• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Rehabilitation – auch bei Depressiven?" (11.10.1996)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Rehabilitation – auch bei Depressiven?" (11.10.1996)"

Copied!
4
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

W

ird bei depressiven Kran- ken über die Behandlung hinaus überhaupt Rehabi- litation notwendig? Diese Frage klingt wie ein Einwand; denn man geht im allgemeinen davon aus, daß affektive Erkrankungen eigent- lich nicht die Leistungsfähigkeit be- einträchtigen und somit kaum berufli- che oder andere soziale Probleme hervorrufen.

So ist von Rehabilitation depres- siver Patienten kaum die Rede, weder wissenschaftlich noch in der Versor- gungsplanung. Psychiatrische Reha- bilitation erstreckt sich bevorzugt auf schizophrene Kranke. Neurologische Rehabilitation betrifft Patienten mit organischen Schäden des zentralen Nervensystems. Und in psychosoma- tischen Rehabilitationseinrichtungen werden Kranke mit schweren Neuro- sen behandelt. Im Hinblick auf de- pressive Kranke ist zu fragen, ob kein Rehabilitationsbedarf besteht oder ob es sich um ein verkanntes Problem und unbearbeitetes Gebiet handelt.

Tatsächlich bedürfen viele Pati- enten nach der erfolgreichen Behand- lung der depressiven Episode keiner speziellen rehabilitativen Maßnah- men. Es ist erstaunlich, wie viele ohne große Mühe den Weg zurück in die Arbeit und in die sozialen Beziehun- gen finden. Aber das gilt nicht für alle.

Insbesondere bei schwerer Depres- sion wirken sich die emotionalen Störungen ausgesprochen leistungs- mindernd aus (allgemeine Insuffi- zienz, dynamische Reduktion nach Janzarik); zudem gehen schwere De- pressionen auch mit erheblichen ko- gnitiven Störungen einher, was bisher zuwenig berücksichtigt wurde. Die Zahl depressiver Patienten, die auch nach effektiver antidepressiver Be- handlung vor beruflichen und sozialen Problemen stehen, ist nicht gering.

Diese Probleme werden anscheinend häufiger, vermutlich im Zusammen- hang mit der veränderten Arbeitswelt.

Rehabilitation ist hier im wört- lichen Sinne gemeint: Hilfen beim Zurückfinden in die Lebensbedin-

gungen. Überwiegend handelt es sich um Arbeitsrehabilitation, also Wie- dereingliederung in den Beruf (oder in die Ausbildung). Aber auch Pro- bleme des Wohnens und der fami- liären Einbindung treten bei depressi- ven Patienten auf und sind der Reha- bilitation zugänglich.

Bei den folgenden Beispielen halten wir uns an die bewährte Eintei- lung und Benennung der einzelnen Depressionsformen (auch wenn die neueste Terminologie nur noch zu- sammenfassend von depressiven Epi- soden spricht), denn die Therapie und – wie hier zu zeigen sein wird – die Re- habilitation sind auch vom De- pressionstyp abhängig.

Reaktive Depression nach Verlusterleben

Es handelt sich um depressive Reaktionen auf einschneidende Er- eignisse und bedrückende Erlebnisse.

Soweit Menschen betroffen sind, die über eine relativ stabile Persönlich- keitsstruktur verfügen, sind solche

depressiven Reaktionen meist von kurzer Dauer und ohne Folgen für die psychische Gesundheit. Unter be- stimmten Bedingungen aber können depressive Reaktionen lang anhalten, den Lebensrhythmus empfindlich stören und auch die berufliche Lei- stungsfähigkeit beeinträchtigen. So gibt es nach dem Tod eines nahen An- gehörigen (auch nach Scheidung) langanhaltende Trauerreaktionen, die den Lebensfluß des Betroffenen derart unterbrechen, daß eine neue Lebensform kaum ohne rehabilitative Hilfe zu erreichen ist.

