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Archiv "Soziale Verpflichtung zur Prävention und Rehabilitation" (15.11.1979)

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Soziale Verpflichtung zur Prävention und Rehabilitation

Eugen Wannenwetsch

Prävention und Rehabilitation — neben der Rentenzahlung — wichtig- ste Aufgabe der gesetzlichen Rentenversicherung — können die in sie gestellten Erwartungen nur erfüllen, wenn alle am Geschehen Betei- ligten (Staat, Versicherung, Bäderwesen, Ärzte und Patienten) ihrer sozialen Verpflichtung tatsächlich nachkommen. Auch wenn manche Wünsche offenbleiben, so zeigen doch Neuerungen, wie die Anschlußheilbehandlung und die Installierung von Nachsorgegrup- pen (Koronarclubs usw.) hoffnungsvolle Ansätze einer positiven Wei- terentwicklung.

Prävention und Rehabilitation, seit Jahrtausenden fester Bestandteil ärztlicher Behandlung, waren in den vergangenen Jahrhunderten etwas in Vergessenheit geraten. Dabei wurde Prävention bereits im alten China praktiziert. Dort bekam näm- lich der Hausarzt ein um so höheres Honorar, je weniger Krankheitsfälle in den von ihm betreuten Familien vorkamen. Er war also durch diese kluge Regelung gezwungen, echte und wirksame Prävention zu betrei- ben. Den Begriff der Rehabilitation, für den es übrigens bis heute keinen gleichwertigen deutschen Ausdruck gibt, hat der badische Staatsrechtler Ritter von Buss erst 1836 in den deutschen Sprachgebrauch einge- führt. Er kreierte eine so exakte De- finition, daß diese noch heute unver- ändert gültig ist. Aber es hat gut hundert Jahre gedauert, bis die

„große Rentenreform" von 1957 die- se Begriffe populär machte. Aller- dings ist der breiten Bevölkerung der eigentliche, tiefere Sinn dieser Institutionen bis heute noch nicht klar geworden, wie wir auch leider bei manchen Ärzten vergeblich nach Wissen und Verständnis um sie su- chen. Mit Schuld daran ist die Tatsa- che, daß der angehende und der junge Arzt der vergangenen zwei Dekaden weder in Vorlesung noch im Fortbildungskurs darüber etwas zu hören bekam.

Heute hat jeder namhafte Sozialme- diziner seine eigene Definition der Rehabilitation. Die derzeit gültige offizielle Version der Weltgesund- heitsorganisation (WHO) lautet:

„Aufgabe der Rehabilitation ist es, Menschen, die körperlich, geistig oder seelisch behindert sind und die ihre Behinderung oder deren Folgen nicht selbst überwinden können, und Menschen, denen eine Behin- derung droht, zu helfen, ihre Fähig- keiten und Kräfte zu entfalten, um einen entsprechenden Platz in der Gemeinschaft zu finden. Dazu ge- hört vor allem auch die Teilnahme am Arbeitsleben."

Der volkswirtschaftliche Aspekt der Rehabilitation ist für alle von großer Bedeutung. Es ist wirtschaftlich ver- nünftiger — und zwar ebenso für den Betroffenen wie für den Staat —, wenn sich die Behinderten und de- ren Familie selbst unterhalten kön- nen, als wenn die Allgemeinheit ali- mentieren muß. Die ärztliche Ausbil- dung beschränkt sich fast aus- schließlich auf die Behandlung aku- ter und chronischer Krankheiten, vorbeugende Maßnahmen werden kaum gelehrt. Hier hat sich bis zum heutigen Tage nur wenig geändert — lediglich die noch immer recht stief- mütterlich behandelte Sozialmedi- zin berücksichtigt diese Problematik in angemessener Form.

gen steht eine Integration solcher Lehrveranstaltungen in die ärztliche Ausbildung noch aus. Das Bewußt- sein der Wichtigkeit dieses Gebietes wächst jedoch. So liegen inzwi- schen von allen Parteien Äußerun- gen vor, die ein Lehrangebot in me- dizinischer Ethik begrüßen würden oder gar fordern. Erst vor kurzer Zeit setzte sich Dr. Norbert Blüm in sei- nem Problempapier „Mehr Humani- tät im Krankenhaus" in diesem Sin- ne ein (12).

