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Archiv "Gewaltprävention: Sprechen statt schießen" (10.05.2002)

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für eine frühzeitige Substitution ausrei- chen, das komplizierte Antragsverfah- ren soll in ein Anzeigeverfahren geän- dert werden, und auch die psychosozia- le Begleitung soll von den Kassen un- terstützt werden.

„Die Krankenkassen sind aufgefor- dert, die neuen Richtlinien auch für die ambulante Substitution von Kassen- patienten anzuerkennen und ihren Wi- derstand gegen eine Aufhebung der fachlich überholten Richtlinien des Bundesausschusses aufzugeben“, be- tont Dr. med. Manfred Richter-Reich- helm, Vorsitzender der Kassenärztli- chen Bundesvereinigung (KBV), die gemeinsam mit der Bundesärztekam- mer die Richtlinien formuliert hat.

„Ziel muss es sein, die Hilfe für solche chronisch kranken Menschen nicht bürokratisch zu erschweren, sondern die Qualität der Behandlung zu verbes- sern“, appelliert der KBV-Vorsitzende an die Krankenkassen.

Suchtmedizinische

Qualifikation ab Juli gefordert

Auf die substituierenden Ärzte kom- men in den nächsten Wochen weitere Veränderungen zu. Ab 1. Juli ist die neue Qualifikation „Suchtmedizinische Grundversorgung“ vorgeschrieben. Da- mit soll die Qualität der Substitutions- behandlungen gesichert und verbessert werden. Die Landesärztekammern bie- ten Kurse nach dem Curriculum der Bundesärztekammer an und haben meist auch Übergangsbestimmungen geschaffen. Damit wird ein Teil der Betäubungsmittel-Verschreibungsver- ordnung vom Juli 2001 umgesetzt.

Gleichzeitig startet die Arbeit des bundesweiten Substitutionsregisters. Ab 1. Juli müssen alle Ärzte, die Substituti- onsmittel verschreiben, dies anonymi- siert an das Bundesinstitut für Arznei- mittel und Medizinprodukte (BfArM) melden. Mehrfachsubstitutionen sollen dadurch ausgeschlossen und eine bun- desweite Substitutionsstatistik erstellt werden. Die Ärztekammern informie- ren das BfArM über die Ärzte, die die Qualifikationsanforderungen erfüllen.

Die Berechtigung zur Substitution kann somit durch das Institut kontrolliert werden. Dr. med. Eva A. Richter

P O L I T I K

A

A1266 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 19½½½½10. Mai 2002

U

nfassbar“, „sinnlos“, „abscheulich“

sind Worte, die angesichts der Blut- tat im Erfurter Gutenberg-Gymna- sium am häufigsten verwendet werden.

Was ist das für ein krankes Hirn, das blindwütig in einer Schule um sich schießt, erst 16 Menschen tötet und dann sich selbst richtet? Ist das noch ein Mensch? So oder ähnlich lauten in diesen Tagen Fragen nach Hintergrund oder Motiv des Täters. Die Art zu fragen liefert jedoch Antworten, die mög- lichst große Distanz gegenüber jenen schafft, die zu solchen Taten fähig sind.

Entmenschlichung des Täters bringt zwar kurzfristige Erleichterung für die ohnmächtigen Zeitzeugen, langfristig aber keinerlei Klarheit, geschweige denn Strategien gegenüber dem Phä- nomen Gewalt. Dass der Umbau von Schulen in Festungen kein Allheilmittel gegen blindwütigen Hass ist, hat sich auch auf ministerialer Ebene herumge- sprochen.

Doch was ist zu tun gegen zu- nehmende Gewalt und auch Gewaltbe- reitschaft an den Lehr- und Lerneinrich- tungen? „Sprechen statt prügeln“, sagt Prof. Dr. med. Manfred Cierpka, Abtei- lung für psychosomatische Koopera- tionsforschung und Familientherapie, Universität Heidelberg, und verweist auf

„Faustlos“, sein Curriculum zur Ge- waltprävention an Schulen.