In der Psychotherapie, die bei diesen depressiven Trauerreaktionen nicht selten ein erfahrener Hausarzt übernimmt, kommt es insbesonde- re darauf an, in Lebensproblemen zu raten, neue zwischenmenschliche Beziehungen zu vermitteln und in neue Aufgaben (gegebenenfalls im Berufsfeld) einzuführen. Die Vorge- hensweise ist das verstehende ärztli- che Gespräch (4).

Anhaltende reaktive Depressionen nach Unfall

Anhaltende depressive Reaktio- nen mit erheblichen Störungen der Arbeitsfähigkeit gibt es nach schwe- ren Unfällen, und zwar auch, wenn es nicht zu einem Schädel-Hirn-Trauma kam. Durch das Unfallereignis und seine Verarbeitung, durch die langen und oft einschneidenden Behandlun- gen und langen Ausfallzeiten kann der Patient so sehr „aus dem Takt ge- raten“, daß er nicht mehr ohne syste- matische Rehabilitation seine beruf- liche Leistungsfähigkeit wieder er- reicht. Das ist besonders dann zu be- obachten, wenn ein noch relativ jun- ger Mensch die Planung des vor ihm liegenden Lebensabschnittes, mögli- cherweise auch den Lebensentwurf insgesamt, in Frage gestellt sieht, weil in beruflichen und anderen Lebens- bereichen unerwartete Schwierigkei- ten auftreten und Enttäuschungen zu

verkraften sind. !

A-2629

M E D I Z I N ZUR FORTBILDUNG

Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 41, 11. Oktober 1996 (57)

Rehabilitation –

auch bei Depressiven?

Rainer Tölle

Viele Depressive bedürfen erstaunlicher- weise auch nach schwerer Krankheits- phase keiner Rehabilitation. Bei affekti- ven Psychosen mit ungünstiger Verlaufs- form sind die Rehabilitationsmaßnah- men nur begrenzt nützlich. Sozusagen dazwischen stehen Depressionspatien- ten, bei denen Wiedereingliederungs- probleme entstehen, die aber bisher zu- wenig beachtet wurden. Für die einzel- nen Depressionstypen, die verschiede- nen Verlaufsformen und biographischen Probleme werden Indikationen und Vor- gehensweise der Rehabilitation erörtert.

Klinik für Psychiatrie (Direktor: Prof. Dr. med.

Rainer Tölle) der Westfälischen Wilhelms-Uni- versität Münster

(2)

In diesen Situationen gehen Be- handlung und Rehabilitation, also Psychotherapie und soziale Hilfen, in- einander über. Sie sind im allgemei- nen vom Psychiater und Psychothera- peuten durchzuführen und haben das Ziel, den Betroffenen auf den Weg zu akzeptablen Vorstellungen und Zie- len in persönlichen und beruflichen Lebensbereichen zu führen.

Neurotische Depressionen

Depressive Neurose ist eine lang- anhaltende, neurotische Entwick- lung, erkennbar an einer depressiven Persönlichkeitsstruktur. Gleichsinnig wird der Begriff neurotische Depres- sion benutzt, unter dem man zugleich auch eine klinisch manifeste depressi- ve Symptomatik in Krisensituationen dieser Menschen versteht.

Die meisten depressiv-neuroti- schen Patienten gehen ohne größere Probleme im Leistungs- und Berufs- bereich durchs Leben. Sie sind oft be- tont leistungsbezogen und angepaßt, was sie allerdings nur unter inneren Spannungen durchhalten. Nur in schweren Krisen werden Krank- schreibungen notwendig, meist han- delt es sich um begrenzte Ausfallzei- ten. Zum Teil aber werden längere Behandlungszeiten und im Anschluß hieran auch Rehabilitationsmaßnah- men notwendig.

Insbesondere wenn depressiv- neurotische Menschen arbeitslos wer- den und in tiefe Selbstwertkrisen ge- raten, muß an intensive und längerfri- stig angelegte Rehabilitationsmaß- nahmen in spezialisierten Einrichtun- gen (auch in psychosomatischen Re- habilitationskliniken) gedacht wer- den.

