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Archiv "Ohrgeräusche: Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie" (08.06.1989)

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FORTBILDUNG

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Thomas Lenarz Ohrgeräusche

Pathophysiologie,

Diagnostik und Therapie

Im Gegensatz zu den seltenen objektiven Ohrgeräuschen stellen subjektive Ohrgeräusche ein weit verbreitetes Sym- ptom unterschiedlicher Ätiologie dar, dessen Pathophysio- logie bisher nur fragmentarisch geklärt ist, das sich einer diagnostischen Objektivierung bis auf wenige Ausnahmen entzieht und therapeutisch eine Crux medicorum darstellt.

Neue Erkenntnisse der Innenohrphysiologie eröffnen hier aber Perspektiven, die zum Teil therapeutisch nutzbar sind.

1. Epidemiologische und klinische

Gesichtspunkte

Nach epidemiologischen Erhe- bungen unter anderem aus Großbri- tannien haben zirka sechs Prozent der Erwachsenen ein ständig vorhan- denes Ohrgeräusch. Etwa ein Pro- zent der Bevölkerung leidet darunter im Sinn eines eigenständigen Krank- heitsbildes mit sekundären psychoso- matischen Folgeerscheinungen, die bis zur Berufsunfähigkeit führen und den Betroffenen im Einzelfall zum Suizid treiben können.

Primär stellen Ohrgeräusche al- lerdings keine eigenständige Krank- heit dar, sondern sind Symptom ei- ner Funktionsstörung des auditori- schen Systems unterschiedlicher Ätiologie und Lokalisation. Wäh- rend der Hörverlust durch audiomet- rische Methoden häufig objektiviert werden kann, gelingt dies beim Ohr- geräusch selbst nur in wenigen Fäl- len. Es handelt sich hierbei um die sogenannten objektiven Ohrgeräu- sche, die eine vaskuläre oder musku- läre Ursache im Mittelohr oder sei- ner Umgebung haben. Sie sind von pulsierendem öder klickendem Cha- rakter und können vom Untersucher selbst akustisch verifiziert werden.

Dagegen entziehen sich die zah- lenmäßig sehr viel häufigeren sub-

jektiven, als Tinnitus aurium be- zeichneten Ohrgeräusche bisher ei- ner diagnostischen Objektivierung.

Der Betroffene empfindet einen Höreindruck ohne realen akusti- schen Reiz. Der Tinnitus kann nur indirekt über psychoakustische Ver- gleichsmessungen mit Sinustönen und Geräuschen sowie anhand des oftmals begleitenden Hörverlustes charakterisiert werden. Die Ursa- chen sind vielfältig und zum Teil un- geklärt (Tabelle 1). Der Tinnitus au- rium wird, im Unterschied zum Tin- nitus cerebri, in das Ohr lokalisiert, entweder ein- oder beidseitig. Er wird entweder als Rauschen, Zi- schen oder mehr tonal in Form eines Summens, häufiger eines hochfre- quenten Pfeifens angegeben. Beglei- tende Umstände, verstärkende Fak- toren, wie etwa körperliche Bela- stung, Streß, Tageszeit, Blutdruckän- derungen, und Ausmaß des Hörver- lusts fallen individuell sehr unter- schiedlich aus. Sekundäre psychische und vegetative Reaktionen auf diese unangenehme, willkürliche nicht be- einflußbare akustische Wahrneh- mung führen unter anderem zu Schlaf- und Konzentrationsstörun- gen, Angstvorstellungen und depres- Hals-Nasen-Ohren-Klinik (Direktor: Profes- sor Dr. med. Hagen Weidauer), Ruprecht- Karls-Universität, Heidelberg

siven Verstimmungen. Das dekom- pensierte Ohrgeräusch kann so zum ganzheitlichen medizinischen Pro- blem werden (Abbildung 1).

2. Pathophysiologie Jede Klassifikation von Ohrge- räuschen ist auf Grund der lücken- haften pathophysiologischen Kennt- nisse und der grundsätzlichen Schwierigkeiten der Tinnitusfor- schung unvollständig und zum Teil willkürlich. Im folgenden wird eine Einteilung nach anatomischen Ge- sichtspunkten vorgenommen. Trotz ihres hypothetischen Charakters lei- sten pathophysiologische Modelle dennoch wertvolle Dienste bei der Neuentwicklung von Forschungsan- sätzen und von therapeutischen Ver- fahren sowie in der Therapie, indem sie dem Patienten zu einem Ver- ständnis des Tinnitusgeschehens ver- helfen (kognitive Therapie).