Zielvorstellungen als Ordnungsfaktor

Ethische Fragen — obwohl schwer- lich ausdiskutierbar — sind keine un- nützen Fragen. In einer Zeit immer perfekterer Mittel und immer ver- worrenerer Ziele kommt der Frage nach den eigentlich motivierenden Zielvorstellungen ärztlichen Han- delns die Bedeutung eines Ord- nungsfaktors zu. Als gesamtgesell- schaftliches Unternehmen ist die Rückfrage nach neuen Handlungs- orientierungen immer Ausdruck ei- ner allgemeinen Verunsicherung, ei- ner Konfusion über bisher unbef ragt gültige Normen, die plötzlich nicht mehr auszureichen scheinen.

Die Etablierung neuer Handlungs- prinzipien macht eine umfassende Reflektion der normativen Grundla- gen gesellschaftlichen Handelns notwendig. Dies setzt die Bereit- schaft voraus, an der ethischen Pro- blematik partizipieren zu wollen und zu können. Dieser Bereitschaft, sich affizieren zu lassen, und die Fähig- keit zur intellektuellen Bewältigung sind die einzigen Voraussetzungen zum Einstieg in die Ethik, die eben nicht ein „Fach" ist wie jedes ande- re, sondern offen für jeden, der für die Probleme sensibilisiert ist sowie Alternativsichten entwerfen und de- ren Realisierung „vordenken" kann (13).

Literatur im Sonderdruck

Anschrift für die Verfasser:

Dr. med. Helmut Piechowiak Eduard-Schmid-Straße 29 8000 München 90

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 46 vom 15. November 1979 3051

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Prävention und Rehabilitation

Erst kürzlich hat der Generalsekre- tär der WHO Dr. Halfdan Mahler be- klagt, „daß heute noch die meisten medizinischen Fakultäten eine Art von Medizin lehren, die ausschließ- lich der Krankheit verpflichtet ist, dem Problem der Gesundheit je- doch zu wenig Beachtung schenkt".

Seiner Meinung nach „erziehen die Fakultäten Ärzte nicht im Sinne der Gesundheitsvorsorge, sondern für eine medizinische Praxis, die für al- les blind ist, außer für die Krankheit und die Technologie, derer sie be- darf; einer Technologie übrigens, die astronomische und ständig wachsende Kosten einschließt, die auf immer weniger Menschen aus- gerichtet ist, und die sich häufig auf Menschen in den letzten Stadien konzentriert. Sie erziehen Ärzte, sich mit seltenen Fällen zu befassen, die man kaum jemals sieht, statt mit all- gemeinen Gesundheitsproblemen.

Sie erziehen ausschließlich für die kurative Medizin und vernachlässi- gen Prävention und Vorsorge".

Der Ruf nach Vorverlegung der ärzt- lichen „Front" in den Bereich der Vorsorge, der Prävention, ist keines- falls neu. Die Feststellung, der Mensch müsse zu einer gesunden Lebensweise veranlaßt werden, und vorbeugen sei besser, als heilen, ist auch in der westlichen Welt mehr als 2000 Jahre alt. Denn schon Platon interpretiert die Heilkunst als das

„Wissen um den gesunden Men- schen" und nicht, wie das meistens geschieht, als Wissenschaft von der Behandlung der Krankheit. Präven- tion und Rehabilitation sind also kei- nesfalls neue Begriffe, sie wurden lediglich von unserer Generation wieder neu entdeckt.

Das gestellte Thema lautet: „Soziale Verpflichtung zu Prävention und Rehabilitation." „Sozial" bedeutet:

die Gesellschaft, die Gemeinschaft betreffend, bedeutet auch: gemein- nützig! Unter Pflicht und Verpflich- tung verstehen wir den Maßstab für das Handeln, der mit Vernunftgrün- den belegbar ist. Kant geht noch weiter. Nach ihm ist wirklich wertvoll nur ein Handeln, das durch die Pflicht motiviert ist.