Depressiv-neurotische Adoleszentenkrisen

Rehabilitationsprobleme gibt es bereits bei jungen Patienten, wenn ei- ne neurotisch-depressive Entwick- lung exazerbiert, zum Beispiel in der Zeit vor dem Abitur. Wenn nach den vorausgegangenen persönlichen und familiären Schwierigkeiten auch noch das Leistungsvermögen redu- ziert ist und Versagen als weitere

Kränkung befürchtet wird, kann es zu sehr tiefen depressiven Verstimmun- gen mit Suizidgefahr kommen. Nach der eingehenden Behandlung (nicht selten stationär) werden Rehabiliati- onsmaßnahmen notwendig, bei de- nen es um die Fragen geht: Wie soll die Rückkehr in die Schule, unter welchen Bedingungen und in welche Jahrgangsstufe geschafft werden?

Wäre eine andere Berufsausbildung vorzuziehen? Wo können sich neue Wege auftun, wenn zudem der Aus- zug aus dem Elternhaus ansteht? Er- laubt das bisher gewonnene Maß an Eigenständigkeit überhaupt selb- ständiges Wohnen? Wie können die gerade für diese Menschen so wichti- gen sozialen Beziehungen erhalten oder neu aufgebaut werden?

Die fachpsychotherapeutische Behandlung, eine langfristige, psycho- dynamisch ausgerichtete Psychothe- rapie, ist zu einem guten Teil Rehabili- tation, schließt also Lebensberatung und Hilfen in sozialen Fragen ein.

Melancholische Phase (endogene Depression)

Die Charakteristika dieser De- pressionsform sind Herabgestimmt- sein, aber nicht wie Traurigkeit, son- dern wie Leere und Gefühllosigkeit, Nicht-fühlen-Können und sogar Nicht-traurigsein-Können. Es besteht eine spezifische Antriebsstörung (Blockierung) von Schwung, Elan, Initiative und Spontanität. Diese Symptomatik unterscheidet sich we- sentlich von der bei den bisher be- sprochenen reaktiven und neuroti- schen Depressionen.

Für die meisten dieser Erkran- kungen gilt, was eingangs über günsti- ge Verläufe gesagt wurde: Melancho- lische Phasen sind heute gut zu behan- deln, klingen größtenteils in absehba- rer Zeit ab, hinterlassen in der Regel keine Folgen und stellen im allgemei- nen den Patienten nicht vor Reha- bilitationsprobleme. Diese Verläufe sind sehr eindrucksvoll und können den Blick dafür verstellen, daß es auch andere Verlaufsformen mit größeren Problemen gibt. In den fol- genden Abschnitten sollen einige Re- habilitationsindikationen bei melan- cholisch Kranken erörtert werden.

Schwere affektive Psychosen

Affektive Psychose ist die zusam- menfassende Bezeichnung für mani- sche und melancholische Krankhei- ten, früher manisch-depressive Krankheiten genannt. Ein relativ kleiner Teil der affektiven Psychosen nimmt einen schweren und ungünsti- gen Verlauf: zahlreiche melancholi- sche oder/und manische Phasen, kur- ze Intervalle, Einengungen der Per- sönlichkeit, nachlassende Vitalität (im Sinne eines Residualzustandes).

Bei diesen Kranken, wie auch all- gemein in tiefen Depressionszustän- den, kann die Leistungsfähigkeit sehr erheblich reduziert sein. Systemati- sche Untersuchungen haben eindeu- tig die ausgeprägten kognitiven Be- einträchtigungen nachgewiesen (3, 5), die nicht selten noch über die Rück- bildung der affektiven Symptomatik hinaus bestehen bleiben (2).

Diese Patienten bedürfen einer sehr eingehenden, stufenweise aufge- bauten und langfristigen Rehabilita- tion. Die Maßnahmen sind ähnlich wie bei schizophrenen Kranken mit ungünstigen Verläufen. Die Rehabili- tation wird in Abteilungen für Ar- beitstherapie psychiatrischer Klini- ken (auch ambulant), in Behinderten- werkstätten und Selbsthilfefirmen durchgeführt. Allerdings wurden bis- her nur wenige affektpsychotische Pa- tienten in solche Rehabilitationspro- gramme aufgenommen; die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen (7) haben gezeigt, wie schwer es ist, bei diesen Kranken Leistungsfähig- keit und soziale Kompetenz zu ver- bessern.

