Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 22|
4. Juni 2010 A 1101D
er Patientenbeauftragte der Bun- desregierung, Wolfgang Zöller, plant ein Patientenrechtegesetz mit einer flächendeckenden unabhängigen Patien- tenberatung und einem Fehlermelde - register vorzulegen. Die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme steht hier nicht zur Diskussion. Es geht vielmehr um ihre Finanzierbarkeit.Der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) unterliegt ei- nem dynamischen Prozess. Kontinuier- lich sind neue Leistungen aufgenommen
und damit auch finanziert worden. Die finanzielle Entlastung dagegen durch die Herausnahme obsolet gewordener Leis- tungen ist vergleichsweise gering. Ein solches Ergebnis war so lange tolerabel, wie dieser zusätzliche Finanzbedarf durch Beitragssatzerhöhungen oder Steuerzuschüsse mehr oder weniger gedeckt werden konnte. Diese Zeit ist jedoch vorüber. Es ist nicht zu erwarten, dass wie bisher steigende Ausgaben über Beitragssatzerhöhungen und über Steuerzuschüsse ausgeglichen werden können. Bereits für 2011 wird ein bisher ungedecktes Defizit von mehreren Milli- arden Euro vorhergesagt. Damit fehlt jeder Euro, der in der GKV neu ohne Gegenfinanzierung ausgegeben wird, an anderer und möglicherweise an notwendigerer Stelle.
Diese Situation verlangt ein Umden- ken. Ab sofort muss jede Leistung, die neu aufgenommen werden soll, nach- vollziehbar daraufhin überprüft werden, wie die entstehenden Kosten gegenfi- nanziert werden sollen. Hierfür gibt es zwei Wege: der erste ist ein explizit für neue Leistungen ausgewiesener Steuer- zuschuss, der in den Bundeshaushalt eingestellt werden muss. Das Risiko die- ser Lösung liegt darin, dass der Bundes- tag jeweils neu darüber entscheiden
kann, ob der Zuschuss ganz oder teil- weise weitergeführt oder aber gestrichen werden soll.
Der zweite Weg ist die Prüfung, ob die neu einzuführenden Leistungen andere Leistungen mit gleichem Finanzvolumen obsolet machen mit der Konsequenz, dass diese Leistungen aus dem Leis- tungskatalog herausgenommen werden.
Gibt es diese Möglichkeit nicht, sind die neu einzuführenden Leistungen darauf- hin zu prüfen, ob diese eine höhere Prio- rität haben als die in der GKV vorhande-
nen Leistungen. Es wäre gegebenenfalls dann darüber zu entscheiden, welche dieser Leistungen mit welchem Ein - sparpotenzial aus dem Leistungskatalog herauszunehmen sind. Die hierfür anzu- wendende Methode der Wahl ist die ho- rizontale Priorisierung, die vergleichende Bewertung, die abwägende Beurteilung von Leistungen mit Prioritäten und Pos- teritäten. Das wäre eine methodische Vorgehensweise bei der Finanzierung einer bedarfsgerechten Gesundheits - versorgung bei begrenzten Mitteln.
Die Ehrlichkeit den Versicherten und allen Leistungserbringern gegenüber er- fordert es zu sagen, was in der GKV nicht mehr finanziert werden kann, wenn das Patientenrechtegesetz Wirklichkeit wird.
Schon heute wird eine durch die Finanz - enge der GKV bedingte implizite Ratio - nierung beklagt, die ungerechteste und unsozialste Form von Leistungseinschrän- kungen überhaupt. Es wird auf Unterver- sorgung hingewiesen in der Schmerzthe- rapie, in der Palliativmedizin, in der inten- sivmedizinischen Versorgung und in der bedarfsgerechten Behandlung von Krebs- patienten. In dieser Situation darf es nicht sein, dass aus welchen Erwägungen auch immer von politischer Seite Leistungen in die GKV eingeführt werden, die nicht ge-
genfinanziert sind. ■
KOMMENTAR
Prof. Dr. med. Fritz Beske MPH, Fritz-Beske- Institut für Gesundheitssystemforschung Kiel
FINANZIERUNG DER KRANKENVERSICHERUNG
Priorisieren jetzt!
Menge und Dosierung zuordnet, sie aber von der Preisverantwortung entbindet. Die Regierung hat dazu inzwischen eine Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht, die mindes- tens in die richtige Richtung geht.
Ebenso wichtig ist es, die Ver- sorgungsstrukturen an die veränder- ten Rahmenbedingungen anzupas- sen. Das Bild des Landarztes, der mit der treusorgenden Arzthelferin in seiner Einzelpraxis rund um die Uhr für seine Patienten zur Ver- fügung steht und für den eine 80-Stunden-Woche der Regelfall ist, lockt bestimmt keinen jungen Kollegen oder keine junge Kollegin in die Niederlassung. Wir müssen deshalb auf den Ausbau der Koope- rationen, vermehrte Möglichkeiten zur Teilzeittätigkeit und auch auf Angestelltenstrukturen in der am- bulanten Versorgung setzen. Von besonderer Bedeutung ist dabei das Angebot für den wachsenden Anteil von Frauen im Arztberuf:
Diese fordern zu Recht eine besse- re Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ohne dass ihre Karriere dar- unter automatisch leidet und In- vestitionen in die eigene Praxis unabdingbar erforderlich sind. Fle- xibilität in der Berufsausübung muss daher auch für niedergelasse- ne Vertragsärztinnen und Vertrags- ärzte möglich sein.
Das ist im Übrigen auch ange- sichts der Morbiditätsverdichtung bei gleichzeitigem Bevölkerungs- rückgang in dünn besiedelten, strukturschwachen Gegenden erfor- derlich. Aus diesem Grund muss ebenfalls die heute noch geltende Bedarfsplanung dringend umgestal- tet werden. Auf der Grundlage einer kleinräumigen Versorgungsanalyse unter Einbeziehung der regionalen Morbiditätsprognose müssen dieje- nigen Arztsitze vorrangig besetzt werden, die für die Versorgung die optimale Verbesserung bringen. Da- bei sind ambulante und stationäre Kapazitäten zu berücksichtigen.
Außerdem muss die Möglichkeit zur Filialbildung weiter ausgeweitet werden. Auch dazu hat die Kassen- ärztliche Bundesvereinigung Kon- zepte erarbeitet und vorgelegt. ■ Dr. med. Carl-Heinz Müller Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung