D
ie Leistungsausgaben der Gesetzli- chen Krankenversicherung (GKV) halten sich seit 25 Jahren im Rah- men. Ihr Anteil am Bruttoinlandspro- dukt (BIP) stieg von 5,84 Prozent im Jahr 1975 auf 6,04 Prozent im Jahr 1998.Der Anteil aller Gesundheitsausgaben am BIP, also auch derjenigen, die über die GKV-Ausgaben hinausgehen, blieb nahezu konstant: statt 13,08 Prozent (1975) betrug er 13,46 Prozent im Jahr 1998.
Das BIP ist in 25 Jahren selbstver- ständlich gestiegen, im Einklang damit die Gesundheitsausgaben; und hinter denen stecken steigende Nachfrage und Leistung, medizinischer Fortschritt und nicht zuletzt ein gewaltiger Beschäfti- gungseffekt. Eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen, als Schlagwort in der Politik geliebt und gefürchtet, wird durch die Zahlen hingegen nicht belegt, wie das Deutsche Institut für Wirt- schaftsforschung (DIW) in einem Gut- achten über die wirtschaftlichen Aspek- te der Märkte für Gesundheitsdienstlei- stungen feststellt.
Dennoch – die Beitragssätze sind seit den 70er-Jahren von gut acht Prozent auf mittlerweile 14 Prozent gestiegen.
Wie das?
Das DIW gibt die ökonomische Er- klärung: Bezieht man die Gesundheits- ausgaben auf die Bruttolohn- und ge- haltssumme, dann steigt deren Quote von 27,25 Prozent (in 1975) auf 34 Pro- zent (in 1998). Das Institut schlussfol- gert: „Die Bemessungsgrundlage für die Beiträge hält offensichtlich nicht Schritt mit der Entwicklung des BIP.“
Die Beiträge der Gesetzlichen Kran- kenversicherung steigen also allein schon deshalb, weil sie sich an den Löh- nen bemessen und das Lohnaufkom- men zurückbleibt. Denn hier gibt es zwei dramatische Entwicklungen: zum einen die anhaltende Arbeitslosigkeit
und schließlich die fortwährend stei- genden Rentnerzahlen, hinter denen vielfach auch verkappte Arbeitslosig- keit steht. Beide Bevölkerungsgruppen tragen wenig zur Finanzierung der Krankenversicherung bei.
Wäre es der derzeitigen Bundesre- gierung gelungen, ihr Versprechen auf mehr Beschäftigung wahrzumachen, dann wäre die Finanzlage der Kranken- versicherung entspannter.
Nun sind wir alle über Jahre damit geschockt worden, die Lohnnebenko- sten seien zu hoch und schädigten den Wirtschaftsstandort Deutschland. Des- halb die Arbeitslosigkeit.
Auch mit dieser Mär räumt das DIW auf: „Die so geäußerten Vermutungen lassen sich empirisch nicht belegen.“ Die Lohnstückkosten (die auch die Lohnne- benkosten umfassen) seien in Deutsch- land sogar „auf einem niedrigeren Pfad verlaufen als in den anderen Ländern“.
Die Lohnentwicklung in Deutschland sei somit nicht als Ursache für fehlende Expansion der Beschäftigung zu identifi- zieren.
Schlussfolgerung aus solchen Unter- suchungen kann es nur sein, die Gesetz- liche Krankenversicherung eigenstän- dig und nachhaltig zu finanzieren – das wäre die wahre Gesundheitsreform.
Die Politiker haben es in Jahrzehnten in- des nicht einmal geschafft, die Verschie- bebahnhöfe zwischen Krankenkassen, Rentenkassen und allgemeinem Haus- halt stillzulegen. Guter Wille war zwar
da, doch die Gesundheitspolitiker haben sich immer den Finanzpolitikern unter- ordnen müssen.
Es geht um größere Beträge. In den letzten zehn Jahren sind der GKV 50 Milliarden DM entzogen worden. Bun- desärztekammerpräsident Hoppe, der unlängst daran erinnerte, fährt fort:
„Das Spiel geht munter weiter. Durch Entscheidungen der rot-grünen Bun- desregierung werden die Kassen jedes Jahr mit weiteren Mehrausgaben von fünf Milliarden DM belastet, um den Bundeshaushalt und die anderen Sozi- alversicherungen zu schonen.“
Im nächsten Jahr wird die Debatte um die so genannte Gesundheitsreform heißlaufen. Die Akteure haben sich in den letzten Monaten in Stellung ge- bracht. Die Finanzierungsprobleme der Krankenversicherung wurden von ih- nen weitgehend ausgeklammert. Statt- dessen werden Überlegungen angestellt, die Leistungen der Krankenkassen wei- ter zu reduzieren und die Leistungserbrin- ger auszupressen. Ei- nige Politiker versu- chen die Gelegenheit zu nutzen, ihre Lieb- lingsideen zu lancie- ren, und preisen das reine Marktmodell oder eine Zentral- verwaltungswirtschaft durch die Kran- kenkassen.
Passieren wird freilich nichts, weil vor der Wahl sich niemand festlegen wird.
Aufgabe aller, denen ein leistungs- fähiges Gesundheitswesen am Herzen liegt, wird es sein, die wahlkämpfenden Politiker auf ihre Versäumnisse in der Arbeitsmarktpolitik hinzuweisen und deren fatale Folgen für die Krankenver- sicherung anzuprangern. Wenn die mal solide finanziert ist, lässt sich über Struk- turreform besser reden. Norbert Jachertz P O L I T I K
Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 1–2½½½½7. Januar 2002 AA11
A
Au us sb blliic ck k
22000022
Die wahre Gesundheitsreform
Nachhaltige Finanzierung
Seit Jahren wird der Gesetzlichen Krankenversicherung Geld entzogen – und niemand regt sich darüber auf, kaum ein Politiker kämpft entschieden gegen die Verschiebebahnhöfe.
„Das Spiel geht munter weiter.
Durch Entscheidungen der rot-grünen Bundesregierung werden die Kassen jedes Jahr mit weiteren Mehrausgaben von fünf Milliarden DM belastet ... .“
Jörg-Dietrich HoppeFoto: Johannes Aevermann