten zu entwickeln.

Die Haltung von Laborratten erfolgt heute nach Richtlinien, die auf empirischen Erfahrungen beruhen und Mindestanforderungen an die Umwelt der Tiere beinhalten. Während sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten der Tierschutzgedanke überwiegend auf die Bewilligung potenziell leid- und schmerzauslösender Tierversuche bezog, wird zur Zeit auf verschiedenen nationalen und internationalen Ebenen diskutiert, ob die heutigen Haltungsbedingungen tier- und verhaltensgerecht sind oder aber verbessert werden müssen.

So fordert die Gesellschaft für Versuchstierkunde bereits seit 1993 die Überprüfung der bisherigen Haltungsbedingungen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Tier, Versuch, Betrieb und Kosten nach allgemein wissenschaftlichen Maßstäben.

Besonders bezüglich der Bewegungsmöglichkeiten, der Gruppenbildung und Strukturierung der Haltungseinheiten (Beschäftigungsmöglichkeiten) wird angenommen, dass Defizite vorhanden sind.

In diesem Zusammenhang weisen NAGEL und STAUFFACHER (1994) allerdings darauf hin, dass die Beurteilung der Standardhaltung von Laborratten aufgrund der Anpassungsfähigkeit der Tiere an restriktive Haltungsbedingungen im Vergleich zu anderen Labortierspezies schwierig ist, da kaum morphologische Schäden oder offensichtliche Verhaltensstörungen auftreten.

Ziel dieser Arbeit ist es, empirisches Wissen und experimentelle Daten zur Haltung von und zum Umgang mit Ratten anhand der Literatur zusammenzutragen sowie Wege und Konzepte darzulegen, wie man zu wissenschaftlich belegten Kriterien für eine tiergerechte Haltung von Ratten kommt.

(14)

1.1 Geschichte, Ursprung und Laborisierung

Die stammesgeschichtliche Herkunft der Rodentia ist derzeit noch ungeklärt, denn die ältesten bekannten Funde sind bereits mit den entscheidenden Schlüsselmerkmalen (Nagezähne, Diastema, Fehlen der Canini) ausgestattet und somit echte Nagetiere (STARCK 1995). Der Urnager ist nicht bekannt.

Funde der ältesten Nagetiere (Gattung Paramys) kommen aus Nordamerika, sind ca. 60 Millionen Jahre alt und stammen aus dem jüngeren Palaeozaen. Der älteste archäologische Nachweis von Ratten ist sehr viel jünger, stammt aus China und ist etwa 700.000 Jahre alt (PLATEN 1997). Der Fund zweier Zähne sorgte 1997 bei Ausgrabungen im australischen Queensland für Aufsehen. Sie sind zwei Millionen Jahre alt und gehören zu einer Unterfamilie der Baummaus, einer der Vorläuferinnen der heutigen Ratten und Mäuse (PLATEN 1997). Sie beweisen, dass die auf europäischen Schiffen eingeschleppten Ratten nicht, wie bisher vermutet, die ersten Nager auf dem fünften Kontinent waren.

In Europa leben nur zwei eigenständige Rattenarten: die Hausratte (Rattus rattus) und die Wanderratte (Rattus norvegicus). Die alexandrinische Ratte (Rattus rattus alexandrinus), die bis heute immer wieder durch die Fachzeitschriften und Bücher geistert, ist nach Meinung des Zoologen Gettmann nichts anderes als eine Spielart der Hausratte. Er vermutet, dass bei früheren Fehlbestimmungen auch die Farbvarietäten der Haus- und Wanderratten eine Rolle spielten (PLATEN 1997).

Die Hausratte hat ca. 16 cm Leibes-, 19 cm Schwanz- und somit 35 cm Gesamtlänge. Sie besitzt an der Oberseite einfarbiges, dunkelbraunschwarzes bis dunkelgrauschwarzes, metallisch glänzendes Fell, das an der Unterseite etwas heller schwarzgrau gefärbt ist. Ihre großen, breiten Ohren sind abgerundet, fast nackt und dünnhäutig. Der lange Schwanz trägt 260 bis 270 Schuppenringe (KOLLER 1932).

Sie mag es warm und trocken, bewohnt mit Vorliebe trockene Keller, Dachböden und Magazine (KOLLER 1932) und lebt in Südeuropa auch außerhalb menschlicher Behausungen im Freien, in Gärten und Obstplantagen.

Die "black rat", "rat noir", "zwarte rat" oder die "schwarze Ratte" ist heute in Europa vom Aussterben bedroht und kam 1994 auf die rote Liste der stark gefährdeten Tierarten.

Innerhalb des Forschungsprojektes "Wildlebende Säugetiere in Baden-Württemberg"

wurden auch die Hausratten gezählt, wobei sich im Bodenseeraum die meisten Restbestände fanden, da hier verhältnismäßig viele alte Bauernhöfe mit Dachböden und Scheunen vorhanden sind (PLATEN 1997).

Die Wanderratte ist größer und kräftiger als die Hausratte und ca. 42 cm lang.

Die Farbe der "brown rat", "rat brun" oder "brunije rat" ist im allgemeinen sehr konstant gelbbraun oder lichtbraun, doch kommen verschiedene Farbabweichungen wie beispielsweise dunkelbraun, kastanienbraun, braunschwarz, weißscheckig oder weiß-albinotisch vor. Die Ohren sind kleiner als bei der Hausratte und an den Rändern mit kleinen, einzelnstehenden Härchen besetzt. Des Weiteren ist der Schwanz kürzer als der Rumpf und im Vergleich zur Hausratte dicker. Außerdem trägt er nur 180 bis 220 Schuppenringe (KOLLER 1932, GRZIMEK 1969).

(15)

Der ursprüngliche Verbreitungsschwerpunkt der Haus- oder Dachratte (Rattus rattus) liegt nach GRZIMEK (1988) in Südost- und Südasien, wo sie eine Fülle von Unterarten hervorgebracht hat.

Nach Europa gelangte die Hausratte vermutlich erst in frühgeschichtlicher Zeit, entweder unmittelbar aus Indien oder auf Umwegen über Nordafrika. Sie ist fossil im Pliozän der Lombardei, in Quartärablagerungen in der Nähe von Pisa und ferner im Pleistozän von Kreta erhalten (HAGEMANN u. SCHMIDT 1960). Nach BULLA (1986) stammt der bisher älteste Beleg für Hausratten aus dem Mageninhalt eines in einer Mauernische bestatteten Katers am Roten Meer, der in einem römischen Haushalt im zweiten Jahrhundert n. Chr. kurz vor seinem Tod fünf junge Hausratten gefressen hatte. Zur etwa gleichen Zeit sind Hausratten auch in einen Brunnen in Ladenburg bei Mannheim gefallen.

Während die Hausratte in der Frühzeit wahrscheinlich nicht allzu sehr verbreitet war, kam sie wahrscheinlich durch die Völkerwanderungen und den umfangreichen Handel mit dem Osten zwischen 400 bis 1100 n. Chr. und später in großer Zahl nach Europa (HAGEMANN u. SCHMIDT 1960). Schon die ersten Seefahrer müssen die Hausratte nach Amerika gebracht haben, denn sie ist dort schon seit 1540 nachzuweisen (GRZIMEK 1969, 1988; PLATEN 1997).

Die Wanderratte (Rattus norvegicus) hat heutzutage in unseren Breiten eine erheblich größere Bedeutung als die Hausratte.

Ihre Urheimat sind Steppengebiete in Asien, besonders der Mandschurei, der Mongolei und des gemäßigten Sibiriens, wo sie fern von menschlichen Siedlungen in Erdbauen lebt. Der älteste Nachweis in Europa stammt von der Burg Scharstorf bei Preetz in Schleswig-Holstein, wo die Art schon im 10. Jahrhundert gelebt hat (GRZIMEK 1988; STARCK 1995). Auch die Ratte, die der Schweizer Naturforscher Conrad Gessner 1553 in seinem Tierbuch (Icones animalium quadropedum viviparum) darstellte, war wohl mit Sicherheit eine Wanderratte (DONALDSON 1924;

KOLLER 1932; GRZIMEK 1969, 1988; HAGEMANN u. SCHMIDT 1960).