Die Beteiligten

Für welchen Personenkreis gilt die- se soziale Verpflichtung zur Präven- tion und Rehabilitation? Das sind im wesentlichen fünf Gruppen:

1. der Staat als Gesetzgeber, des- sen Aufgabe es ist, durch entspre- chende Verordnungen und Vor- schriften für die Gesundheit seiner Bürger — auch in Form von Präven- tion und Rehabilitation — Sorge zu tragen;

2. die ausführenden Behörden, vom Gesetzgeber beauftragt, diese Ver- ordnungen in die Praxis umzu- setzen;

3. der Bäderverband, die Heilbäder und Kurorte, wie Privatunternehmer, in deren Häuser diese Maßnahmen durchgeführt werden;

4. der Arzt, der Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen einleitet und durchführt;

5. der Betroffene selbst, der Mensch, für dessen Wohlergehen und Gesunderhaltung dies alles ver- anlaßt wird.

Die Frage, um die es vordergründig geht, ist: Werden alle Beteiligten ih- rer Aufgabe gerecht, kommen sie ih- rer sozialen Verpflichtung zu Prä- vention und Rehabilitation auch wirklich nach? Welche Möglichkei- ten einer Änderung, einer Verbesse- rung — falls nötig — gibt es?

Für den Staat ist es oft schwierig, auf diesem Sektor die richtige Rela- tion zu finden. Er soll es vielen — praktisch allen — recht machen und dabei keinen zu sehr belastän. Er tat dies bisher mit wechselndem Erfolg, hatte allerdings in letzter Zeit dabei nicht immer die glücklichste Hand:

1. In der hundertjährigen Geschich- te der Sozialversicherung dauerte es immerhin achtzig Jahre bis der Ge- setzgeber beim größten Versiche- rungszweig, der gesetzlichen Ren- tenversicherung, Prävention und Rehabilitation als die wichtigsten Maßnahmen an die Spitze des Auf- gabenkatalogs stellte. Im Neurege- lungsgesetz von 1957 wurde erst- mals als gesetzliche Prämisse fest-

gehalten: Rehabilitation geht vor Rente, und Präventionsmaßnahmen sind bei bedrohter Erwerbsfähigkeit

— in gesetzlichem Auftrag — durchzu- führen. Hier hat der Gesetzgeber seine Aufgabe hervorragend erfüllt.

2. Das Reformgesetz von 1972 öff- nete die Rentenversicherung auch für Selbständige und Hausfrauen.

Neben den Vorzügen der dynami- schen Rente wurde — als Anreiz zum Beitritt — vor allem die Möglichkeit der „kostenlosen" Prävention und Rehabilitation schon nach 60 Bei- tragsmonaten in den Vordergrund gestellt.

3. Wie die Bundesregierung dieser eingegangenen sozialen Verpflich- tung nachkommt, zeigt das am 1.

Juli 1977, also bereits fünf Jahre da- nach erlassene sogenannte „Ko- stendämpfungsgesetz". Unter der publikumswirksamen These „mehr Beitragsgerechtigkeit" wurden — so ganz nebenbei — zwei große Perso- nengruppen von der Prävention und Rehabilitation praktisch völlig aus- geschlossen, und zwar ausgerech- net diejenigen, denen der Staat be- sonders verpflichtet gewesen wäre:

seine eigenen „Diener", die Beam- ten, und die nicht berufstätigen Müt- ter, besonders die mehrerer Kinder.

Für erstere wurde die Möglichkeit einer Prävention oder Rehabilitation durch die Rentenversicherung ein- fach gestrichen, sogar wenn die gro- ße Wartezeit von 15 Jahren zurück- gelegt war und eigene Beiträge ge- leistet wurden. Für den Beamten gibt es nur noch die Beihilfekur. Und hier bezahlt die Behörde nur die niedrigsten Sozialsätze, was de fac- to einem Drittel der Kosten gleich- kommt. Die restlichen zwei Drittel hat er selbst zu begleichen, denn die Privatkassen beteiligen sich hier nicht. So bleibt für den Vater mehre- rer Kinder meist nur die Alternative:

Verzicht auf die Kur, gleichviel, ob er einen Infarkt erlitten oder eine schwere Operation durchzustehen hatte. Eine eigenartige Auslegung der sozialen Fürsorgepflicht!

Nicht berufstätigen Müttern, die kei- ne 180 Beitragsmonate vorweisen

3052 Heft 46 vom 15. November 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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können — das sind in der Regel die Mütter mehrerer Kinder — steht eine Rehabilitationsmaßnahme nur dann offen, wenn Berufs- oder Erwerbs- unfähigkeit direkt droht, wenn es al- so nach ärztlicher Erfahrung eigent- lich zu spät ist. Präventivkuren, also gesundheitserhaltende oder krank- heitsverhütende Maßnahmen, blei- ben für sie verschlossen, so be- stimmt es dieses Gesetz. Die weni- gen Kassenkuren fallen auch hier kaum ins Gewicht.

Fazit beim Staat: Er dürfte seine so- ziale Verpflichtung zur Prävention und Rehabilitation durchaus ernster nehmen und sollte diese offenkundi- gen Fehlleistungen umgehend ab- bauen. Dies sollte ihm um so leichter fallen, als er seiner Verpflichtung auf dem Sektor der Forschung in die- sem Bereich in vorbildlicher Weise nachkommt.

Deutlich positiver ist die Bilanz der ausführenden Behörden — hier der Rentenversicherung. Sie hat ihre so- ziale Verpflichtung immer schon sehr ernst genommen. Das zeigt im besonderen ihre Pioniertat bei der Bekämpfung der Tuberkulose be- reits um die Jahrhundertwende. Oh- ne jeden gesetzlichen Auftrag baute sie Sanatorien zur Behandlung die- ser damals wichtigsten und gefähr- lichsten Volksseuche, und es ist überwiegend ihr Verdienst, daß die Tuberkulose heute fast ausgerottet ist. Diese anfänglich freiwillig und aus eigenem Antrieb übernommene Aufgabe wurde später der Renten- versicherung vom Staat einfach als Pflichtleistung oktroyiert. So leicht entledigt sich der Gesetzgeber zu- weilen einer ihm zukommenden Ver- pflichtung.

Vor 1957 war eine Rehabilitation unspezifischer Erkrankungen nur im Rentenzusammenhang möglich.

Präventivkuren waren bis dahin aus- geschlossen. Das neue Gesetz brachte nun erstmals Präventions- maßnahmen als gesetzliche Aufgabe für die Rentenversicherung und durch die Leitlinie „Rehabilitation vor Rente" eine enorme Ausweitung des Aufgabenkatalogs. Die Renten- versicherung unterzog sich diesen neuen Aufgaben mit großem Enga-

gement. Daß ursprünglich nicht al- les ganz glatt lief, sollte man ihr nicht anlasten. Die Entwicklung und Einführung neuer Therapieformen, wie der Terrainkur nach Beckmann!

Örtel, und der klinischen Kur nach Klepzig, fanden vor zehn Jahren ei- nen vorläufigen Höhepunkt durch das sogenannte Anschlußheilverfah- ren. Namhafte Wissenschaftler se- hen in ihm eine der wichtigsten Neuerungen der letzten Jahrzehnte auf dem Rehabilitationssektor.

Die Forcierung der Gesundheitser- ziehung, der Raucherentwöhnung, wie der Versuch einer selbstkriti- schen Kurerfolgsforschung demon- strieren weiter das Bemühen der Rentenversicherung hier ihrer sozia- len Verpflichtung nachzukommen.

Entscheidend bei allen Gesund- heitsmaßnahmen ist die Frage: Steht das Ergebnis auch in richtiger Rela- tion zum Aufwand?