2.1 Vaskuläre Ursachen

Bei vaskulären Ohrgeräuschen handelt es sich um rauschende, pulssynchrone Strömungsgeräusche durch extrakranielle oder intrakra- nielle Ursachen (Tabelle 2).

2.2 Muskuläre Störungen Ein Spasmus der Binnenmus- keln des Mittelohres oder ein Palato-

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Abbildung 1: Sekundäre Einflußfaktoren und Folgeerscheinungen bei Ohrgeräuschen

myoklonus mit ruckartigen Öff- nungsbewegungen der Tube führt zu klickförmigen Geräuschen. Ursäch- lich werden extrapyramidal-motori- sche Störungen nach Enzephalitis, Apoplex, Schädelhirntrauma oder Psychopharmakaabusus sowie Ge- fäßschlingen im intrakraniellen Ver- lauf von N. facialis und N. trigeminus genannt.

2.3 Mittelohrkrankheiten Bei akuten und chronischen Entzündungen spielt die Hyperämie der Schleimhaut eine Rolle. Durch Abschirmung des Innenohres gegen- über Umgebungsschall bei Schallei- tungsschwerhörigkeiten werden die- se internen Strömungsgeräusche hörbar. Durch Beseitigung der Schalleitungsstörung verschwindet im allgemeinen auch das Ohrge-

Tabelle 1: Mögliche Ursachen subjektiver Ohrgeräusche (Tin- nitus aurium)

1. Hörsturz

2. Morbus Menire 3. Akutes Lärmtrauma 4. Lärmschwerhörigkeit 5. Presbyakusis

6. hereditäre sensorineurale Schwerhörigkeit

7. Schädelhirntrauma mit/oh- ne Felsenbeinfraktur 8. Akustikusneurinom 9. Intoxikationen mit Chinin,

Acetylsalicylsäure, Diure- tika, Aminoglykosidanti- biotika

10. immunogene Innenohr- schwerhörigkeit

11. sensorineurale Schwerhö- rigkeit unklarer Genese 12. Otosklerose

13. Herz-Kreislauf-Krank- heiten

14. Stoffwechselkrankheiten 15. Nierenkrankheiten 16. ZNS-Krankheiten

17. degenerative Veränderun- gen und funktionelle Blok- kierungen der Halswirbel- säule

18. Myoarthropathie des Kie- fergelenks

räusch, außer es liegt eine cochleäre Komponente wie bei der Otosklero- se vor.

2.4 Cochleäre Läsionen

In den letzten Jahren wurden wichtige Erkenntnisse über die Funktionsweise des Innenohres ge- wonnen, die die erstaunlichen Lei- stungen des Hörorgans zu erklären vermögen (Abbildung 2). Bei den Sinneszellen des Innenohres, den so- genannten Haarzellen, werden zwei Populationen unterschieden. Durch die Auslenkung der Basilarmembran kommt es zu einer Verbiegung der am freien Ende gelegenen Stereozi- lien. Über einen mehrstufigen iona- len Prozeß und unter Freisetzung ei- nes Transmitters wird durch die in- neren Haarzellen (IHC) akustische Energie in Aktionspotentiale der af- ferenten Hörnervenfasern umge- setzt. Die weitere Verarbeitung in der zentralen Hörbahn führt letztlich zum bewußten Hörvorgang.

Die äußeren Haarzellen (OHC) sind dagegen nur indirekt an diesem Vorgang beteiligt. Sie besitzen kon- traktile Aktin-Filamente, die sie zu aktiven Bewegungen befähigen.

Über einen lokalen Rückkopplungs- mechanismus verstärken sie aktiv die passive Auslenkung der Basilarmem- bran und damit die Abscherung der Stereozilien innerer Haarzellen in

Hörschwellennähe, während sie bei hoher Schallintensität die Auslen- kung zu dämpfen vermögen. Dieser lokale Vorverstärker steigert die Empfindlichkeit und den Dynamik- bereich des Innenohres ganz erheb- lich. Er unterliegt über efferente Nervenfasern der übergeordneten Kontrolle und Beeinflussungen durch das ZNS. Auf diese Weise er- folgt eine Anpassung an die jeweilige Hörsituation. Zum eigentlichen Hör- vorgang tragen die äußeren Haarzel- len jedoch nicht bei.