Nach PALLAS (1831 zit. nach KOLLER 1932) wurde die Wanderratte durch Erdbeben und dadurch bedingte Hungersnöte zum Auswandern gezwungen und trat nach Durchschwimmen der Wolga bei Astrachan (1727) in ungeheuren Scharen die Wanderung nach Europa an. Die von PALLAS (1831) inaugurierte Ansicht, dass die Wanderratte 1727 erstmalig von Asien nach Europa gekommen sei, ist den meisten Autoren zufolge nicht haltbar (KOLLER 1932; GRZIMEK 1969, 1988; STARCK 1995). Auch DRÖSCHER (1968) bezweifelt diese "Fabel" und vermutet, sie seien nach und nach im "zähen Einzelkampf Haus für Haus, Dorf für Dorf und Stadt für Stadt" eingewandert.

Geschichtlich belegte Erstbeobachtungen von Rattus norvegicus liegen allerdings erst aus dem 18. Jahrhundert vor, zum Beispiel von 1730 aus England, 1735 aus Frankreich, 1750 aus Ostdeutschland und 1800 aus Spanien. Bereits 1775 wurde sie von Schiffen nach Nordamerika eingeschleppt (GRZIMEK 1988).

Mit dem Eindringen der Wanderratte in Europa soll die Hausratte angeblich in unerbittlichem Kampf besiegt und fast ausgerottet worden sein. Die Wanderratte liebt allerdings im Gegensatz zur Hausratte das feuchte Element und besiedelt nach KOLLER (1932) vorzugsweise Kellerräume, Kanäle, Flussläufe, Dämme und Hafenanlagen, womit die Biotope dieser beiden Arten recht verschieden sind.

(16)

Auch GRZIMEK (1988) kommt zu dem Schluss, dass sich Hausratten auf dem Dach und die Wanderratten im Keller kaum begegnen. Schuld am Verschwinden der Hausratte sei vor allem der Mensch, der sie seiner Behausung beraubt habe, da die ehemaligen Vorratslager unter den trockenen Dächern der Bauern- und Stadthäuser sowie die Speicher und Kammern leer sind oder in Wohnraum umgewandelt wurden.

Wanderratten sind hingegen flexibler und passen sich an die widrigsten Gegebenheiten an, auch dann, wenn sie wenige oder keine Möglichkeiten haben, ihre verzweigten Erdbauten mit Vorratskammern und Blindgängen anzulegen.

Die Ratte gehört zu den wenigen Tieren, die einen großen Einfluss auf den Fortgang der menschlichen Geschichte gehabt haben. Als Überträger von Leptospirose, Toxoplasmose, vor allem aber über den die Pest übertragenden Ratten- oder Pestfloh, haben die Ratten maßgeblichen Anteil an den verheerenden Seuchenzügen früherer Zeiten. Während die Pest heute keine Rolle mehr spielt, verursachen Ratten weltweit große Schäden durch die Vernichtung von Nahrungsmitteln (BERGHOFF 1989; STARCK 1995). Wilde Ratten werden syste- matisch bekämpft.

Der Pesterreger, das Bakterium Yersinia pestis, wurde erst 1948 von Alexandre Yersin und Kitasato in Hongkong entdeckt, als die Pest in Indien und China grassierte und noch einmal Millionen von Todesopfern forderte. Nach PLATEN (1997) gibt es bereits aus der Zeit um 280 v. Chr. Berichte über eine Krankheit, deren Symptome stark auf die Pest hindeuten. Auch die Epidemien, die zur Zeit des Justinian von 541 bis 580 grassierten, gelten gesichert als Pest. Um 750 herrschte in Italien noch einmal eine große frühmittelalterliche Pestwelle, ehe die Krankheit in Europa für die nächsten 600 Jahre erlosch und in Vergessenheit geriet. Etwa im gleichen Zeitraum dezimierte auch in China die dort treffend so genannte

"Rattenpest" die Bevölkerung.

Die Pest des ausgehenden Mittelalters soll Europa im Jahr 1347 erreicht haben. Der

"schwarze Tod" ging in Genua an Land. Ausgebrochen war die Seuche, so berichteten Reisende, in der genuesischen Handelsniederlassung Caffa auf der Krim. Der Pestbazillus Yersinia pestis reiste mit den Menschen und den Hausratten.

In ihrem Fell sitzt, und von ihrem Blut ernährt sich der Pest- oder Rattenfloh (z.B.

Xenopsylla pestis, X. cheopis, X. asiata, X. brasiliensis, Ceratophyllus fasciatus), in dessen Verdauungstrakt der Bazillus lebt. Beißt der Floh, stirbt die Ratte. Ist die Ratte tot, so muss der Floh seinen Wirt wechseln und nimmt, wenn möglich, am liebsten die nächste lebende Ratte. Erst dann, wenn er keine mehr findet, springt er auch auf den Menschen über. Dann gelangt auch bei diesem Yersina pestis in den Blutkreislauf und scheidet dort Toxine aus, die die Symptome verursachen, die wir Pest nennen.

Allerdings zeigten die Untersuchungen von BACOT und MARTIN (1925 zit. nach KOLLER 1932), dass nur dann eine Pestübertragung möglich ist, wenn die virulenten Pestkeime und das gleichzeitig aufgenommene Blut im Verdauungskanal zu einer gallertigen Masse verkleben und damit die Nahrungswege des Flohs teilweise verlegen. Bei einem erneuten Saugakt an einem anderen Wirt gelingt es dem Floh dann nicht, das Blut weiter als in den Ösophagus einzusaugen.

(17)

Durch die teilweise Stenose erfolgt nun ein Erbrechen, wobei Teile des früher aufgenommenen Blutes und die darin enthaltenen, verklumpten Erreger noch während des Saugens in die Stichwunde gelangen und die Infektion hervorrufen.

Ebenso zahlreich wie die Namen der Pest sind deren Symptome und Verlaufs- formen:

An der durch Tröpfcheninfektion hervorgerufenen Lungenpest starben die Menschen oft schon wenige Stunden nach der Ansteckung. Der schnelle Tod war unheimlich.

Er kam ohne Vorwarnung und ohne nennenswerte Vorzeichen. Die Menschen rangen nach Luft und liefen blau an, ehe sie starben. Andere hielten es länger aus, bekamen große blaue oder schwarze Flecken unter der Haut, weil die Toxine den Körper vergifteten und dabei die Blutgefäße zerstörten. Das Immunsystem wehrte sich mit hohem Fieber, was das unaufhaltsame Sterben um einige Tage verzögerte.

Erst in der dritten Verlaufsform der Krankheit entstanden die charakteristischen, oft faustgroßen Pestbeulen, die Bubonen, an den Lymphknoten, die sich im weiteren Verlauf zum Abszess abkapselten (PLATEN 1997). Schließlich beschreibt KOLLER (1932) noch eine schleichend und mild verlaufende, meist spontan ausheilende Verlaufsform.

In Europa erlosch die Pest um 1721 nach einem letzten heftigen Ausbruch in Marseille und der Provence. Die letzte große Pandemie begann im Jahr 1871, erreichte 1907 den Höhepunkt und ist in ihren Ausläufen bis heute noch nicht erloschen. In Indien starben zwischen 1889 und 1923 über 10 Millionen Menschen an der Pest; 1924 starben in Punjab während weniger Monate 25.000 Menschen (KOLLER 1932). Auf Malta erkrankten 1936 noch einmal 28 Menschen.

Danach sind nur noch kleinere, endemische Pestausbrüche aus Afrika, Asien und Amerika bekannt. Im Sommer 1933 flammte die Beulenpest kurz im Nordwesten Ugandas auf, wobei 33 Menschen starben. Ein Jahr später grassierte die Pest erst im indischen Erdbebengebiet von Maharashtra und dann im 600 km entfernten Surat (PLATEN 1997). Die Pest hatte in Europa drei Jahrhunderte gewütet und 25 Millionen Tote gefordert. Für das Erlöschen der Pestepidemien in Europa hat man die Fortschritte der Kultur, die größere Reinlichkeit und die allgemeine Hygiene verantwortlich gemacht (KOLLER 1932). KÖSTER-LÖSCHE (1989) führt das Abflauen der Pestepidemien in Europa und deren langsames Verschwinden nach 1684 hingegen nicht auf neue medizinische Erkenntnisse, sondern vor allem auf eine gegenseitige Anpassung von Erreger und Wirt zurück.