Heilbäder und Kurorte

3. Recht unterschiedlich war das Engagement des Bäderverbandes und der in ihm zusammengeschlos- senen Heilbäder und Kurorte. Sie übten über Jahrtausende hindurch eine wichtige Funktion bei Präven- tion und Rehabilitation aus, auch wenn diese — je nach Zeitgeist und Mode — erheblichen Schwankungen unterlag. Und nur zu gerne überlie- ßen sie über lange Perioden das Ter- rain einfach dem Brunnengeist.

Auch in den ersten Dezennien nach dem Zweiten Weltkrieg kamen sie ihrer sozialen Verpflichtung nur sehr zögernd nach. Das lag sicher nicht an den Kurdirektoren; man findet selten einen Berufsstand, der wichti- gen Neuerungen gegenüber so auf- geschlossen ist wie dieser. In die- sem Zusammenhang sind auch eini- ge private Unternehmer zu nennen, die durch ihr mutiges Engagement der Prävention wie der Rehabilita- tion entscheidende positive Impulse gaben. Und — wie in Zeiten der Hochkonjunktur üblich — wurden dann von öffentlichen wie privaten Trägern, die den sozialen Auftrag allzu wörtlich auf sich bezogen, zu viele Sanatorien und Kurkliniken gebaut.

Der Deutsche Bäderverband, eine der tragenden Institutionen, wurde sich erst relativ spät seiner sozialen Verpflichtung bewußt. Er hat es über Jahrzehnte versäumt, die so wichti- gen Kontakte zu den kurdurchfüh- renden Stellen, der Kranken- und Rentenversicherung zu knüpfen und zu pflegen. So hätte eine frühzeitige Koordinierung vermutlich eine Kün- digung vieler Betten in den Kurorten verhindern können. Auch die bal- neologische Forschung, doch die tragende Säule des Bäderwesens, wurde in den Jahren der Prosperität von ihm sträflich vernachlässigt. In letzter Zeit zeichnet sich nun ein er- freulicher Wandel ab. Von der Veröf- fentlichung der „Grundsätze für ei- ne zeitgemäße Behandlung in den Heilbädern und Kurorten" im Jahr 1969 über die 1977 in Kraft getrete- nen „Richtlinien für die Gesund- heitserziehung" bis zur engen Kon- taktaufnahme mit der Rentenversi- cherung, bemühen sich der Bäder- verband und seine Mitglieder, ihrer sozialen Verpflichtung gerecht zu werden. Einer Verpflichtung übri- gens, die für die Kneippheilbäder schon deshalb eine Selbstverständ- lichkeit darstellte, weil dies ja immer schon wesentlicher Bestandteil der Lehre Kneipps und damit auch der von ihm konzipierten Therapieform war.

Besondere Rolle der Ärzte 4. Eine besondere Rolle bei Präven- tion und Rehabilitation kommt den Ärzten zu.

Derzeit wird die gesundheitliche Versorgung unserer Bevölkerung durch drei medizinische Systeme si- chergestellt:

> ambulant, durch den niederge- lassenen Arzt;

> stationär, im Krankenhaus und

> durch die kurörtliche Behand- lung.

Neben den zwei ersten traditionellen Versorgungssystemen gewinnt das dritte, die Behandlung im Kurort, im- mer mehr an Bedeutung. Ursachen

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 46 vom 15. November 1979 3053

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Prävention und Rehabilitation

dieser veränderten Therapiekonzep- tion ist ein Panoramawandel im Krankheitsgeschehen der letzten Jahrzehnte. Sogenannte Zivilisa- tionskrankheiten, mit schleichen- dem, chronischem Verlauf, die mit den bisher üblichen Mitteln der Me- dizin nicht in den Griff zu bekom- men sind, schieben sich immer mehr in den Vordergrund, an ihrer Spitze der Infarkt und die Gefäßerkrankun- gen, das Karzinom, die Bronchitis, die Leberzirrhose und die Ver- schleißerscheinungen der Wirbel- säule und Gelenke.

Die Frage, welche Therapieform für das veränderte Krankheitsgesche- hen die bessere sei, hat das Lager der Ärzte lange Jahre in zwei Lager gespalten, in Befürworter und Geg- ner der Kur.