Sogenannte chronische Depressionen

Zwar dauern die meisten melan- cholischen (endogen-depressiven) Phasen nicht länger als einige Monate an, zumindest erreichen die Kranken in dieser Zeit einen gebesserten und erträglichen Zustand mit partieller Wiederherstellung der Leistungs- fähigkeit. Aber ein kleinerer Teil der Phasen verläuft sehr langwierig (wenn auch nicht ständig mit tiefer Depressionssymptomatik). Bei einer A-2630

M E D I Z I N ZUR FORTBILDUNG

(58) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 41, 11. Oktober 1996

(3)

Verlaufsdauer von zwei Jahren und länger spricht man von chronischer Depression. Diese Bezeichnung darf nicht mißverstanden werden; denn grundsätzlich klingen auch diese De- pressionen schließlich ab. Bis dahin jedoch, also über einen langen Zeit- raum, ist infolge affektiver und kogni- tiver Störungen die berufliche Lei- stung mehr oder weniger einge- schränkt. Je länger die Ausfallzeiten andauern, desto schwerer wird das Zurückfinden in die sozialen und be- ruflichen Verhältnisse. Die kontinu- ierliche Behandlung dieser Kranken, größtenteils ambulant und nicht sel- ten vom Hausarzt durchgeführt, um- faßt die antidepressive Medikation, die psychotherapeutische Führung des Kranken und Hilfen im sozialen Umfeld. Die Angehörigen, die mit unter der Depression leiden, müssen unterstützt werden; und auch bei Ver- handlungen mit dem Arbeitgeber (Teilzeitarbeit oder andere Modelle) kann der Arzt helfen.

Probleme des Herausgeratens aus der Melancholie

Probleme können auch bei weni- ger lang hingezogenen Phasen entste- hen. Mit erschwertem „Herausgera- ten“ ist folgendes gemeint: Zwar ist die Krankheit an sich (unter den anti- depressiven Behandlungen) weitge- hend oder ganz abgeklungen, der Pa- tient hat kaum noch Symptome, aber er findet sozusagen nicht in seine Ge- sundheit und in seine „normalen“ Le- bensbedingungen zurück. Er wagt nicht, die Klinik zu verlassen, an seine Arbeit möchte er kaum denken.

Die Anamnese dieser Patienten läßt meist erkennen, daß der melan- cholischen Erkrankung eine längere neurotische Entwicklung vorausge- gangen ist. Es handelt sich also um ei- ne Komorbidität, um das Zusammen- treffen zweier Krankheiten: einer Neurose mit persönlichen Problemen und Konflikten, welche das Heraus- geraten aus der „Zweitkrankheit“

(der melancholischen Phase) er- schweren (8).

Bei diesen Patienten ist eine sy- stematische Frührehabilitation indi- ziert, die im psychiatrischen Kranken-

haus beginnt und über längere Zeit ambulant fachärztlich fortzusetzen ist. Die individuelle Psychotherapie geht mit der Bearbeitung der Pro- bleme im sozialen Feld und natürlich mit der präventiven medikamentösen Behandlung einher.

Erschwerende

Umweltbedingungen

Auch wenn weder die Verlaufs- form der Krankheit noch die voraus- gegangene Persönlichkeitsentwick- lung des Kranken soziale Schwierig- keiten erwarten lassen, können nach der melancholischen Phase doch nicht selten Wiedereingliederungsproble- me auftreten, auch am Arbeitsplatz.