Als potenzielle Träger von Pestbazillen sind heute über 100 Floharten und etwa 200 Nagerarten bekannt (STARCK 1995). Mittlerweile ist gesichert, dass auch (ursprünglich meist endemisch) Feld- und Nacktmäuse, Murmeltiere sowie Erd- und Backenhörnchen befallen werden. Sie kommen mit der Infektion allerdings oft besser zurecht und überstehen die Krankheit, die für Ratten unter dem Endbilde einer Septikämie meist tödlich endet (PLATEN 1997), und bilden somit ein Erreger- reservoir.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts werden Wanderratten verstärkt als Labortiere gehalten. Erste gesicherte Berichte über die Verwendung von Ratten im Tierversuch stammen von PHILIPEAUX (1856), der Untersuchungen über die Wirkung der operativen Entfernung der Nebennierenrinden (Adrenalektomie) bei Albinoratten durchführte.

(18)

Die Domestikation und Laborisierung der Wanderratte begann hingegen schon Anfang des 19. Jahrhunderts (ROBINSON 1984).

Als Wiege der heutigen albinotischen Laborratten wird nach SCHMIDT (1985) die Stadt Bristol in England angesehen, wo im Jahre 1822 albinotische Wanderratten gefangen wurden.

Zu dieser Zeit gab es in England und Frankreich eine populäre "Sportart", das sog.

"Rat-baiting", bei dem einhundert bis zweihundert Ratten mit einem ausgebildeten Terrier in eine Arena gesetzt wurden. Vom Kampfrichter wurde dann die Zeit, bis die letzte Ratte totgebissen war, gestoppt, während die "Sportler" ihr Geld auf die Tötungszeiten der Terrier verwetteten. Dafür mussten viele Ratten gefangen und auf Vorrat gehalten werden. Die Albinovariante wurde meist entfernt und vermutlich für Ausstellungs- und Zuchtzwecke verwendet (RICHTER 1954; ROBINSON 1979, 1984; WEISS et al. 1996).

Nach RICHTER (1954) ist es sehr wahrscheinlich, dass die "Ausstellungsratten", welche vielleicht durch “handling“ gezähmt waren, ihren Weg in die Laboratorien gefunden haben.

Die ältesten Rattenstämme werden nach dem Institut benannt, in dem sie ursprünglich gezüchtet wurden, wie beispielsweise die "Wistarratte" nach dem Wistar-Institut in Philadelphia oder die "Sprague-Dawley Ratte" nach der gleichnamigen Tierfarm in Wiskonsin (van der GULDEN et al. 1975).

Der albinotische Wistarstamm ist ein ruhiger, mittelfruchtbarer Stamm, welcher sich durch hohe Infektionsresistenz und eine geringe Inzidenzrate von Spontantumoren auszeichnet. Bei diesen Ratten ist der Schwanz immer kürzer als die Rumpflänge.

Der ebenfalls albinotische Sprague-Dawley Stamm ist schnellwüchsiger und fruchtbarer als der Wistarstamm, jedoch anfälliger für Infektionen. Tiere dieses Stammes haben im Gegensatz zum Wistarstamm einen längeren und schmaleren Schädel sowie einen längeren Schwanz (LANE-PETTER 1972). Ein weiterer bekannter Laboratoriumsstamm ist der Long-Evans Stamm. Bei diesem Rattenstamm handelt es sich nicht um Albinos, sondern die Tiere haben einen schwarzen Fleck oberhalb der Schulter (BERGHOFF 1989).

Heute werden weltweit verschiedene Rattenstämme für die unterschiedlichsten Aufgaben in der Forschung gezüchtet. Derzeit gibt es mehr als 400 genetisch definierte Inzucht- und ca. 50 Auszuchtstämme von Rattus norvegicus (HAVENAAR et al. 1995; HEINE 1998; KOOLHAAS 1999).

Ratten werden außerdem in verstärktem Maße als Heimtiere gehalten.

Fast immer handelt es sich dabei um Laboratoriumsratten, die von der Wanderratte abstammen (BERGHOFF 1989). Heimtierratten werden heutzutage in mehreren Farben gezüchtet, z.B. creme-, mink-, und champagnerfarben mit hell- oder dunkelroten Augen. Dazu kommen noch verschiedene Scheckenratten - mit unterschiedlich weiß-schwarz oder weiß-braun geflecktem Fell - sowie die verschie- denen woll- und glatthaarigen Haarformen (WIJNBERGEN 1998).

Am häufigsten werden nach FLECKNELL (1997) einfarbige Tiere, selten auch sogenannte Haubenratten gehalten. Zu den Letzteren zählen die "Irish-Black" mit einem gleichseitigen Dreieck weißen Fells im Brustbereich sowie weißen Pfoten, oder die "Japanische Haubenratte", bei der Kopf, Schultern und ein Rückenstreifen, der zum Schwanz hin ausläuft, einfarbig dunkel sein müssen, während der Rest des Körpers weiß ist.

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2 Begriffe der Tierschutzgesetzgebung sowie ethologische Konzepte zu ihrer Umsetzung

Die Haltung des Menschen gegenüber den Tieren ist in den vergangenen Jahrzehnten einem großen Wandel unterlegen.

Bereits im römischen Reich wurde das Tier zur Sache erklärt und stand damit auf derselben Stufe wie Frauen, Kinder und Sklaven. Es zur Person zu erklären, die einzige Alternative der damaligen Zeit und späterer Epochen, wäre nach SAMBRAUS (1997a) undenkbar gewesen, denn Rechtsperson konnte nur sein, wer verantwortlich handelte.

In Deutschland wurden ab 1838 in den einzelnen Ländern Tierschutzbestimmungen eingeführt.

Nach dem Reichsstrafgesetzbuch von 1879 wurde Tierquälerei unter Strafe gestellt, wobei allerdings nur Tierquälerei in der Öffentlichkeit und in ärgerniserregender Weise verboten wurde, womit verhindert werden sollte, dass die Empfindungen von Zeugen durch den Anblick verletzt werden (ästhetischer Tierschutz). Zum anderen wurden auch wirtschaftliche Aspekte berücksichtigt, so dass insgesamt menschliche Interessen stark eingebunden waren. Es wurde also ein anthropozentrischer Tierschutz betrieben, in dem es nur bedingt darum ging, das Tier um seiner selbst willen zu schützen.

Mit dem Tierschutzgesetz von 1933 begann der ethische Tierschutz, denn erstmals wurde das Tier als leidensfähiges Lebewesen ausschließlich um seiner selbst willen geschützt. Neu an diesem Gesetz war auch, dass nicht mehr eine auf Tierquälerei gerichtete Absicht verlangt wurde, sondern dass unnötiges Quälen bestraft wurde.

Zudem wurden durch das Gesetz nicht nur Haustiere oder allgemein Säugetiere, sondern alle Tiere geschützt.

Ein grundlegender Wandel in der Tierhaltung, neuere wissenschaftliche Erkenntnisse sowie ein veränderter Zeitgeist führten nach SAMBRAUS (1997a) im Jahre 1972 in Deutschland zu einem neuen Tierschutzgesetz. Zum einen war das neue Gesetz wesentlich differenzierter als das alte, zum anderen wurden gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse über tiergemäße und verhaltensgerechte Normen in das Gesetz eingearbeitet. Verboten war jetzt nicht nur, ein Tier unnötig zu quälen oder roh zu misshandeln (deutsches Tierschutzgesetz von 1933), sondern das neue Gesetz von 1972 diente auch dem Schutz des Lebens und Wohlbefindens von Tieren. Ihnen durfte jetzt niemand ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.

