A1582 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 30⏐⏐25. Juli 2008
A K T U E L L
MEDIZINISCHE VERSORGUNG
Paradoxe Entwicklung
Wie wirkt sich der Rückgang der Bevölkerung auf die Nachfrage nach medizinischen Leistungen aus? Eine Studie über die „versor- gungsepidemiologischen Auswir- kungen des demografischen Wan- dels in Mecklenburg-Vorpommern“
belegt, dass die Nachfrage gerade wegen des Bevölkerungsrückgangs steigt. Ursache für eine solche para- doxe Entwicklung ist die Überalte- rung und die damit verbundene Multi- und Komorbidität.
Die Ergebnisse der Studie, zu der sich Wissenschaftler aus Rostock und Greifswald zusammengetan ha- ben, sind bundesweit interessant.
„Wir in Mecklenburg-Vorpommern sind den anderen Ländern um einige Jahre voraus und deshalb beispiel- gebend“, sagte Prof. Dr. med. Peter Schuff-Werner, Vorstandsvorsitzen- der des Universitätsklinikums Ros- tock, bei der Studienpräsentation am 16. Juli in Greifswald. Die Stu- die wurde von der Bundesärztekam- mer gefördert.
Die Einwohnerzahl Mecklenburg- Vorpommerns sinkt. Betrug sie im Jahr 2002 noch 1,74 Millionen, so
waren es 2005 rund 1,7 Millionen;
2020 wird sie bei 1,58 Millionen lie- gen. Fertilität, Mortalität und Migra- tion gingen in die Berechnung ein.
Würde die stationäre Versorgung weiterhin nach dem bettenorientier- ten, statistischen Ansatz berechnet, müsste bis 2020 der Bedarf an Bet- ten im Vergleich zu 2005 auf 92,6 Prozent sinken (–680 Betten). Die Belegungstage müssten von 2,65 auf 2,45 Millionen jährlich zurückge- hen. Tatsächlich aber dürften der Bet- tenbedarf auf 118 Prozent (+1 300 Betten) und die Belegungstage auf 3,13 Millionen steigen. Die Wis- senschftler begründen den Anstieg mit den altersabhängigen Verände- rungen des Krankheitsspektrums.
Sie haben dazu anhand von Daten der diagnosebezogenen Fallpauschalen die Hauptdiagnosen nach Altersklas- sen untersucht und mit dem sich än- dernden Altersspektrum verglichen.
Analog der ambulante Sektor:
Steigende Fallzahlen bei den Volks- krankheiten bis 2020 (Diabetes mel- litus +21,4 Prozent, Myokardinfarkt +28,3 Prozent, Demenz +91,1 Pro- zent, Osteoporose +19,5 Prozent, Schlaganfall +18 Prozent, Dick- darmkrebs +30,7 Prozent) führen zu großem Versorgungsbedarf. Dabei sinkt im selben Zeitraum in Meck- lenburg-Vorpommern die Zahl der niedergelassenen Ärzte: Hausärzte –40,6 Prozent, Neurologen –42,2 Prozent, Gynäkölogen –30,3 Pro- zent, Internisten –24,8 Prozent. An- gesichts dieser Zahlen hält es der Greifswalder Epidemiologe, Prof.
Dr. med. Wolfgang Hoffmann, für unausweichlich, fehlende Hausärzte in der Fläche durch „Schwester Agnes“ (benannt nach dem Pro- jekt Arztentlastende, Gemeindenahe, E-Health-gestützte, Systemische In- tervention = AGnES) und Telemedi- zin zu kompensieren. Schuff-Werner schlug vor, Krankenhauspatienten, die keiner intensien Pflege bedürfen, in Rehakliniken unterzubringen. NJ Die Einwohner-
zahlen sinken, doch der Behand- lungsbedarf steigt.
Schuld sind die Überalterung und die damit verbun- dene Morbidität.
Seit dem 14. Juli hat Deutschland eine Nationale Akademie der Wis- senschaften. Nach jahrelangen De- batten wurde dazu die Deutsche Akademie der Naturforscher Leo- poldina mit Sitz in Halle/Saale er- nannt. Sie soll Politik und Gesell- schaft beraten und die deutsche Wissenschaft in internationa- len Gremien vertreten.
„Der Aufbau einer Nationalen
Akademie ist ein richtungsweisen- der Schritt für die deutsche For- schungslandschaft“, erklärte die Bun- desforschungsministerin, Annette Schavan.
Auf der Agenda der Leopoldina stehen viele medizinische Themen wie das interdis-
ziplinäre Pro- jekt „Chancen
und Probleme einer alternden Ge- sellschaft“ oder „Fertilität und ge- sellschaftliche Entwicklung“. Füh- rend in Europa sind bereits Stellung- nahmen der Leopoldina zum Thema Infektionskrankheiten.
Die Akademie werde alle The- men rein wissenschaftlich und poli- tisch unabhängig bearbeiten, sagte der Präsident der Leopoldina, Prof.
Dr. Volker ter Meulen. Die Leopol- dina, die 1652 in Schweinfurt ge- gründet wurde, ist die älteste medi- zinisch-naturwissenschaftliche Ge- lehrtengesellschaft in Europa und hat ihren Sitz seit 1878 in Halle an der Saale. Von den heute etwa 1 300 Mitgliedern – darunter 32 Nobel- preisträger – stammen 85 Prozent aus der Medizin und den Naturwis-
senschaften. ER
NATIONALE AKADEMIE
Leopoldina wird offizieller Politikberater
Foto:FotoliaFoto:dpa
Seit 1878 mit Sitz in Halle/Saale:Die Leopoldina hat 32 Nobelpreisträger in ihren Reihen.