Zum Beispiel: Während der Ausfall- zeit von einigen Monaten hat ein Ver- treter die Stelle besetzt, dem Patien- ten wird eine weniger attraktive oder untergeordnete Tätigkeit angeboten, und das wird damit begründet, daß seine Belastbarkeit vielleicht noch nicht ganz wiederhergestellt sei. Oder es wird die Kündigung erwogen (zu- mal ohnehin betriebsbedingte Entlas- sungen anstünden) oder entspre- chend die Zurruhesetzung nach dem Beamtengesetz. Diese Situationen zeigen, daß Rehabilitation zwei Sei- ten hat, die des kranken Menschen und die der Arbeitswelt. So unter- scheidet man heute den personalen Zugang (skill development) und den ökologischen Zugang (environmental ressource intervention). Rehabilita- tion schließt also Bemühungen ein, Verhältnisse so zu gestalten, daß sie dem Kranken bei seinen Anstrengun- gen des Wiederhineinfindens entge- genkommen.

Für diese Patienten muß der Arzt – oft ist es der Hausarzt – im sozialen Feld tätig werden, zum Beispiel Ver- ständnis für die langen Ausfallzeiten wecken, die Wiederherstellung der früheren Leistungsfähigkeit fest in Aussicht stellen, den Einstieg mit par- tieller Belastung beziehungsweise re- duzierter Arbeitszeit anregen. Diese Bemühungen sind (auch in der härter gewordenen Arbeitswelt) durch- aus erfolgversprechend; denn „De- pression“ ist inzwischen nicht mehr ein tabuisierter oder pejorativer Be- griff, sondern nicht selten geeignet,

Verständnis und auch Geduld zugun- sten des Kranken aufkommen zu las- sen.

Sogenannte Spätdepressionen

Spätdepression ist zwar keine ei- gene Krankheit, wohl aber ein kenn- zeichnendes Stichwort für bestimmte Probleme bei melancholischen Er- krankungen im fortgeschrittenen Le- bensalter.

Wenn eine melancholische Phase einen Menschen in einem Lebensab- schnitt betrifft, in dem ohnehin Um- stellungen zu erwarten sind, entste- hen spezifischen Probleme. Das ist vor allem bei 55- bis 65jährigen Pati- enten der Fall, bei denen nach schwe- rer und längerer depressiver Phase die Frage ansteht: Wieder arbeiten oder in den Ruhestand gehen?

Manche Kranke haben sich vor- her schon mit dem auf sie zukommen- den Ruhestand befaßt und eine klare Einstellung hierzu gefunden, so daß sie durch die melancholische Phase kaum mehr irritiert, vielleicht sogar darin bestärkt werden, nun den Ruhe- stand anzustreben. Das gelingt heute leichter als früher, da der vorzeitige Ruhestand nicht mehr als besonders zu begründende Ausnahme gilt.

Andere aber sind in dieser Hin- sicht unvorbereitet. Die Frage, wie es beruflich weitergehen soll, kann in der Melancholie zu einem schier un- lösbar erscheinenden Problem wer- den; denn der Betroffene ist während der Krankheit von seinem Unvermö- gen überzeugt und zum Aufgeben ge- neigt. Andererseits sieht er in einer krankheitsbedingten Beendigung sei- ner Lebensarbeit einen unrühmlichen Abgang und ein persönliches Versa- gen.

In diesen Fällen bewährt es sich, die Entscheidung zunächst aufzu- schieben, bis der remittierende Pati- ent besser zu den anstehenden Über- legungen in der Lage ist und schließ- lich zu einer Entscheidung fin- den kann. Da im allgemeinen die volle berufliche Leistungsfähigkeit zurückgewonnen wird, kann es durchaus angebracht sein, den Be- troffenen in der von ihm gewünsch- ten Wiederaufnahme seiner Berufs- A-2631

M E D I Z I N ZUR FORTBILDUNG

Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 41, 11. Oktober 1996 (59)

(4)

tätigkeit für die letzten Jahre seines Arbeitslebens zu bestärken. Welcher Weg der richtige ist, kann nur im Einzelfall zusammen mit dem Kran- ken herausgefunden werden.

Wenn die Wiederaufnahme der Arbeit angestrebt wird, ist zu prüfen, ob auf den Betroffenen erhöhte An- forderungen zukommen, zum Bei- spiel infolge Modernisierung der Ar- beitsweisen in seinem Beruf. Bei- spiele sind EDV-Techniken in kauf- männischen und technischen Beru- fen sowie neue technische Methoden im Arztberuf. Der Kranke oder Ge- nesende befürchtet, nicht mehr Schritt halten zu können, und zu- gleich befürchtet er die Untätigkeit im Ruhestand.