Für jeden ärztlich Tätigen muß es selbstverständliche soziale Pflicht sein, mit dafür Sorge zu tragen, daß medizinische Fehlleistungen abge- baut und ausgemerzt werden. Das sollte aber — schon mit Rücksicht auf den ärztlichen Stand — in sachli- cher Weise geschehen. So hat bei- spielsweise Albert Schretzenmayr durch seine zwar oft drastische, aber insgesamt konstruktive Kritik viel dazu beigetragen, vorhandene Fehler zu beseitigen und vor allem die Kur-Erfolgsforschung voranzu- treiben. Wenn aber ein Kranken- hausarzt behauptet: „Wir haben bei jahrzehntelang durchgeführten Kontrolluntersuchungen nach ver- ordneten Kuren und Heilverfahren kaum einmal eindeutige oder gar anhaltende Kurerfolge gesehen", dann sollte er zunächst einmal dar- über nachdenken, ob es nicht viel- leicht an seiner Untersuchungstech- nik liegt.

Erfreulicherweise teilt die Großzahl der Kassenärzte diese Meinung nicht, sondern nimmt ihre Verpflich- tung auf diesem Sektor sehr ernst.

An was es bei ihnen leider allenthal- ben fehlt, das ist ein umfassendes Wissen um die Möglichkeiten der Prävention und Rehabilitation durch die Sozialversicherung. Hier besteht die wichtige soziale Verpflichtung für die ärztlichen Standesorganisa-

tionen und Körperschaften, dies nachzuholen. Die Krankenhausärzte werden — besonders seit Einführung der Anschlußheilverfahren — ihrer Aufgabe auf diesem Sektor gerecht.

Eine bessere sozialmedizinische Schulung der jüngeren Ärzte ist je- doch dringend nötig.

Jedes Bad ist so gut wie seine Ärzte!

Dieser alte Spruch gewinnt gerade in unserer Zeit immer mehr an Ge- wicht. Daß der Kurarzt über fundier- te Kenntnisse im ganzen Indika- tionsbereich seines Heilbades ver- fügt, ist ebenso selbstverständlich, wie das Vertrautsein mit den allge- meinen balneologischen Begriffen und den speziellen Anwendungen am Kurort selbst. Dies ist durch ent- sprechende Ausbildungsvorschrif- ten weitgehend gewährleistet. Was heute in der Allgemeinpraxis und im Krankenhaus zu kurz kommt oder überhaupt nicht stattfindet, ist das Gespräch mit dem Arzt. Gerade aber das ist ein ganz wichtiges Therapeu- tikum, darauf wartet der Kurpatient;

ist doch heute fast jeder ein Pro- blempatient. Hier liegt die besonde- re soziale Verpflichtung des Kurarz- tes, hier liegen aber auch seine größten Erfolgschancen. Die Infor- mation über Art und Wirkungsmo- dus der verordneten Behandlung macht aus dem passiven einen akti- ven Patienten und steigert so die Aussicht für einen guten Präven- tions- oder Rehabilitationserfolg.

Die Rückkoppelung zum Bürger fehlt

Meinungsumfragen haben ergeben:

Das Gesundheitsinteresse der Be- völkerung ist groß. Das Gesund- heitswissen ist begrenzt. Das Ge- sundheitsverhalten ist schlecht.

Die Gesundheitsvorsorge ist derzeit das mißverständlichste Gebiet der Medizin. Bei einer Befragung, die Tobiasch durchführte, erklärte jeder zweite Arzt, er halte wenig von ei- nem präventiv-medizinischen Kon- zept, das eine aktive Mitarbeit des Patienten erfordert. Leider hat die Präventivmedizin tatsächlich noch keinen richtigen Bezug zum Bürger gefunden, einfach deshalb, weil die

