DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
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a flattern einem in einer niederrheinischen Stadt praktizierenden Kassen- arzt — wie wohl anderen Ärz- ten auch — Anfang Dezember zwei Briefe auf den Schreib- tisch, die zunächst nichts Un- gewöhnliches vermuten las- sen. Auf den ersten Blick:Pharmawerbung? Auf den zweiten: die Absender wek- ken Interesse. Sandoz AG und Ciba-Geigy AG. Nach Lektü- re der ersten Zeilen ist klar:
Die beiden Basler Chemie- konzerne werben nicht etwa für ein neues Produkt, son- dern um neues Vertrauen. Es wird versucht, das nach der Umweltkatastrophe vom 1.
November angekratzte Fir- menimage aufzupolieren.
Nichts solle heruntergespielt werden. Verständnis wird da- für bekundet, „daß die Ereig- nisse in der Öffentlichkeit zum Teil sehr emotional dis- kutiert worden sind" (San- doz). Dem Sandoz-Schreiben beigefügt ist eine Erklärung des Verwaltungsratspräsiden- ten des Unternehmens, Dr.
Mit dem Rücken zur Wand
Marc Moret. Ihn schmerzt der in Medien vorgebrachte Vor- wurf, Sandoz lüge. „Lügen heißt: etwas zu sagen, von dem man weiß, daß es nicht stimmt. Wir haben zu jedem Zeitpunkt alles, was wir wuß- ten, und nur was wir wußten, der Öffentlichkeit mitgeteilt."
Ciba-Geigy liefert „Die Fak- ten über Atrazin". 400 Kilo- gramm dieses Wirkstoffes wa- ren am 31. Oktober in den Rhein gelangt. „Der Atrazin- Störfall ist eine technische Panne, die nicht hätte passie- ren dürfen, und für die wir uns in aller Form entschuldi- gen", heißt es in der Ciba- Geigy-Erklärung. Beigefügt ist eine Mitteilung des Baude- partements des Kantons Ba- sel-Stadt, in der klargestellt wird, „daß die von der Ciba-
Geigy AG gemeldeten rund 400 kg Atrazin in der Größen- ordnung korrekt waren".
Ganz gleich, wie die beiden Schreiben inhaltlich zu be- werten sind, das eine scheint festzustehen: Die beiden Bas- ler Chemiegiganten stehen gegenwärtig mit dem Rücken zur Wand. Offensichtlich se- hen sie — obgleich die Unfälle nichts mit der Pharma-Pro- duktion zu tun hatten — ihr Ansehen auch bei der Ärzte- schaft in Gefahr; erst recht, nachdem einige Ärzte und Apotheker öffentlich Boykott- maßnahmen gefordert haben.
Da bleibt wohl nur eine groß angelegte Flucht nach vorne.
Für die gesamte chemische Industrie, insbesondere für die am Rhein gelegene, gilt es, eingebüßtes Vertrauen wiederzugewinnen. — Die Frage sei gestattet: Müssen sich erst Umweltkatastrophen tatsächlich ereignen, ehe ver- stärkte Anstrengungen zum Schutz der Umwelt unternom- men werden? rei
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orsicht ist angebracht.„Jeder Schritt der Reform (gemeint ist die für die neue Legislaturperiode von allen Seiten angekündigte ,Strukturreform im Gesund- heitswesen') muß enorm be- dacht sein. Jeder Stein, der herausgezogen wird, kann das ganze System zum Ein- sturz bringen." Diese Mah- nung Dr. Eckart Fiedlers, des Hauptgeschäftsführers der Kassenärztlichen Bundesver- einigung, ist auf die allent- halben ins Kraut schießenden
„Reformideen" gemünzt Zum Beispiel die Idee „Wahl- freiheit unter allen Kassen".
Sie würde binnen fünf Jahren zum Ausbluten der Ortskran- kenkassen, damit zum kas- senübergreifenden Finanz- ausgleich und damit letztlich zur Zusammenfassung der ge- setzlichen Krankenversiche- rung zu einer einzigen riesi- gen Kasse führen. Wer kann daran interessiert sein? Oder
Das Gegenteil ist richtig .. .
zum Beispiel die Idee „Her- ausnahme der freiwillig Ver- sicherten" aus der sozialen Krankenversicherung: Sie würde den Beitragssatz der verbleibenden Pflichtversi-
cherten etwa um zwei Pro- zentpunkte erhöhen. Diese Berechnung räumt mit einer eingefleischten Vorstellung auf, als würden die „beson- ders anspruchsvollen" frei- willig Versicherten in der ge- setzlichen Krankenversiche- rung von den "armen"
Pflichtversicherten subven- tioniert. Genau das Gegen- teil ist richtig, und diese Tat- sache muß man sich einprä- gen:
Ein Pflichtversicherter zahlt jährlich durchschnittlich
3182,75 DM, ein freiwillig Versicherter 4531,12 DM und ein Angestellter oberhalb der Versicherungspflichtgrenze sogar 5880,60 DM. Allein schon mit diesen Zahlen zeigt der Verband der Angestell- ten-Krankenkassen auf, „wie absurd die Subventionie- rungsthese ist".
Weiter im Ersatzkassen-Re- port Nr. 7: „Ein Angestellter mit einem Einkommen ober- halb der Versicherungs- pflichtgrenze . . . leistet um 80 Prozent höhere Beiträge und nimmt Leistungen in An- spruch, die über dem Durch- schnitt der Versicherungs- pflichtigen, aber unter diesem Prozentsatz liegen."
Und einen solchen tragfä- higen „Stein" wollte man einfach aus dem Funda- ment der gesetzlichen Kran- kenversicherung herausstem- men? Nachdenken ist ange- bracht . . . roe
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 50 vom 10. Dezember 1986 (1 ) 350E