Auch in diesen Situationen ist es nicht selten die Aufgabe des Haus- arztes, den Kranken während der Re- mission und in der folgenden Zeit in geduldig wiederholten ärztlichen Ge- sprächen zu unterstützen und eine Entscheidung finden zu lassen.

Folgerungen

Die Frage, ob bei Depressiven Rehabilitation notwendig wird, läßt sich nicht pauschal beantworten. Es ist zu differenzieren nach dem Krank- heitstyp, dem Schweregrad, der Ver- laufsform, der Persönlichkeit und den Umweltbedingungen. Nicht alle, aber doch relativ viele Depressive bedür- fen rehabilitativer Maßnahmen. De- ren Spektrum ist breit, es reicht vom ärztlich-therapeutischen Gespräch (Hausarzt oder Psychiater) bis zu spezialisierten Rehabilitationspro- grammen. Abgesehen von den selte- nen, sehr ungünstigen Verläufen bei schwerer affektiver Psychose sind die Rehabilitationsaussichten anschei- nend überwiegend günstig. Daher sollten die Möglichkeiten mehr wahr- genommen werden als bisher.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1996; 93: A-2629–2632 [Heft 41]

Literatur

1. Beiser M, Bean G, Erickson D, Zhang J, Iacono WG, Rector NA: Biological and psychosocial predictors of job perfor- mance following a first episode of psycho- sis. Am J Psychiat 1994; 151: 857–863

A-2632

M E D I Z I N

ZUR FORTBILDUNG/FÜR SIE REFERIERT

(60) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 41, 11. Oktober 1996

2. Goethe JW, Fischer EH: Functional im- pairment in depressed patients. J Affect Disord 1995; 33: 23–29

3. Kuny S, Stassen HH: Cognitive per- formance in patients recovering from de- pression. Psychopathology 1995; 28:

190–207

4. Meerwein F: Das ärztliche Gespräch. 3.

Auflage. Bern, Stuttgart, Wien: Huber, 1986

5. Mintz J, Mintz LI, Phipps CC: Treatments of mental disorders and the functional ca- pacity to work. In: Liberman RP (edit):

Handbook of Psychiatric Rehabilitation.

New York: Macmillan Publ Co, 1992;

290–316

6. Reker T, Mues C, Eikelmann B: Perspekti- ven der Arbeitsrehabilitation psychisch Kranker und Behinderter – Ein Überblick über den Stand und die Probleme im Lan- desteil Westfalen. Öffentliches Gesund- heitswesen 1990; 12: 691–695

7. Reker T, Eikelmann B: Ambulante Ar- beitstherapie. Ergebnisse einer multizen- trischen, prospektiven Evaluationsstudie.

Nervenarzt 1994; 65: 329–337

8. Tölle R: Neurose und Melancholie. Schweiz Arch Neurol Psychiat 1988; 139: 43–58 9. Tölle R: Psychiatrie. 11. Auflage. Berlin,

Heidelberg, New York: Springer, 1996 10. Vogel R, Bell V, Blumenthal S, Neumann NU,

Schüttler R: Ausgang, Verlauf und Prognose der Erwerbssituation ersthospitalisierter Er- krankter – Ergebnisse einer Mehr-Punkt-Er- hebung. Rehabilitation 1988; 27: 5–13 Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Rainer Tölle Klinik für Psychiatrie der Universität Münster

Albert-Schweitzer-Straße 11 48149 Münster

Die Wundinfektion ist im allge- meinen eine ernste Komplikation nach chirurgischen Eingriffen.

Durch diese Komplikationen kön- nen die Krankenhausverweildauer zwischen 5 und 20 Tagen verlängert und somit die Kosten erhöht wer- den. Bei kolorektalen Eingriffen schwankt das Risiko einer Wundin- fektion zwischen 3 und 22 Prozent und ist abhängig von mehreren Fak- toren, wie beispielsweise der Dauer der Operation.