Bei den meisten Tinnituspatien- ten liegen Schädigungen unter- schiedlicher Ätiologie eines Teils der äußeren, seltener der inneren Haar- zellen vor (Abbildung 2). So wird zum Beispiel eine gestörte Kopplung der Stereozilien an die Tektorialmem- bran durch Lärmeinwirkung oder beim M. Menire diskutiert, wäh- rend beim Hörsturz eher ein Zusam- menbruch der Energieversorgung der Haarzellen anzunehmen ist. Ge- meinsame Folge dieser verschiede- nen Ursachen ist neben der Schwer- hörigkeit eine Reduktion des affe- renten Zustroms zur Hörbahn. Über eine pathologisch gesteigerte, kom- pensatorische efferente Stimulation führen die verbliebenen äußeren Haarzellen überschießende Kon- traktionen aus, die zu Irritationen der inneren Haarzellen und damit

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Streß Aufmerksamkeit Vegetatives NS Herz-Kreislauf

„^.- Muskeltones Zentrale -Stoffwechsel

Hörbahn „Vorverstärker"

Tektorialrnembran

Unkontrollierte Kontraktionen I Kontraktile Elemente

OHC leise

4-- Obere Olive

Afferentes Defizit Leckstrom + die

--Basi ar embran Afferente Faser

laut Efferente Fasern Efferenter Überschuß

IHC -

Defekte OHC Cochleäres Tinnitusmodell

Abbildung 2: Cochleäres Tinnitusmodell (eingezeichnet in das Schema des Innenohres und seiner zentralen Regelkreise). OHC = Äußere Haarzellen, IHC = Innere Haarzellen. Die senkrechten Striche auf der afferenten Nervenfaser stellen einzelne Aktionspotentiale dar.

Farbig unterlegt: Pathophysiologische Vorgänge bei cochleärem Tinnitus zur Entstehung eines Tinnitus bei-

tragen. Weiterhin werden defekte ionale Prozesse mit Auftreten von Leckströmen diskutiert, die zu einer permanenten Freisetzung von Trans- mitterquanten und damit zur Erzeu- gung von Aktionspotentialen führen.

Bei lautem akustischen Reiz steigt der afferente Zustrom an, wodurch die efferente Überstimulation ab- nimmt, der Tinnitus wird leiser oder verschwindet. Dies entspricht dem Maskierungsphänomen.

2.5 Der Nervus cochlearis als Tinnitusgenerator

Die Kodierung der akustischen Information geschieht im Hörnerven und der zentralen Hörbahn durch ei- ne Abfolge einzelner Aktionspoten- tiale. Bereits ohne akustische Stimu- lation weist jede Hörnervenfaser Ak- tionspotentiale in randomisierter Folge auf, die sogenannte Ruhe- oder Spontanaktivität (Abbildung 3), die vom Gehirn als Stille interpre- tiert wird. Bei akustischer Stimula- tion wird das Entladungsmuster der Einzelfaser geändert und die Aktivi- tät benachbarter Fasern koordiniert.

Kommt es auch ohne adäquaten ex- ternen Schallreiz zu dieser Ände- rung der Ruheaktivität, etwa durch eine Schädigung von Haarzellen wie oben beschrieben, wird dies vom Ge- hirn ebenfalls ohne Unterschied als Höreindruck gewertet.

Zusätzlich führt die nach Zer- störung von Haarzellen einsetzende fortschreitende Degeneration zuge- höriger Nervenfasern zu einer elek- trisch instabilen Stelle, von der Ak- tionspotentiale spontan ausgelöst und auf benachbarte Fasern übertra- gen werden können (ephaptische Ubertragung). Dieses pathologische Phase-Locking ist ein weiterer Me- chanismus, der das Auftreten von Tinnitus in ertaubten Ohren oder bei Akustikusneurinomen — analog zum Phantomschmerz amputierter Glied- maßen — zu erklären vermag.

2.6 Zentral-auditorische Schädigungen

Die Hörnervenfasern enden an Neuronen des Nucleus cochlearis im Hirnstamm, von wo aus sich durch weitere Verzweigungen das kompli- zierte Netzwerk der zentralen Hör-

bahn aufbaut. Durch anhaltende Än- derung der Spontanaktivität im Hör- nerven bilden sich oszillierende oder kreisende Erregungen in der Hör- bahn aus, wodurch die Persistenz von Tinnitus auch nach Beseitigung cochleärer Ursachen oder nach Durchschneiden des Hörnerven zu erklären ist.