Die umfangreichste Novellierung des Tierschutzgesetzes wurde 1986 nach vier Jahren umfangreicher und langwieriger Beratungen vorgenommen, da wesentliche Probleme, wie die Massentierhaltung und die Durchführung von Tierversuchen, in Deutschland nicht ausreichend in der Gesetzesfassung von 1972 berücksichtigt worden waren (HACKBARTH u. LÜCKERT 2000).

Dieses Anfang 1987 in Kraft getretene Gesetz geht davon aus, dass der Mensch für die seiner Obhut anheim gegebenen Tiere verantwortlich ist. Tiere dürfen jetzt zwar nach wie vor für die Bedürfnisse des Menschen in Anspruch genommen werden;

dabei ist jedoch verantwortungsbewusstes Handeln geboten.

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Der Begriff des Mitgeschöpfes in § 1 des Tierschutzgesetzes betont seit der Änderung von 1986, dass Tiere Geschöpfe wie der Mensch sind und Rechte um ihrer selbst willen besitzen.

Die §§ 1 und 2 des Tierschutzgesetzes in der Fassung vom 25. Mai 1998 (BGBl. I Nr. 30 S. 1105) lauten vollständig:

§ 1 "Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen."

§ 2 "Wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat,

1. muss das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen, 2. darf die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so

einschränken, dass ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden,

3. muss über die für eine angemessene Ernährung, Pflege und

verhaltensgerechte Unterbringung des Tieres erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen."

Auch das Schweizer Tierschutzgesetz hebt in seiner Fassung vom 1. Juli 1995 (INFO SR 1997-2223-39706) die Mitgeschöpflichkeit des Tieres hervor.

Wesentlich sind des Weiteren die Begriffe Schmerzen, Leiden, Schäden, Angst und Wohlbefinden. Tiere sind angemessen zu ernähren und zu pflegen; ihnen ist, soweit nötig, Unterkunft zu gewähren. Die notwendige Bewegungsfreiheit darf nicht dauernd oder unnötig eingeschränkt werden.

Einzigartig ist die in Artikel 5 des Gesetzes ausgesprochene Pflicht, dass serienmäßig hergestellte Aufstallungssysteme und Stalleinrichtungen zum Halten von landwirtschaftlichen Nutztieren auf ihre Eignung zu prüfen sind, wobei die Prüfung durch das Bundesamt für Veterinärwesen geschieht.

Das derzeitige Wissen über Tiere im allgemeinen sowie Tierarten und Rassen im einzelnen reicht allerdings nicht aus, der ethischen Verantwortung an eine tiergerechte Haltung gerecht zu werden, denn der Großteil der im deutschen Tierschutzgesetz verwendeten Begriffe stellt Emotionen und Empfindungen dar, die im Analogieschluss auch beim Tier als vorhanden vorausgesetzt werden.

Wie solche Befindlichkeiten erkannt, nachgewiesen und in ihrer Stärke eingestuft werden sollen, wird nicht gesagt. Gerade dieses ist aber unerlässlich, wenn man in Abwägung beispielsweise des "vernünftigen Grundes" beurteilen will, welchen Belastungen Tiere ausgesetzt werden dürfen und in welchen Fällen sie vor Belastungen wie Schmerzen, Leiden und Schäden zu schützen sind.

Zur Beurteilung der Tiergerechtheit von Haltungssystemen in der Nutztierhaltung steht heute mit dem Tiergerechtheitsindex (TGI) ein relativ praktikables Instrument zur Verfügung (SUNDRUM 1993, 1994, 1998; SUNDRUM et al. 1994; BARTUSSEK 1997).

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Für die Rattenhaltung liegen solche Schemata nicht vor, allenfalls gibt es Merk- blätter von Organisationen und Verbänden, wie sie als Versuchs- oder Haustiere zu halten sind.

Will man eine Tierhaltung beurteilen, so ist es zunächst notwendig, sich über wichtige Begriffe aus dem Tierschutzgesetz und der Diskussion um Tiergerechtheit klar zu werden. Außerdem sind einige wichtige ethologische Konzepte zu beachten, deren Ziel es ist, Verhalten einzuschätzen und damit auch Rückschlüsse auf die Qualitäten eines Haltungssystems zu ermöglichen.

2.1 Die Begriffe des Tierschutzgesetzes

Das Tierschutzgesetz enthält eine Reihe von unbestimmten Rechtsbegriffen und Begriffen, über die - je nach natur- oder geisteswissenschaftlichem Blickwinkel - sehr unterschiedliche Ansichten und Definitionen existieren.

Dazu gehören auch die Begriffe "Angst" und "Stress", die zwar nicht im deutschen Tierschutzgesetz explizit genannt sind, aber bei der Beurteilung von Störungen tierlichen Wohlbefindens eine wichtige Rolle spielen. Außerdem ergibt sich im Hinblick auf den Vollzug des Tierschutzgesetzes die Notwendigkeit, Schmerzen, Leiden und Schäden beim Tier zu definieren und mit möglichst objektiven Methoden zu erfassen (WINCKLER u. BREVES 1997).

Wohlbefinden

LORZ (1999) gibt in seinem Kommentar zum deutschen Tierschutzgesetz eine allgemein anerkannte Definition von tierlichem Wohlbefinden als einen "Zustand physischer und psychischer Harmonie des Tieres in sich und mit der Umwelt.

Regelmäßige Anzeichen des Wohlbefindens sind Gesundheit und ein in jeder Beziehung normales Verhalten. Beide setzen einen ungestörten, artgemäßen und verhaltensgerechten Ablauf der Lebensvorgänge voraus."

Ebenso definiert TEUTSCH (1987) - in Anlehnung an die amtliche Begründung des Tierschutzgesetzes - Wohlbefinden als Zustand des Freiseins von Schmerzen, Leiden und Schäden, wobei das Wohlbefinden wesentlich auf einem ungestörten, artgemäßen sowie verhaltensgerechten Ablauf der Lebensvorgänge beruht.

MEYER (1984) beschreibt Wohlbefinden hingegen als einen "physisch-psychischen Zustand (Empfindungslage) eines Organismus, der durch die Befriedigung aller artspezifischen und individuellen (subjektives Wohlbefinden) Handlungsbedürfnisse charakterisiert ist und der durch den ungehinderten normalen Ablauf körperlicher Funktionen während eines längeren Zeitraumes aufrechterhalten wird."

Die Freiheit von Schmerzen und Leiden ist zwar die Voraussetzung des Wohlbefindens, reicht aber allein nicht aus. Auch kann die Gesundheit nicht mit Wohlbefinden gleichgesetzt werden.

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Allerdings wird man nach LORZ (1999) bei Störungen der Gesundheit generell von einer Beeinträchtigung des Wohlbefindens ausgehen dürfen.

Somit besteht das Wohlbefinden aus zwei Komponenten: Zum einen aus der Gesundheit als objektivierbares Merkmal für Wohlergehen, und zum anderen aus dem Wohlfühlen als emotionale und damit subjektiver Komponente, wobei das Wohlergehen die notwendige Grundlage des Wohlfühlens und somit des Wohlbefindens ist.

Die Empfindungslage eines Tieres ist allerdings nach TSCHANZ (1985) und MILITZER (1986) naturwissenschaftlich nicht direkt messbar.

Auch SMIDT et al. (1980) sehen das Wohlbefinden als Reflektion eines Zustandes relativer physisch-psychischer Unversehrtheit eines Individuums an, wobei diese Empfindung vom Tier nicht unmittelbar geäußert werden kann, sondern nur auf dem Wege des Rückschlusses aus bestimmten Symptomen zu konstatieren ist.

Es ist allgemein üblich, den Gefühlszustand Wohlbefinden, der - da er die indi- viduelle Erfahrenswelt des Tieres widerspiegelt (DAWKINS 1982) ein subjektiver Zustand ist - negativ zu bestimmen, d.h. über das Fehlen bestimmter, wiederum sub- jektiver Zustände zu definieren.

Demzufolge wird allgemein einem Tier Wohlbefinden unterstellt, wenn es keine Anzeichen von Leiden, Schmerzen oder Schäden zeigt, worunter auch Verhaltens- abnormitäten eines physisch gesunden Tieres zu verstehen sind (DAWKINS 1982).