Eine leichte Hypothermie stellt sich im allgemeinen bei größeren ko- lorektalen Eingriffen ein (etwa 2 Grad Celsius unterhalb der norma- len Körperkerntemperatur). Hier- durch könnte die chirurgische Wundinfektion gefördert werden.

Als möglicher Pathomechanismus kommt eine thermoregulatorische Vasokonstriktion mit reduzierter subkutaner Sauerstoffkonzentration in Frage.

Dadurch wird zum einen die Funktion der neutrophilen Granulo- zyten beeinträchtigt, zum anderen kommt es zu einer geringeren Neu- bildung kollagener Fasern. Fer- ner beeinträchtigt Hypothermie immunologische Funktionen. In der vorliegenden Untersuchung gehen die Autoren der Frage nach, ob Hy- pothermie die Wundinfektionsrate und damit die Krankenhausver- weildauer erhöht. Zweihundert Pati-

enten mit geplanter kolorektaler Operation wurden in zwei Gruppen randomisiert. es wurde eine standar- disierte Anästhesie durchgeführt, und den Chirurgen war die Grup- pen-Zugehörigkeit des jeweiligen Patienten nicht bekannt. Bei der hy- pothermen Gruppe wurde die Kör- perkerntemperatur intraoperativ auf durchschnittlich 34,7 +/- 0,6 Grad Celsius gehalten, während die Kör- perkerntemperatur der normother- men Gruppe 36,6 +/- 0,5 Grad Celsi- us betrug.

Postoperativ wurde in der hypo- thermen Gruppe bei 18 von 96 Pati- enten (19 Prozent) eine Wundinfek- tion beobachtet. In der normother- men Gruppe hingegen konnte eine Infektion lediglich bei 6 von 104 Pa- tienten (6 Prozent) nachgewiesen werden.

Der Heilungsverlauf war in der hypothermen Gruppe verzögert, so daß die Nähte erst einen Tag später entfernt werden konnten. Ferner war die Krankenhausverweildauer dieser Gruppe um durchschnittlich 2,6 Tage (20 Prozent) verlängert. mll Kurz A et al.: Perioperative normother- mia to reduce the incidence of surgical- wound infection and shorten hospitaliza- tion. N Engl J Med 1996; 334: 1209–15 Dr. Sessler, Department of Anesthesia, 374 Paranassus Ave., 3rdFl., University of California, San Francisco, CA 94143- 0648, USA

Reduziert perioperative Normothermie

das Risiko einer Wundinfektion?

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Die zweitgrößte Gruppe bilden i.v.-drogenabhängige Frauen, die nach einer Studie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) 36,8 Prozent der HIV- Infektionen ausmachen, während

Weitere Einschnitte in das bewährte System der Kran- kenversicherung, ausufernde Selbstbeteiligung und weite- ren Sozialabbau in anderen Bereichen lehnen wir deshalb ab.“ Eine

„Die Neigung der Deutschen, sich für fremde Nationalitäten und N a - tionalbestrebungen z u begeistern, auch dann, wenn dieselben nur auf Kosten des eigenen Vaterlandes

„Financial Times" richtig bemerkte, die „Wiederherstellung dessen be- deutet, was einmal das Herz des Staates von Preußen war". Vor sol- cher Anspielung aber scheuten, von

Zu dieser Kategorie kbnnen auch Arten zahlen, deren Vorkommen fOr Deutschland erst kOrzlich belegt wurde, und solche, die lediglich in einer der regionalen Roten Listen mit

Auch hier ist nicht die alleinige Erhöhung, nicht einmal der Nachweis von Harnsäurekristal- len, beweisend für eine manifeste Gicht; vielmehr wird der intrazellu- läre Nachweis

Solche An- schlußheilbehandlungen sind nach unseren Erfahrungen in der Rehabili- tation Depressiver sehr selten indi- ziert (zum Beispiel bei den beschrie- benen

Der Förder- satz beträgt fünf Prozent für Neubauten und 2,2 Prozent für Wohneigentum, das erst im dritten Jahr nach der Fer- tigstellung oder später ange- schafft