3. Diagnostik

Sie umfaßt eine spezielle Ana- mnese, die HNO-ärztliche Untersu- chung, die audiometrische Differen- tialdiagnostik sowie dem Einzelfall angepaßte Ergänzungsuntersuchun- gen. Hier sind im wesentlichen die Abklärung einer Herz-Kreislauf- oder Stoffwechselkrankheit, das Vorliegen einer Allergie, die ortho- pädische und manualdiagnostische Diagnostik der Halswirbelsäule hin- sichtlich degenerativer Veränderun- gen und funktioneller Blockierungen sowie die kieferorthopädische Ab- klärung zu nennen.

Die HNO-Untersuchung setzt sich unter anderem aus der Trom- melfellmikroskopie, der Endoskopie des Nasenrachenraumes sowie der Auskultation im Kopf-Hals-Bereich

zusammen. Neben der Hörschwel- lenbestimmung erstreckt sich die au- diologische Diagnostik bei Schall- empfindungsschwerhörigkeiten auf die Differenzierung cochleärer und retrocochleärer Schäden, um zum Beispiel ein Akustikusneurinom zu erfassen. Hier haben die BERA ( = Brainstem Electric Response Audio- metry) und die Elektrocochleogra- phie die größte Bedeutung. Gegebe- nenfalls müssen bildgebende Ver- fahren angeschlossen werden.

Objektive Ohrgeräusche werden durch Auskultation, Dopplerunter- suchung und Angiographie der Ge- fäße sowie durch die Impedanzprü- fung des Mittelohres erfaßt, die zum Beispiel im Fall des Glomustumors pulssynchrone Schwankungen erken- nen läßt. Myokloni lassen sich endo- skopisch oder elektromyographisch verifizieren, gegebenenfalls ist eine Probetympanotomie mit Aufdecken der Mittelohrräume und Durchtren- nen der Muskelsehnen erforderlich.

Schalleitungsschwerhörigkeiten wer- den mit Hilfe der Ton- und Impe- danzaudiometrie nachgewiesen.

Die eigentliche Tinnitusanalyse umfaßt die Bestimmung der Tinni- tusfrequenz, der Tinnitusintensität, der Maskierbarkeit und der residua-

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len Inhibition unter Verwendung von Tönen, Schmal- und Breitband- rauschen. Sie dient der Verlaufs- und Therapiekontrolle sowie speziell der Maskeranpassung. Frequenz des Tinnitus und Frequenz des maxima- len Hörverlustes im Tonaudiogramm liegen oft eng beieinander. Durch Darbietung von Sinustönen oder Schmalbandrauschen auch benach- barter Frequenzen auf demselben, seltener auf dem kontralateralen Ohr, läßt sich der Tinnitus häufig mit geringen Lautstärken über der Hör- schwelle verdecken, das heißt, er ist in Gegenwart eines externen akusti- schen Signals nicht mehr wahrnehm- bar. Nach Wegnahme der Maskie- rung erscheint der Tinnitus wieder.

Dieses Maskierungsverhalten, für das Feldmann mehrere Typen gefun- den hat, unterscheidet den Tinnitus grundsätzlich von einem externen akustischen Signal. Verdeckungs- lautstärke und subjektive Lautheit des Tinnitus korrelieren nicht. Diese läßt sich nur über visuelle Analog- skalen und psychometrische Testver- fahren bestimmen.

4. Therapie

bei Ohrgeräuschen

4.1 Objektive Ohrgeräusche Objektive Ohrgeräusche lassen sich oft chirurgisch im Rahmen des Grundleidens erfolgreich therapie- ren. Beim Palatomyoklonus kann ein Therapieversuch mit Carbamazepin (zum Beispiel Tegretal®) in üblicher Dosierung oder Biperiden i.v. bezie- hungsweise oral (zum Beispiel Aki- neton®) erfolgreich sein.

4.2 Tinnitustherapie

Die Polypragmasie in der Tinni- tustherapie zeigt dagegen sehr deut- lich den Mangel an gesicherten pathophysiologischen Grundlagen.