Da Wohlbefinden allerdings mehr ist als das Fehlen von Schmerzen, Leiden oder Schäden, genügt es nicht, schädigende Einflüsse auf das Wohlbefinden zu beschreiben, sondern wir müssen nach TEUTSCH (1987) - entsprechend dem Grundsatz des Tierschutzgesetzes - zusätzliche (positive) Erfordernisse von Wohl- befinden definieren.

Spielverhalten wird allgemein als "essenzielle Verhaltensweise" angesehen und gilt nach GRAUVOGL (1982, 1983) als "König der positiven Parameter".

Sowohl SMIDT et al. (1980) als auch GRAUVOGL (1982, 1983) postulieren, dass das Spielverhalten eine weitgehende Bedarfsdeckung der Tiere anzeigt, da es nur in entspannter Atmosphäre stattfindet. Auch JUHR (1990) sieht im Spielverhalten, besonders bei Jungtieren, ein sicheres Anzeichen für Wohlbefinden, da das Vorhandensein spezifischer Bedürfnisspannungen wie Hunger, Durst oder Schmerz ausgeschlossen werden kann.

Vernünftiger Grund

Unter einem “vernünftigen Grund“ wird regelmäßig der im Hinblick auf die menschliche Wertordnung verständige und darum beachtliche Grund verstanden, welcher in einer Güter- und Pflichtenabwägung in Relation zum Schutzgut des Tierschutzgesetzes zu sehen ist und kein zwingender Grund zu sein braucht (HACKBARTH u. LÜCKERT 2000).

Das Gesetz gibt keine Definition vor (TEUTSCH 1987; MÜLLER 1990; CASPAR 1997; LORZ 1999), sondern nennt lediglich die zu schützenden Rechtsgüter der Tiere wie "Wohlbefinden" und "Leben" und die Möglichkeit ihrer Einschränkung durch den "vernünftigen Grund".

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Vernünftig im Sinne des Gesetzes ist ein Grund, wenn er als triftig, einsichtig und von einem schutzwürdigen Interesse getragen anzuerkennen ist und wenn er unter den konkreten Umständen schwerer wiegt als das Interesse des Tieres an seiner Unversehrtheit und an seinem Wohlbefinden. Mittels einer politischen Entscheidung werde, u.U. auch im Einzelfall, unter Berücksichtigung naturwissenschaftlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Gesichtspunkte, das Vorliegen übergeordneter Ansprüche des Menschen deutlich gemacht und das Ausmaß der somit gerechtfertigten Einschränkungen der Lebensansprüche des Tieres aufgezeigt (LORZ 1999).

Generell wird man Handlungen, die auf Emotionen wie Wut, Ärger oder der Lust an der Zufügung von Schmerzen zurückzuführen sind, den vernünftigen Grund absprechen. Als vernünftiger Grund anerkannt sind jedoch Beweggründe mit sozial anerkannten Motiven wie beispielsweise die Nutzung des Tieres zu Nahrungs- zwecken des Menschen oder zur Verwendung als Futtermittel (HACKBARTH u.

LÜCKERT 2000).

Schmerzen

Nach einer aus der Humanmedizin stammenden Definition der INTERNATIONAL ASSOCIATION FOR THE STUDY OF PAIN (1979) ist “Schmerz ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das im Zusammenhang mit tatsächlicher oder potenzieller Gewebsschädigung einhergeht oder in Form einer solchen Schädigung beschrieben wird.“ ZIMMERMANN (1986) ergänzt diese Definition der IASP:

“Schmerz bei Tieren ist eine aversive Empfindungserfahrung, verursacht durch aktuelle oder potenzielle Verletzung (Schädigung), die ihrerseits schützende motorische und vegetative Reaktionen auslöst, sowie erlerntes Meideverhalten bewirkt und das spezifische Artverhalten - einschließlich des Sozialverhaltens - modifizieren kann.“

Unter "Schmerzen" im Sinne des Tierschutzrechts ist der auf beliebige Weise hervorgerufene körperliche Schmerz zu verstehen, wobei es nicht darauf ankommt, ob er durch unmittelbare Einwirkung auf das Tier hervorgerufen wird und ob das Tier erkennbar eine Reaktion oder Abwehrverhalten zeigt (BRANDHUBER 1996).

LORZ (1992) definiert Schmerz als eine von Unlustgefühl begleitete, mittels eines besonderen, zentral orientierten Nervenapparates hervorgebrachte Erregung von Sinnesnerven - sei es als Reaktion auf körperliche Reize oder sei es in der Form nicht lokalisierter pathologischer Zustände. Schmerz muss weder mit unmittelbarer Einwirkung auf das Tier noch mit erkennbaren Abwehrreaktionen verbunden sein.

Während Menschen den Charakter, die Intensität und Dauer dieser subjektiven Sinnesempfindung durch verbale Beschreibung vermitteln können, ist die Feststellung dieser Charakteristika bei Tieren schwieriger, weil der "Schmerz" rein begrifflich weder unmittelbare Einwirkung, noch erkennbare Abwehrreaktionen erfordert (BERNATZKY 1997). Wenn auch die Schmerzfähigkeit von Tieren (insbesondere bei warmblütigen Tieren) grundsätzlich anerkannt ist, so bestehen doch große Meinungsverschiedenheiten bei der Bewertung von Schmerzen, woraus sich unterschiedliche Ansichten über die Zumutbarkeit im Einzelfall ergeben.

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SAMBRAUS (1981, 1997b) vertritt die Ansicht, dass warmblütige Wirbeltiere große Übereinstimmungen in Morphologie, Histologie, Physiologie und der neuronalen Organisation mit dem Menschen zeigen und daher auf eine dem Menschen vergleichbare Schmerzempfindung geschlossen werden kann.

Dieser Ansicht ist auch von MICKWITZ (1983). Er hält aber eine unterschiedliche Schmerzverarbeitung infolge tierartlich und individuell verschiedener Schmerzerfahrungen und Lernprozesse wie auch der damit verbundenen Schmerzreaktion für sehr wahrscheinlich, so dass die Qualität eines Schmerzes für den Beobachter nur schwer zu beurteilen ist.

HÖFFE (1984) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Fähigkeit zum bewussten Einschätzen der eigenen Situation die Schmerzempfindung bzw.

Belastung durch den Schmerz wesentlich verändern kann.

Der Schmerz selbst ist als eine Empfindung nicht durch Außenstehende messbar (LOEFFLER 1994). Die indirekte Feststellung unterstellt, dass Reize, die für Menschen schmerzhaft sind, ähnliche Empfindungen für das Tier hervorrufen können. Diese Annahme liegt nach LORZ (1999) auch dem Tierschutzgesetz zugrunde.

Die Mechanismen der Erregungsleitung und ihrer Bahnen sind bei Menschen sowie Tieren verhältnismäßig gut untersucht und wurden in einer aktuellen Arbeit von MOYAL (1999) ausführlich dargestellt.

Sie sind mit neurophysiologischen Methoden objektivierbar (LOEFFLER 1993b), wobei die Ergebnisse vom Tier auf den Menschen und umgekehrt weitgehend übertragbar sind (ZIMMERMANN 1983).

Die Übereinstimmungen im nozizeptiven Sinnesapparat sowie in den vegetativen und verhaltensmäßigen Reaktionen auf noxische Reize bei Menschen und Säugetieren legen den Schluss nahe, dass es bei höher entwickelten Wirbeltieren auch subjektive Äquivalente geben kann, die ihrem Charakter nach dem Schmerz beim Menschen entsprechen (BERNATZKY 1997).

Da Verhaltensabweichungen meist die deutlichsten Hinweise auf Schmerzen geben, aber sowohl artspezifische als auch individuelle Unterschiede auftreten, ist es zur Interpretation wichtig, das arttypische Verhalten und möglichst auch das Individualverhalten genau zu kennen (SAGER 1992; SCHARMANN 1992;

LOEFFLER 1993a; OTTO 1997; MOYAL 1999).