Fußend auf der Erkenntnis, dass Gewalt ein allgemein gesellschaftliches Phänomen ist, hat er mit seinem Pro- jektteam das amerikanische Programm „Second Step“

vom Committee for Chil- dren, Seattle, adaptiert und zu einem Unterrichtsfach für deutsche Grundschulen entwickelt. Mit verblüffen-

dem Erfolg: Kinder, die an dem Faustlos- Projekt an Schulen in den vergangenen drei Jahren teilnahmen, konnten ihre Ängste besser bewältigen, ihre Gefühle deutlicher zum Ausdruck bringen und Probleme konstruktiver lösen als Kinder, die an den gleichen Schulen am Regel- unterricht teilgenommen hatten. Ag- gressives Verhalten und das Ausmaß an Verhaltensauffälligkeiten wurden deut- lich reduziert. Das geht aus der wissen- schaftlichen Untersuchung des Projekts Faustlos hervor, die jetzt abgeschlossen wurde.

Gewalttätige Kinder werden immer jünger

Das klingt nach einem Stück heiler Welt inmitten einer Gesellschaft, die sich mit Gewalt und Gewaltbereitschaft ausein- ander setzt. Denn häufig genug ist es blinder Aktionismus, der die Debatte gegen Ausschreitungen dominiert. Hier eine Gesetzesänderung oder -verschär- fung, dort weitere Auflagen für Eltern und Lehrer. Cierpka hingegen bemüht sich, mit Faustlos dort anzusetzen, wo Regelunterricht und Eltern versagen, vielleicht sogar versagen müssen. Denn der schulische Druck, Unterrichtsziele auch in Klassen mit zunehmend verhal- tensauffälligen Kindern zu erreichen, nimmt zu. Der el- terliche Zwang, sich in ei- nem immer flexibler wer- denden Berufsalltag immer weniger um die Kinder küm- mern zu können, lässt die- se mit ihren Bedürfnissen, Wünschen und Sorgen häu- fig allein. Aufgrund man- gelnder Zuwendung und Anleitung werden Verhal-

Gewaltprävention

Sprechen statt schießen

„Faustlos“ – ein Curriculum zur Gewaltprävention an Grund- schulen – weist nach dreijähriger Evaluation erstaunliche Erfolge auf: Aggressives Verhalten und Verhaltensauffälligkeit konnten deutlich verringert werden.

Informationen zu

„Faustlos“:

Abteilung für Psycho- somatische Kooperati- onsforschung und Fa- milientherapie, Prof.

Dr. Manfred Cierpka, Telefon:

0 62 21/56 47 01, Fax:

0 62 21/56 47 02, E- Mail: faustlos@med.

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tensweisen adaptiert, die stressgeplagte Eltern, Lehrer und allzeit bereite Vi- deos oder Spiele vorleben. Gewalt – psychische wie physische – als letzte, aber immerhin mögliche Instanz. So sei die Kinder- und Jugendkriminalität in den vergangenen drei Jahren um ein Drittel gestiegen, sagt Cierpka. Nicht aggressive Handlungen, sondern Qua- lität und Schärfe der Gewalttätigkeiten an Schulen haben zugenommen. Zudem rutsche das Einstiegsalter in die Ge- walttätigkeiten immer weiter nach unten.

Beinahe täglich notieren Medien, dass Neun-, Zwölf- oder Fünfzehnjährige Gleichaltrige bedrohen und verprügeln.

Nicht ohne Folgen: „Zwei Drittel bis drei Viertel aller Lehrer fühlen sich überlastet“, sagt Cierpka und bezieht sich auf Studien der Freien Universität Berlin und der Universität Potsdam. Ein- mal ausgebrannt, seien Lehrer kaum in der Lage, zusätzliche Aufgaben zu über- nehmen. Mit Faustlos wird deshalb auch keine Umwälzung des Grundschulbe- triebs angestrebt. Wohl aber sollen Leh- rer als Erzieher in die Pflicht genommen werden.

Die Faust wurde zum Symbol. Auch für Ulrike Flachs. Wenn sie, eine der Lehrerinnen, die sich in den vergange- nen drei Jahren an dem Faustlos-Pro- jekt beteiligt haben, die Hand öffnete und wieder schloss, gab sie den Start- schuss für Rollenspiele und Gespräche.

Die Kinder versuchten, Gefühle ande- rer Menschen herauszufinden. Freut sich die Frau auf dem gezeigten Foto, oder ist sie gerade erstaunt? Gemein- sam überlegten sie, wie man Hänseleien von Gleichaltrigen begegnen kann, oh- ne gleich aus der Haut zu fahren. Sie spielten durch, wie sie sich verhalten, wenn sie enttäuscht sind, woher eigent- lich Wut kommt und dachten nach, wie man sich angemessen und erfolgreich beschweren kann. Für die Kinder ist Faustlos ein Spiel. Für Ulrike Flachs ist es ein Curriculum, das die Themenkom- plexe Empathiefähigkeit, Impulskon- trolle und Umgang mit Ärger und Wut behandelt, drei Facetten, die die Nei- gung zu Gewalt als scheinbare Konflikt- lösung fördern oder senken können.