Nur wenige therapeutische Vor- schläge sind durch klinische kontrol- lierte Studien hinsichtlich ihrer Wirksamkeit überprüft und erfüllen damit die Voraussetzungen einer ra- tionalen Therapie. Drei Ansatz- punkte haben sich dabei herauskri- stallisiert, die medikamentöse The- rapie, die Elektrostimulation und die Masker-Therapie. Am Anfang sollte

Tabelle 2: Mögliche Ursachen objektiver Ohrgeräusche Vaskuläre Ursachen

■ extrakranielle Lokalisation:

Carotisstenose Vertebralisstenose

Glomus-caroticum-Tumor Hämangiom

Herzvitien

■ intrakranielle Lokalisation:

arteriovenöse Fistel Hämangiom

Arteriosklerose der Zere- bralarterien

Glomus-tympanicum- Tumor

Glomus-jugulare-Tumor Hochstand des Bulbus venae jugularis

Muskuläre Ursachen

■ Binnenmuskeln des Mittel- ohres:

Spasmus des M. tensor tym- pani

Spasmus des M. stapedius

■ Gaumenmuskulatur:

Palatomyoklonus

Entzündliche Mittelohrkrank- heiten

Offene Tuba auditiva Otitis media acuta Otitis media chronica

jedoch immer die Aufklärung des Patienten über die Natur seines Lei- dens nach Maßgabe der Ergebnisse der Diagnostik stehen. So können Ängste etwa vor Hirntumoren abge- baut und damit die Voraussetzungen für eine kognitive Therapie geschaf- fen werden. Da eine Heilung im ei- gentlichen Sinn selten möglich ist, zielt die Therapie im wesentlichen auf eine Linderung des Beschwerde- bildes. Hinweise auf verstärkende Faktoren, die Notwendigkeit des Streßabbaus sowie Vorschläge zur Verhaltenskorrektur, wie zum Bei- spiel Meiden übermäßiger Lärmex-

position, sind Elemente der Bera- tung (Counselling). Der Patient kann sich so mit dem Symptom aus- einandersetzen und lernt in den mei- sten Fällen, mit dem Tinnitus zu le- ben. Im allgemeinen bedürfen vor al- lem Fälle von dekompensiertem Tin- nitus einer weitergehenden Thera- pie.

4.3 Medikamentöse Therapie Akut einsetzender Tinnitus mit und ohne begleitenden Hörverlust muß als Hörsturzäquivalent auf der Grundlage einer Durchblutungsstö- rung gewertet und entsprechend rheologisch therapiert werden. Nur dann bestehen Aussichten auf eine völlige Beseitigung des Tinnitus.

Jeder länger als drei Monate be- stehende Tinnitus ist als chronisch einzustufen und kann nicht mehr als isolierte Perfusionsstörung angese- hen werden. Eine durchblutungsför- dernde Therapie gleich welcher Art ist dann selten erfolgreich. Aller- dings sollten Herz-Kreislauf- und Stoffwechselkrankheiten auf jeden Fall adäquat behandelt werden, da sie häufig den Tinnitus verstärken.

Unter Annahme eines irreversi- blen Schadens im Bereich des Innen- ohres, seltener des Hörnerven, muß die Therapie darauf gerichtet sein, die pathologische Aktivität im audi- torischen System zu normalisieren.

Im Bereich des Innenohres können Kalziumantagonisten von Erfolg sein wie Flunarizin (Sibelium®). Im Be- reich des Hörnerven und der zentra- len Hörbahn wirken Antiarrhythmi- ka vom Lidocain-Typ (Lidocain [zum Beispiel Xylocain®], Tocainid [Xylo- tocan®] 3 x 400 mg oral) sowie An- tikonvulsiva (Carbamazepin [zum Beispiel Tegretal9), indem sie ge- steigerte Spontanaktivitäten norma- lisieren und kreisende Erregungen unterbrechen (Abbildung 3). Infusio- nen mit dem Transmitter Glutamat, der die Übertragung zwischen Haar- zelle und afferenter Hörnervenfaser bewirkt, sind bisher noch im Ver- suchsstadium. Einen dämpfenden Effekt auf Efferenzen besitzen Anti- depressiva wie Amitriptylin (zum Beispiel Saroten®). Die Erfolgsquote der medikamentösen Therapie liegt bei zirka 15 Prozent und erstreckt sich auf eine Minderung der Tinni-

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I III 1 III 1 I III II 1 I I 1111 1 1 1 1

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Normal Phase Locking

4

Zentral-auditorische Oszillationen kreisende Erregungen

Lidocain Neurates Tinnitusmodell

tusintensität. Zu beachten ist dabei allerdings die relativ hohe Nebenwir- kungsrate, weswegen eine enge Zu- sammenarbeit mit dem Kardiologen oder Neurologen erforderlich ist.