Wenn man von Schmerzen bei Tieren spricht, müssen nach dem COMMITTEE ON PAIN AND DISTRESS IN LABROATORY ANIMALS (1991) grundsätzlich folgende Kriterien vorliegen:

1.) Anatomische und physiologische Ähnlichkeiten mit dem Menschen - spezifisches System von Rezeptoren, die auf Noxen reagieren können, - ähnliche Gehirnstrukturen,

- nervale Weiterleitung der Schmerzreize

2.) Meidung von Reizen, die dem Tier offensichtlich unangenehm sind. Es lässt sich auch unter Bedrohung nicht dazu zu bewegen, sich einer schmerzhaften Situation erneut auszusetzen.

3.) Feststellung der Wirkung schmerzhemmender Substanzen.

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Leiden

Im Gegensatz zur humanmedizinischen Terminologie, wo Leiden als Umschreibung einer chronischen Erkrankung, verbunden mit starken Unlustgefühlen, verstanden werden, wird nach SAMBRAUS (1997b) im Tierschutzgesetz durch den Begriff

"Leiden" das "Umfassende" betont.

Für Tiere beinhaltet der Begriff “Leiden“, so LORZ (1999), "alle vom Begriff des Schmerzes nicht erfassten Beeinträchtigungen im Wohlbefinden, die über ein schlichtes Unbehagen hinausgehen und eine nicht ganz unwesentliche Zeitspanne fortdauern. Vornehmlich handelt es sich um Einwirkungen und Beeinträchtigungen des Wohlbefindens, die der Wesensart des Tieres zuwiderlaufen, instinktwidrig sind und vom Tier gegenüber seinem Selbst- oder Arterhaltungstrieb als lebensfeindlich empfunden werden." Eindeutig unter diesen Begriff fallen auch seelische oder psychische Ängste oder Qualen (HACKBARTH u. LÜCKERT 2000).

LORZ (1999) nimmt vom Leidensbegriff lediglich negative Augenblicksempfindungen aus, sofern sie nicht sich kurzzeitig wiederholende Wohlbefindensstörungen darstellen.

MEYER (1984) hingegen definiert Leiden als einen dem Wohlbefinden entgegenstehenden, protrahierten Zustand der Angst, Furcht oder anderer konfliktbeladener psychischer Spannungen (wie sie beispielsweise bei anhaltendem Appetenzstau auftreten können) und rechnet dazu auch das Empfinden körperlicher Schmerzen (wie sie durch Krankheit, Verletzung, äußere Zwänge und schädigende Einflüsse hervorgerufen werden können). Als Beispiele können Angst, Schmerz, Frustration und Erschöpfung gelten.

Nach TEUTSCH (1987) sind Leiden durch Intensität und/oder Dauer einer oder mehrerer Einwirkung(en) gesteigerte Unlustgefühle, die (obwohl nicht schmerzhaft) zu unerträglicher Qual werden und dann auch mit zusätzlichem körperlichen Schmerz und organischen Störungen verbunden sein und schließlich sogar den Tod herbeiführen können. Er weist weiter darauf hin, dass Leiden auch längere Zeit bestehen können, ohne dass körperliche Krankheitssymptome feststellbar sein müssen.

Für kranke Menschen definierte HARTMANN (1986) fünf Grundformen des Leidens:

Sie umfassen Niedergeschlagenheit, Schmerz, Angst, Scham und Sterblichkeits- bewusstsein. Während die ersten drei Formen auch bei leidenden Tieren zu beobachten sind, haben Scham und Sterblichkeitsbewusstsein bei Tieren keine Bedeutung (HACKBART u. LÜCKERT 2000).

Der Ausdruck der Empfindungen erfolgt bei leidenden Tieren daher weniger komplex, d.h. die Tiere stellen sie offener und unverstellter zur Schau. So vernachlässigen leidende Tiere beispielsweise ihre Körperpflege und setzen sie nicht wie der Mensch aufgrund eines Schamgefühls fort.

Leiden kann somit als subjektive Empfindung angesprochen werden, als Konsequenz von Schmerzen entstehen, und immer dann auftreten, wenn das Tier längerfristig einer belastenden Situation ausgesetzt ist, die sein Anpassungs- vermögen übersteigt (MOYAL 1999; HACKBART u. LÜCKERT 2000).

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Tab. 1 Ausdrucksmittel der Ratte für Schmerzen und Leiden

(nach SAMBRAUS 1982 (1), MORTON und GRIFFITHS 1985 (2), SANFORD et al.

1986 (3), UFAW 1989 (4), SVENDSEN 1991 (5), SCHARMANN 1992 (6), LILES und FLECKNELL 1994 (7), WEISS et al. 1996 (8) sowie MOYAL 1999 (9)).

System Ausdrucksmittel Autor

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vermindert - Aktivitätsabfall (3;8;9) - langandauernde Schlafmaushaltung (2;5;8;9) Allgemein- - Apathie (2;5;6;8;9) verhalten - halb geschlossene Augen (8) - Ataxien (3) - Verkriechen (6;8;9) erhöht - Hyperästhesie (2;6)

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Ernährungszustand, - Gewichtsverlust (2;6;7;8;9) Futter- und - Wachstumsstillstand (2) Getränkeaufnahme, - Inappetenz (2;3;7;9) Verdauungssystem - Vomitus (2;3) - Diarrhoe oder Obstipation (2;3)

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Haut und Haarkleid - bläulich-kalte Extremitäten und Ohren, (2;6;8;9) stumpfes Haarkleid, Effloreszenzen nach

exzessivem Putzen

- Piloerektion (3;4;5;6;9)

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Augen und - eingesunkene Augen (2;8;6) Lidbindehäute - Pupillendilatation (2;4;9) - ikterische Schleimhäute (2;8)

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Körperinnentemperatur, - erhöht oder erniedrigt (2;4;8) Herz- Kreislaufsystem - veränderte Herzfrequenz (2;4) - verminderte periphere Durchblutung (2) - Dehydratation (2;5;6;8;9)

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Atmung - veränderte Atmung in Frequenz und (2;4;8) Tiefe, erschwerte Atmung

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Zentralnervensystem - Zucken, Krämpfe, Paralyse, Zittern, (2) und Skelettmuskulatur schwache oder fehlende Reflexe

- Muskelatrophie (2;8) - Bewegungsstörungen (2;4;8)

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Verhalten - Vokalisation bei Berührung (3;4;6;8;9) - plötzliche Aggression oder Fügsamkeit (3;5;6;8;9) - gestörtes Sozialverhalten, Kronismus (1;9) - mangelnde Fellpflege, exzessives Lecken (3;8;9)

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Schaden

Ein Schaden kann nach BERNATZKY (1997) als Ursache, als Begleiterscheinung oder als Folge von Schmerzen und Leid, neben die der Begriff im Tierschutzgesetz gestellt wird, auftreten.

Als Schaden bezeichnet man einen Zustand des Tieres, der von seinem gewöhnlichen Zustand hin zum Schlechteren abweicht und nicht bald vorübergeht, wobei eine Dauerwirkung nicht erforderlich ist (TSCHANZ 1985; BRANDHUBER 1996; BERNATZKY 1997; HACKBARTH u. LÜCKERT 2000). Dabei setzt der Schaden weder eine Schmerz- und Leidensfähigkeit des geschädigten Tieres voraus, noch ist eine Verletzung oder Minderung der Substanz des Tieres notwendig (HACKBARTH u. LÜCKERT 2000).

Unter anderem sind Abmagerung, Unfruchtbarkeit, Etho- oder Psychopathien als Folge von Schreckerlebnissen oder Wunden, Gleichgewichtsstörungen, Entstellungen, herabgesetzte Bewegungsfähigkeit - kurz: Gesundheitsschädigung mit ihrer gesamten körperlichen und seelischen Bandbreite - als Anzeichen von Schäden aufzufassen (LORZ 1999; MOYAL 1999; HACKBARTH u. LÜCKERT 2000).

Aus Erfahrungen der juristischen Praxis weist BRANDHUBER (1996) darauf hin, dass eine genaue Abgrenzung von "Schmerzen" und "Schäden" zu "Leiden" kaum möglich ist.

