A-1568 (90) Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 23, 7. Juni 1996 Daß Heinz Dürr, Chef der
Deutschen Bahn (DB), ein Prosastück von Stefan Na- dolny öffentlich vorliest, ist ungewöhnlich. Wenn er es jetzt tut, tut er es für seine al- lerorten gepriesene, doch we- nig benutzte Bundesbahn.
Im Berliner Literaturhaus in der Fasanenstraße gab es vor laufenden Kameras eine Premiere: DB und die „Stif- tung Lesen“ vereinbarten un- ter dem (keineswegs neuen) Slogan „Reisezeit ist Lese- zeit“ eine „Partnerschaft fürs Lesen“. Diese Liaison soll Produkte wie „wissenschaft- liche Veranstaltungen über die Bedeutung des Lesens im Multimedia-Zeitalter sowie populäre Projekte zur Lese- förderung“ zeitigen. Nur geübte Leser könnten im Zeitalter der Hochtechnolo- gie mit Computern kreativ arbeiten, angesichts der Info- Schocks auf den Daten- Rennstrecken. DB-Mitarbei- ter sowie Kunden müßten
„zum Lesen ermuntert“ wer- den.
Hilmar Hoffmann, Chef der „Stiftung Lesen“, las eine Bahngeschichte von Peter Bichsel vor und beschwor die Informationsgesellschaft als
„Stunde des Lesers“. Als epo- chale Entdeckung verkündet man, das Bahnfahren sei die
„leserfreundlichste Form des Reisens“. Ergo sollen „Li- terarische Zugbegleiter“ her.
Das sind nicht etwa Autoren mit Schaffnerhut, sondern Druckwerke, die „auf An- schauenswertes links und rechts der (durchfahrenen) Bahnstrecken hinweisen“.
Man will „mit Goethe Hessen und Thüringen, mit Fontane die Mark Brandenburg ent- decken“ – und mit Heine das winterliche Deutschland.
Bahnhöfe sollen „Kultur- Treffpunkte“ werden. Ein jährlich zu vergebender Preis für besondere „Leseförde- rungs-Aktivitäten“ wurde
kreiert. Bernd Juds
V A R I A FEUILLETON
Wenn Städte und Gemein- den nach dem Prinzip der Kostendeckung arbeiten würden, dann müßten die Bürger für die Nutzung öf- fentlicher Einrichtungen oft- mals wesentlich tiefer in die Tasche greifen. Ein Kursus in der Volkshochschule bei- spielsweise müßte mehr als dreimal so teuer sein, eine Theaterkarte achtmal so teuer, wenn die Aufwendun- gen mit den Kursusge- bühren oder den Eintritts- preisen gedeckt werden soll- ten. Es gibt allerdings Grün- de, warum die Städte und Gemeinden vor allem bei kulturellen Einrichtungen erheblich zuschießen; deren Angebot soll nämlich auch jenen Bürgern zugänglich sein, die nur über geringe Einkünfte verfügen. Anders sieht die Rechnung bei den kommunalen Entsorgungsunternehmen aus. Dort gilt das Verursacherprinzip.
Das heißt: Die Kosten werden denen aufgebürdet, bei denen der Unrat anfällt.