Erziehung derzeit offensichtlich in falschen Händen liegt. Erziehung muß beim Kind einsetzen, eine wie- derholt aufgestellte Forderung, de- ren permanente Nichtachtung aus- gerechnet durch die Pädagogen die gesamte Präventivmedizin in Frage stellt. Christian von Ferber hat die Situation beim Erwachsenen sehr treffend so dargestellt: „Die still- schweigende Übereinkunft, den Ge- sundungswillen des Patienten naiv vorauszusetzen oder ihn entbehrlich zu machen, muß notwendigerweise bei diesem die Vorstellung erwek- ken, die Therapie des Arztes müsse alles leisten, seine eigene Mitwir- kung sei in der Tat entbehrlich." Der Patient, insbesondere der Kurpa- tient, übernimmt diese Ansicht um so lieber, als sie ihn von jeder Eigen- initiative und Aktivität entbindet.

Beim Prämorbiden fehlt zudem der Leidensdruck, der den organisch Kranken zum Mittun motiviert.

Nun wird in unserer rein nach kom- merziellen Gesichtspunkten ausge- richteten Industriegesellschaft para- doxerweise ein gesundheitsfördern- des Verhalten nicht belohnt. So schreibt F. Recknagel: „Das Sozial- versicherungssystem bietet unein- geschränkten Schutz auch dem, der seine Gesundheit leichtfertig oder sogar mutwillig ruiniert. Aktive Be- mühungen um die Erhaltung der Ge- sundheit und der Arbeitskraft wer- den nicht nur in keiner Weise hono- riert, sondern durch verlorene Bei- träge noch bestraft." Tatsächlich ist bis heute in keinem Gesetz der So- zialversicherung von einer Pflicht die Rede, darum bemüht zu sein, sich gesund zu erhalten, nirgends sind Sanktionen vorgesehen gegen den, der sich nicht daran hält. Dabei wäre es nur verständlich, wenn die Gesellschaft die erwiesenermaßen selbstverschuldeten Gesundheits- störungen nicht mehr von der Allge- meinheit bezahlen ließe. Aber das gilt heute als „unsozial", obwohl dies höchst sozial wäre!

Es wäre sicher falsch, alle Menschen über einen Kamm zu scheren. Ein beachtlicher Teil bemüht sich, zu Hause und während der Präventiv- wie der Rehabilitationsmaßnahme

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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seiner sozialen Verpflichtung nach- zukommen. Der eigentliche Sinn ei- ner solchen Maßnahme besteht nicht allein in der relativ kurzzeiti- gen Umstellung des Organismus, sondern vielmehr in der Erzeugung einer Motivation beim Patienten, die dann sein Leben umstellt.

.,.. Diese Motivation könnte eine aufzubringende Eigenleistung si- cher steigern, gleichzeitig würde schon beim Antrag die "Spreu vom Weizen" gesondert werden, indem dann nur wirklich motivierte zur Kur kommen. Diese "Opferbereitschaft"

wäre allein schon ein guter Grad- messer der zu erwartenden Aktivität.

Alternativen

Eine gute Alternative, das soziale Engagement der Beteiligten weiter zu fördern, wäre das Schließen der zwischen den verschiedenen thera- peutischen Instänzen noch beste- henden Lücken. Eine "therapeuti- sche Lücke", nämlich die zwischen Klinik- und Kurbehandlung, konnte durch die Initiative einiger LVA-Ärz- te in Form des Anschlußheilverfah- rens bereits geschlossen werden. Für die Phase nach der Rehabilita- tionskur war dies bisher nicht ge- währleistet.

Nunmehr zeigen sich in den überall entstehenden sogenannten Koro- narclubs für Infarktpatienten erste positive Ansätze, die bei Ausweitung auch auf andere Indikationen eine Erreichung des gesteckten Zieles in greifbare Nähe rücken. Hier wird beim Zusammenwirken von Kas- sen-, Kur- und Sportärzten, von Kneipp-Bund, Versicherung und Pa- tienten erstmalig gemeinsam eine ernstgenommene, vorbildliche so- ziale Verpflichtung zur Prävention und Rehabilitation praktiziert, die uns für die Zukunft begründete Hoff- nung gibt.