4.4 Elektrostimulation

Die Elektrostimulation wird ent- weder über eine transtympanal auf dem Promontorium plazierte Nadel- elektrode oder transkutan über eine Oberflächenelektrode am Mastoid beziehungsweise im äußeren Gehör- gang (sogenannte Iontophorese) durchgeführt. Gereizt werden kann mit Gleich- oder Wechselstrom von 50 Hz bis zu einigen kHz. Der bei ei- nem Teil der Patienten zu erzielende Therapieeffekt ist meistens auch bei wiederholter Stimulation nur vor- übergehend. Nebenwirkungen in Form von zusätzlichen Schädigungen des Innenohres sind bei hoher Stromstärke und Dauerstimulation zu befürchten. Zum jetzigen Zeit- punkt spielt die Elektrostimulation noch eine untergeordnete Rolle.

4.5 Maskertherapie und Hörgeräteversorgung Führt das Ausmaß des Hörver- lustes zu einer Beeinträchtigung des Sprachverständnisses, ist die Anpas- sung eines Hörgerätes indiziert.

Über eine verstärkte Zufuhr exter- ner Schallsignale wird der Tinnitus maskiert. Beim Masker wird diese Verdeckungswirkung durch Einspie- len eines Rauschsignals in den Ge- hörgang ohne akustische Verstär- kung ausgenutzt. Er kann aber auch zusätzlich zu einem Hörgerät ver- wendet werden (sogenanntes Tinni- tus-Instrument). Diese Maßnahmen sind bei dekompensiertem, maskier- barem Tinnitus indiziert, der thera- peutisch sonst nicht beherrschbar ist.

Die besten Resultate werden bei to- nalem Tinnitus im Rahmen von Hochton-Innenohrschwerhörigkei- ten erzielt. Bei etwa 15 Prozent der Patienten läßt sich dadurch der Tin- nitus erträglicher gestalten.

4.6 Sonstige Therapieformen Ablative chirurgische Verfahren wie Labyrinthektomie oder Neurek- tomie des Hörnerven führen oft zu einer vorübergehenden Tinnitusmin- derung. Da neue Verletzungsstellen

Abbildung 3: Neuna- les Tinnitusmodell.

Dargestellt sind ein- zelne Nervenfasem mit ihrer Ruheaktivi- tät in Form einzelner Aktionspotentiale (senkrechte Striche) im Normalzustand und im geschädigten Zustand. Zentrale Manifestation in Form kreisender Er- regungen. Normali- sierung durch Lido- cain-Wirkung

geschaffen werden, kommt es nach einiger Zeit durch ephaptische Übertragung häufig zum Rezidiv.

Durch Ausfall der Innenohr- und Hörnervenfunktion sind Masker- therapie und Elektrostimulation nicht mehr möglich.

Bei entsprechenden Befunden können eine orthopädische und ma- nualmedizinische Therapie der Hals- wirbelsäule sowie eine kieferortho- pädische Therapie bei myofunktio- nellen Störungen des Kiefergelenkes von Bedeutung sein. Auf zahlreiche weitere Therapieverfahren sei hier nicht eingegangen, da bisher der Be- weis ihrer Wirksamkeit nach den Kriterien klinisch kontrollierter Stu- dien nicht erbracht werden konnte.

5. Schlußfolgerung

Durch gezielte Anamnese und adäquate Diagnostik können die für das therapeutische Vorgehen im Einzelfall notwendigen Informatio- nen gewonnen werden. Während ob- jektive Ohrgeräusche einer meist chirurgischen Therapie zugeführt werden können, ist die Therapie beim Tinnitus weitaus schwieriger.

Die Aufklärung und Beratung des Patienten anhand pathophysiologi- scher Modellvorstellungen ist Teil der kognitiven Therapie. Bei dekom- pensiertem Tinnitus kommen medi- kamentöse und apparative Verfah- ren, unter Umständen auch die Elek- trostimulation, in Frage.

Literatur

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Anschrift des Verfassers:

Priv.-Doz. Dr. med. Th. Lenarz Oberarzt der

Universitäts-HNO-Klinik Im Neuenheimer Feld 400 6900 Heidelberg

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