Nach LORZ (1999) kann ein Schaden manchmal als Auffangstatbestand für Schmerzen oder Leiden dienen, beispielsweise wenn die Feststellung von Schmerzen oder Leiden Schwierigkeiten bereitet, wie es bei chronischen und dauernden Beeinträchtigungen der Gesundheit der Fall sein kann. Dann liegt regelmäßig ein Schaden vor, und wenn er nur in der Verschlechterung der Gebrauchsfähigkeit zu sehen ist.

Angst

Angst ist ein unangenehmer emotionaler Zustand bei Erwartung eines stark negativen Ereignisses (SAMBRAUS 1997b) und wird von FLOSSENDORF (1988) als der innere Zustand eines Individuums beschrieben, das sich bedroht fühlt.

Angst ist demzufolge ein Alarmzustand, dem die biologische Funktion zukommt, Energien und Kräfte freizusetzen, die bei einer tatsächlichen Gefahr Angriffs- und Fluchtreaktionen ermöglichen, die u.U. das Überleben ermöglichen.

Der Begriff "Angst" wird im deutschen Tierschutzgesetz nicht explizit genannt, sondern ist als Form des Leidens (LORZ 1999) zu verstehen.

Dennoch gewinnt der Begriff in der Diskussion um tierliche Befindlichkeiten zunehmende Bedeutung und wird beispielsweise in Art. 3.1 des Gesetzes zum Europäischen Übereinkommen vom 13. November 1987 zum Schutz von Heimtieren und im Gesetz zu dem Europäischen Übereinkommen vom 18. März 1986 zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Wirbeltiere erwähnt.

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MEYER (1984) definiert Angst als leidgetönte, polyvalente, konfliktbeladene Stimmung, die aus einer unbestimmten Bedrohung resultiert und durch eine Erniedrigung der Reizschwelle, d.h. durch eine erhöhte Ansprechbarkeit und verstärkte Reaktion auf Reize (z.B. erhöhte Fluchtdistanz, vermehrte Schreckreaktionen) charakterisiert ist. Furcht hingegen stellt ein auf ein bestimmtes Objekt bezogenes oder aus einer bestimmten Konfliktsituation resultierendes Gefühl (d.h. psychisches Erleben und physiologischer Zustand) des Bedrohtseins dar.

Der Unterschied zur Angst liegt also darin, dass das sich fürchtende Individuum eine Kenntnis von dem furchtauslösenden Bezugsobjekt bzw. der entsprechenden Situation besitzt (LOEFFLER 1993a).

Angst entsteht im Zwischenhirn und in den zum limbischen System gehörenden Teilen des Archekortex (MOYAL 1999). Sie wird bei Mensch und Tier auf vielfältige Weise zum Ausdruck gebracht. Um tierschützerische Bemühungen auf einer exakten wissenschaftlichen Grundlage durchführen zu können, haben GRAUVOGL (1972) und SAMBRAUS (1981, 1997b) eine Aufzählung charakteristischer Ausdrucksmittel der Angst bei Haustieren festgelegt. Diese umfassen beispielsweise weit aufgerissene Augen, Harnträufeln, Schreckurinieren, Schweißausbrüche, Hautblässe, Zittern, Sträuben der Haare, spezielle Lautäußerungen, erhöhte Pulsfrequenz, Angstbeißen, Zusammendrängen von Artgenossen oder panisches Davonstürmen ohne Rücksicht auf Hindernisse.

GRAUVOGL (1983) kritisiert, dass das deutsche Tierschutzgesetz die Angst nicht als eigene Qualität des Leidens beschreibt. Schon im Schweizer Tierschutzgesetz vom 9. März 1978 (in der Fassung vom 1. Juli 1995) wird "Angst" gleichrangig neben die Begriffe "Schmerzen", "Leiden" und "Schäden" gestellt. Der Gesetzgeber bestimmt dort (Art. 2.3.), dass niemand ein Tier ungerechtfertigt in Angst versetzen darf.

LOEFFLER (1993b) und BRANDHUBER (1996) fordern daher, dass im Deutschen Tierschutzgesetz ausdrücklich die Vermeidung von Angst beim Tier genannt werden sollte, da sonst die Gefahr besteht, dass die Angst als sehr akute, z.T. rasch vorübergehende Störung des Wohlbefindens übersehen oder als Leidensform zu gering bewertet werden könnte (LOEFFLER 1993a).

Artgemäß

Eine Haltung ist dann artgemäß, wenn sich nach den Regeln der tierärztlichen Kunst oder nach anderen naturwissenschaftlichen Kenntnissen keine gestörten körperlichen Funktionen, die auf Mängel oder Fehler in der Ernährung und Pflege zurückgeführt werden können, feststellen lassen (BT-DRUCKSACHE 10/3158).

Der Gesetzgeber versteht dabei, über den zoologischen Terminus "Art" hinaus- gehend, auch die rasse- oder schlagtypischen Eigenschaften eines Individuums, denen Nahrung und Pflege sowie Bewegungsmöglichkeiten in einer Haltung Rechnung tragen müssen.

TSCHANZ (1984) betont, dass zur artgemäßen Haltung sowohl artgemäße Nahrung, die die für den körperlichen Aufbau und Erhalt erforderlichen Stoffe beinhaltet, als auch artgemäße Reize, wie beispielsweise Bewegungsreize zur normalen Knochenausbildung, nötig sind.

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Heute wird vielfach der Begriff "tiergerecht" verwendet, der rassespezifische Besonderheiten oder auch individuelle Eigenarten eines Tieres stärker berücksichtigt und sich nicht auf die zoologische Art bezieht (ROJAHN 1984). Nach SUNDRUM (1994) ermöglicht der Begriff “tiergerecht“ einen konkreteren Bezug auf die tierindividuellen bzw. gruppenspezifischen Eigenheiten wie beispielsweise Größen- und Gewichtsverhältnisse, Alter und Geschlecht.

In der Schweizer Tierschutzverordnung von 1981 in der Fassung vom 3. Juni 1997 gilt eine Haltung als "tiergerecht", wenn die Körperfunktionen und das Verhalten der Tiere nicht gestört werden und die Anpassungsfähigkeit der Tiere nicht überfordert wird (SCHWEIZER TierSchV. 1997, Art. 1 Abs. 1). Dies ist dann der Fall, wenn das der entsprechenden Tierart gemäße Verhalten auftritt.

Davon abweichendes Verhalten kann bei mangelnder Möglichkeit der Bedarfsdeckung und/oder Schadensvermeidung auftreten und damit auf mangelnde Tiergerechtheit der Haltung hinweisen (GOETSCEL 1986).

"Tiergerecht" umfasst laut TSCHANZ (1984) "artgemäß und verhaltensgerecht".

Auch im Bedarfsdeckungs- und Schadenvermeidungskonzept (DVG 1993), auf das im Tierschutzgesetz Bezug genommen wird, werden die Begriffe "artgemäß" und

"verhaltensgerecht" im Begriff "tiergerecht" zusammengefasst.

In Anlehnung an das Deutsche Tierschutzgesetz (§ 2 TierSchG) und die Schweizerische Tierschutzverordnung (Art. 1 TierSchV) kann "tiergerecht" als Attribut von Haltungsbedingungen nach SUNDRUM (1998) wie folgt definiert werden:

"Haltungsbedingungen sind dann tiergerecht, wenn sie den spezifischen Eigenschaften der in ihnen lebenden Tiere Rechnung tragen, indem die körperlichen Funktionen nicht beeinträchtigt, die Anpassungsfähigkeit der Tiere nicht überfordert und essenzielle Verhaltensmuster der Tiere nicht so einschränkt und verändert werden, dass dadurch Schmerzen, Leiden oder Schäden entstehen."