Wenn Manfred Cierpka das Curricu- lum vorstellt, erzählt er gern die Ge- schichte des kleinen Jungen, der aufge- regt in seine Klasse kam. Gerade hatte er

einen alten Mann auf der Straße gese- hen: „Der war aber wütend!“ Hätte der Junge die Empfindungen des Mannes auch ohne Faustlos-Schulung erkannt?

„Vielleicht“, sagt Cierpka. Jedoch seien viele Kinder und Erwachsene gar nicht in der Lage zu fühlen, was in anderen Menschen vorgeht. Denn Empathie sei

keine Tugend, sondern eine Fertigkeit, die zum großen Teil erlernt werden müs- se. Wenn aber Eltern Empathie-Fähig- keit nicht vermitteln könnten, sei es den Kindern fast unmöglich, sie zu ent- wickeln.

Aggression ist stärker als Intelligenz

Das gilt auch für die Impulskontrolle.

Denn Kinder benötigen Vorbilder, die ihnen zeigen, wie man auch heftige Ge- fühle zügeln kann. Umgekehrt müssen sich Kinder nicht zwangsläufig zu Schlä- gern entwickeln, wenn sie zu Hause erle- ben, dass Konflikte nur mit Gewalt be- antwortet werden. Womöglich fehlt ih- nen jedoch der Raum, angemessenes Verhalten zu erlernen. Mit fatalen Fol- gen: Denn „Aggression ist stärker als In- telligenz“, sagt Cierpka. Wie ein roter Faden ziehe sie sich durch das Leben ei- nes Menschen. Wer in seiner Kindheit nicht gelernt habe, mit seiner Aggres- sivität angemessen umzugehen, neigt während des gesamten Lebens zu impul- sivem und vielleicht auch gewalttätigem Verhalten. Cierpka möchte nicht stigma- tisieren. Die Kinder, die mit Faustlos ar- beiten und spielen, werden nicht geou- tet. In der Klasse können potenzielle Tä-

ter und Opfer gleichermaßen von dem Präventions-Programm profitieren. Im- pulsivität und Gewaltbereitschaft sollen vermindert, die soziale Kompetenz der Kinder hingegen soll erhöht werden.

Faustlos hat seine Evaluationsphase hinter sich. Mit verblüffendem Erfolg:

Das delinquente Potenzial der Kinder

in den 30 Faustlos-Klassen wurde deut- lich verringert. In den 14 Vergleichs- klassen, in denen ein Regelunterricht durchgeführt wurde, blieb die Neigung, Probleme mit den Fäusten zu lösen, un- verändert hoch. Cierpka wertet das Projekt, das von seiner Abteilung und der Pädagogischen Hochschule Heidel- berg im Auftrag des Kultusministeri- ums Baden-Württemberg erprobt wur- de, als Erfolg. Ein Erfolg, an dem künf- tig auch andere teilhaben können. Das Curriculum soll der breiten Öffentlich- keit zugänglich gemacht werden. Vom Bundesministerium für Bildung und Forschung wurde es bereits wegen sei- ner „überregional beispielhaften Qua- lität“ ausgezeichnet.

Fraglich bleibt, ob potenzielle Einzel- täter vor ihren Gewalthandlungen ge- stoppt werden können. Manfred Cierpka gibt sich wissenschaftlich zurückhaltend:

Nach der kurzen Zeit könne man bei ei- nem Präventionsprogramm noch nicht von einem Effekt sprechen. Ganz unwis- senschaftlich direkt äußert sich Ulrike Flachs. „Wir sind super damit klarge- kommen“, sagt die Lehrerin und bezieht ihre Klasse gleich mit ein. „Die Kinder sind zwar keine Engel. Ärger gibt es im- mer noch. Aber sie sprechen und überle- gen, anstatt zu prügeln – und das ist ein überwältigender Erfolg.“ Andrea Schneider P O L I T I K

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 19½½½½10. Mai 2002 AA1267

Das Gebäude des Gutenberg-Gymna- siums in Erfurt, in dem ein ehemaliger Schüler Amok lief und 16 Menschen und sich selbst töte- te, ist ein Mahnmal.

Foto: dpa

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