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. Eugen K. Wannenwetsch Fakultät für Medizin der

Technischen Universität München Thanellerstraße 5

8900 Augsburg

Dritter Familienbericht -

ein Dokument der Hilflosigkeit

Ferdinand Oeter

Einer Aufforderung des Deutschen Bundestages vom 23. Juni 1965 ent- sprechend ist die Bundesregierung verpflichtet, in regelmäßigen Zeitab- ständen Berichte über die Lage der Familien in der Bundesrepublik vor- zulegen. Zur Erarbeitung der Unter- lagen und zur Erstellung der Berich- te ist jeweils eine Kommission mit bis zu sieben Sachverständigen ein- zusetzen. Jeder Bericht wird mit ei- ner Stellungnahme der Bundesre- gierung dem Bundestag vorgelegt und anschließend veröffentlicht. Im jetzt vorliegenden Dritten Familien- bericht wird das Schwergewicht auf die Darstellung der wirtschaftlichen Lage der Familien, die Bedeutung der Familie für den Bildungsweg der Kinder sowie- wohl durch den dra- stischen Geburtensturz alarmiert - auf die Darstellung der Familie im Zusammenhang mit der Geburten- entwicklung gelegt.

Übereinstimmend betonen Kommis- sion und Bundesregierung ihr star- kes Interesse an funktionsfähigen Familien. ln der Frage, wie diese Funktionsfähigkeit erhalten bzw. ge- stärkt werden soll, weichen die bei- den Auffassungen jedoch erheblich voneinander ab. Dies gilt vor allem hinsichtlich der Einkommenssitua- tion von Mehrkinder-Familien, die von der Kommission skeptisch, von der Bundesregierung dagegen sehr optimistisch beurteilt wird.

Vor allem kritisiert die Bundesregie- rung di~ von der Kommission gege- bene Definition des Begriffes Armut.

Ihr mißfällt offenbar, daß die Kom- mission zwischen "primärer Armut"

(nicht gesichertes, physisches Exi- stenzminimum), "sekundärer Ar- mut" (die- angeblich- in allen Ein- kommensschichten mögliche sub- jektive Wertung, daß der tatsächli- che Lebensstandard dem als ange-

messen angesehenen nicht ent- spricht) und "tertiärer Armut" (das Unterschreiten eines sozial- und gesellschaftspolitisch bestimmten Mindestlebensstandards) unter- scheidet. Sie halt daher der Kom- mission entgegen "wenig sinnvoll erscheint ein Armutsbegriff, der auf subjektive Vorstellungen abhebt. Ei- nen Mangel empfinden bzw. sich ,arm' fühlen und ,arm' sein, sind zwei verschiedene Dinge. ln der so- zialpolitischen Diskussion sollte mit dem Begriff der sekundären Armut daher nicht operiert werden". Hier wird aber von der Bundesregierung geflissentlich übersehen oder viel- leicht auch bewußt vertuscht?-, daß unsere Verteilungsordnung in stärk- stem Maße durch Aufwendungen für Kinder geprägt und verändert wird. Dadurch kommt es zu ökonomi- schen Diskrepanzen zwischen fami- lienmäßig Ungebundenen und Fami- lien mit mehreren Kindern, die viel- fach erheblich stärker als die Ein- kommensunterschiede zwischen Sozialklassen zu Buche schlagen. Mit anderen Worten: Das Lebenshal- tungsniveau von Familien mit meh- reren Kindern liegt vielfach weit un- ter dem von Kinderlosen mit sehr viel niedrigerem Nominaleinkom- men. Das hierzu im Gutachten vor- gelegte Zahlenmaterial verdient be- sondere Beachtung.

Ökonomische Zwänge

in der Wohlstandsgesellschaft Nach Auffassung der Gutachter, der voll zuzustimmen ist, besteht "das Problem der privaten Daseinsvor- sorge in einer Wohlstandsgesell- schaft weniger darin, mit der Knapp- heit der verfügbaren Güter ein Exi- stenzminimum zu sichern (Mangel- wirtschaft), sondern vielmehr in der Aufgabe, unter der Vielfalt der mög-

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