Verhaltensgerecht

MEYER (1984) versteht unter Verhalten die Aktion und Reaktion eines Individuums in seiner Umwelt. Verhalten eines Tieres setzt sich dem Autor zufolge aus zwei Komponenten zusammen: Zum einen aus den instinktgebundenen, ererbten Verhaltensmustern und zum anderen aus den individuumspezifischen Verhaltensweisen, die erworben, also erlernt sind und anhand von Erfahrungswerten durch das Tier eventuell angepasst, d.h. verändert werden können. Diese Fähigkeit zur Verarbeitung von Erfahrungen ist von dem phylogenetischen Entwicklungsstand abhängig. Damit beschränkt der genetisch vorgegebene Rahmen die Anpassungsfähigkeit eines Tieres.

Laut BT-Drucksache VI/2559 wird eine verhaltensgerechte Unterbringung gefordert, die die angeborenen, arteigenen und essenziellen Verhaltensmuster des Tieres nicht so einschränkt und so verändert, dass dadurch Schmerzen, Leiden oder Schäden am Tier selbst oder durch ein so gehaltenes Tier an einem anderen entstehen.

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HORTER (1986) bezeichnet all diejenigen Verhaltensmuster als essenziell, die eine angeborene Grundlage haben. Selbst erworbene (d.h. erlernte) Verhaltensweisen können essenzielle Bedeutung erlangen, wenn sie so fest im Verhaltensrepertoire verankert sind, dass sie nicht durch Umlernen ersetzbar sind.

Im Gegensatz dazu definiert MEYER (1984) essenzielle Verhaltensmuster pauschal als solche, die zur Aufrechterhaltung der physischen und psychischen Gesundheit eines Organismus obligatorisch sind.

Um die Verhaltensgerechtheit einer Tierhaltung beurteilen zu können, ist es unabdingbare Voraussetzung, das Normalverhalten der darin gehaltenen Tiere zu kennen (van PUTTEN 1982; TSCHANZ 1984, 1985; STAUFFACHER 1992b;

BUCHHOLTZ 1993). Diesen arttypischen Standard (MEYER 1984) ermittelt man durch den Vergleich vieler Ethogramme von Einzeltieren (Deskriptive Verhaltensanalysen). Auf dieser Basis lassen sich Verhaltensabweichungen hinsichtlich Modalität, Frequenz und Intensität feststellen.

Sie können funktioneller Natur sein und der Anpassung eines Individuums an seine Umwelt dienen oder sporadisch auftreten und Ausdruck eines (irrtümlichen) Fehlverhaltens sein oder aber auch echte Verhaltensstörungen darstellen.

Verhaltensstörungen werden nach GOETSCHEL (1986) zu den Leiden und nach ROJAHN (1984) zu den Schäden gerechnet.

Stress

Der Begriff “Stress“ wird ebenso wie “Angst“ nicht im Tierschutzgesetz erwähnt.

"Stress" wird im allgemeinen Sprachgebrauch als sehr flexibler Begriff verwendet und eingesetzt, wenn ein Lebewesen durch seine Lebensumstände besonders be- oder sogar überlastet wird, also in dem Grenzbereich zwischen Wohlergehen und gestörtem Wohlbefinden. Daraus ergibt sich die Schlüsselstellung des Begriffes in der Diskussion um tiergerechte Haltungssysteme.

Allgemein ist unter Stress eine Antwortreaktion des Organismus auf bestimmte Reizkonstellationen (Beanspruchungen, Anstrengungen) zu verstehen, die immer mit einer Steigerung des emotionellen Erregungsniveaus verbunden ist (ZETKIN- SCHALDACH 1985).

MEYER (1984) definiert Stress hingegen als Belastungszustand, der aus der Wechselwirkung von Schaden (Stressor) und Abwehr (Adaptation) seitens eines mehr oder weniger anpassungsfähigen Organismus resultiert.

Nach LORZ (1999) ist Stress als Erscheinungsform der Leiden ein Reizzustand, der angeborenen oder erworbenen Eigenschaften zuwiderläuft und gekennzeichnet wird von physiologischen Begleitumständen und Verhaltensformen.

Für die Ethologie entscheidend geprägt wurde der Begriff durch SELYE (1952):

Er verbindet Stress mit einem bestimmten Reaktionsmuster, dass Menschen und Tiere auf eine erhöhte Beanspruchung unterschiedlichster Art, wie z.B. Kälte, Iso- lation oder soziale Belastungen hin zeigen.

(31)

Auf den Ergebnissen seiner umfangreichen Untersuchungen baut der Autor die Theorie auf, dass speziesübergreifend eine stressorunspezifische, dreiphasige Beantwortung von Stress erfolgt. In der ersten und schnellen Phase kommt es zu einer "allgemeinen Alarmreaktion", geprägt durch die Anregung des sympathischen Nervensystems mit Freisetzung von Adrenalin und Noradrenalin zur Einleitung einer möglichen Flucht- oder Verteidigungsreaktion. Genügt die erste Phase der Stressbewältigung nicht, so folgt die, als "Anpassungsreaktion" bezeichnete, zweite Phase mit zentralgesteuerter Ausschüttung von Glukokortikoiden der Nebennierenrinde und Suppression des Immunsystems, die entsprechend zu typischen pathologischen Veränderungen führen kann (KITT 1982; GRAUVOGL 1996). Ziel dieser Resistenzphase ist es, die Widerstandsfähigkeit des Körpers für die Bewältigung der Noxe zu steigern. Diese Vorgänge bezeichnet SELYE (1952) als

"Allgemeines Adaptationssyndrom". Ist der Körper adaptationsunfähig, so kommt es zur "Erschöpfungsphase" mit Todesfolge (KITT 1982).

Die Reaktionen auf verschiedene Stressoren können jedoch durchaus verschieden sein (DAWKINS 1982; BROOM u. JOHNSON 1993), zudem ist eine Stressreaktion nicht zwangsläufig mit der Ausschüttung von Glukokortikoiden verbunden (STRICKER 1999). Außerdem ist eine Freisetzung auch in Situationen möglich, die nicht dem Bereich Stress zugeordnet werden, wie beispielsweise bei Brautwerbung oder Kopulation (BROOM u. JOHNSON 1993). Anhand verschiedener Studien fand z.B. MASON (1975) heraus, dass nicht der Stressor die Stressantwort eines Tieres beeinflusst, sondern der physiologische Zustand des Tieres dabei eine entscheidende Rolle spielt. Wichtige Komponenten sind in diesem Zusammenhang die Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit einer Situation. Somit besitzt die Definition von SELYE (1952) keine allgemeine Gültigkeit.

BROOM und JOHNSON (1993) definieren den Begriff “Stress“ daher als Effekt der Umgebung auf ein Individuum, der die Kontrollsysteme des Individuums überfordert.

Dieser zieht eine Reduktion der Fitness nach sich oder macht diese sehr wahrscheinlich. Die Reduktion der Fitness wirkt sich durch erhöhte Mortalität, gestörtes Wachstum bzw. gestörte Vermehrung aus.

Im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch sowie in der Gesetzgebung (BGBl. I S.

1337) wird Belastung mit Nachteilen für Gesundheit und Wohlbefinden der Tiere gleichgesetzt. Allerdings deuten verschiedene Untersuchungen darauf hin, dass zu viel oder zu wenig Belastung sich gleichermaßen ungünstig auswirkt und dass ein bestimmtes Ausmaß an Belastung zur Erhaltung der biologischen Funktionen wesentlich ist (von BORELL 1995; ZULKIFLI u. SIEGEL 1995).

In der englischsprachigen Literatur wird daher vermehrt zwischen den unerwünschten und erwünschten Auswirkungen einer Belastung unterschieden und mit den Termini "Distress" und "Eustress" belegt (MOBERG 1987, 1999; GRIFFIN 1989; ZULKIFLI u. SIEGEL 1995). Nach GRIFFIN (1989) bezeichnet "Distress" eine Antwort des Organismus auf unterschiedliche Stimuli, die eine pathophysiologische Reaktion hervorrufen. Solche Reaktionen können mit einer Änderung des Verhaltens, Schwächung des Immunsystems und Erhöhung der Krankheitsanfälligkeit einhergehen (MOBERG 1987, 1999). Demgegenüber werden Stimuli, die physiologische Reaktionen ohne nachteilige Wirkung für den Organismus zu steigern vermögen, mit dem Begriff "Eustress" gekennzeichnet (GRIFFIN 1989).

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