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Archiv "Zusatzbezeichnung Akupunktur: Noch immer ein weiter Weg" (03.08.1998)

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an stelle sich eine Diskussi- on über die angemessene Dauer des Medizinstudiums vor: Reichen zehn Seme- ster? Oder besser zwölf? Oder nur acht? Plötzlich steht einer auf und er- klärt: alles viel zu lang, zwei Wochen sind völlig ausreichend. So geschehen letzten Oktober auf einem Hearing der Bundesärztekammer. Da ging es um die Zusatzbezeichnung Akupunk- tur und die Voraussetzungen dafür.

Die großen Gesellschaften stritten sich: ob 350 Kursstunden aus- reichen? Oder besser 600?

Oder doch nur 180? Bis ein Teil- nehmer vortrug, daß man für die Akupunktur doch höch- stens fünf oder sechs Punkte brauche – erlernbar in weniger als zehn Stunden.

Derartige Querelen wären für sich allein schon Grund ge- nug gewesen, die Entscheidung über die neue Zusatzbezeich- nung zurückzustellen. Sie sind aber nur die Spitze des Eisber- ges. Gewiß, die großen Aku- punkturgesellschaften verwei- sen voller Stolz auf Zehntau- sende von Mitgliedern und überfüllte Kurse. Wer aber mit unbefangenen Sinnen prüft, was da gelehrt wird, muß feststellen: Die Lehrinhalte der führenden deutschen Akupunkturge- sellschaften beruhen weniger auf ra- tionaler Forschung und kritischer Überprüfung als vielmehr auf unre- flektiertem Abschreiben und subjek- tiven Präferenzen. Kriterien, wie sie von hochschulfähigen Lehrmateriali- en zu verlangen wären, sind nicht ein- mal ansatzweise erfüllt.

Dazu gehören beispielsweise:

Sprachliche und inhaltliche Richtig- keit; rational fundierte und einheitli- che Terminologie; Kenntnis und Of- fenlegung der Quellen; Orientierung an der maßgeblichen internationalen Literatur; angemessene klinische Be- wertung theoretischer Prämissen so- wie die Übereinstimmung von Theo- rie und Praxis.

Festzustellen ist, daß die gesamte Darstellung der angeblich maßgebli- chen Akupunkturtheorie zur Zeit noch von Mißverständnissen, falschen Bewertungen und gravierenden Un- terschieden durchsetzt ist – sowohl zwischen den einzelnen Gesellschaf-

ten als auch im Vergleich zu den grundlegenden chinesischen Arbei- ten. Die Ursachen dafür liegen in der Geschichte der neueren deutschen Akupunktur: deren Anfänge nach 1945 beruhten nicht auf chinesischen, sondern auf französisch-vietnamesi- schen Quellen.

Statt diese sorgfältig anhand chi- nesischer Arbeiten zu überprüfen, wurden ihre Aussagen kritiklos über- nommen, höchstens poetisch ausge- schmückt. Als Folge davon findet sich

in den Lehrinhalten der großen Ge- sellschaften gelegentlich purer Un- sinn (etwa Bahr: Einführung in die wissenschaftliche Akupunktur: „Bei der Akupressur darf nie gegen die Meridianrichtung massiert werden“).

Weitaus häufiger allerdings sind schwerwiegende Fehlbewertungen theoretischer Prämissen.

Ein Beispiel sind die funktionel- len Kategorien der Akupunkturpunk- te. Diese tragen hierzulande spekta- kulär klingende Namen wie „Meister- punkte“, „Tonisierungs- und Sedie- rungspunkte“, „Akutpunkte“, und in der Theorie wird ihnen eine hohe Be- deutung beigemessen. Aber die „Mei- sterpunkte“ sind in der Praxis zweitrangig, „Tonisierung“ und „Se- dierung“ ist in der Klinik weniger eine Frage der Punkte als der Nadeltech- nik; und von den 16 „Akutpunkten“

werden zwölf in der Praxis so gut wie nie verwendet – weder in China noch im klinischen Teil der Lehrmateriali- en, die im theoretischen Teil all diese Kategorien zu den „wichtigsten Punk- ten“ rechnen.

Die Kursteilnehmer, die das ler- nen sollen, können einem leid tun.

Denn was von den Punktekategorien gilt, findet sich als entscheidender Mangel in allen derzeit verwendeten Lehrmaterialien. Im Einführungsteil scheinen alle theoretischen Prämis- sen und Finessen höchst wichtig, scheint jeder Akupunkturpunkt über ein zauberhaftes Spektrum grandio- ser Eigenschaften zu verfügen. Aber das wenigste davon findet wirklich Anwendung – die Unterschiede zwi- schen Theorieteil und klinischem Teil sind erschreckend. Noch schlimmer wird es, wenn man konkrete Therapiekonzepte mit denen anderer Gesellschaften oder gar in China vergleicht: Viele der Punkte, die hierzulande für bestimmte Indikationen als entscheidend dargestellt wer- den, spielen in China für diesel- be Indikation nur eine geringe Rolle.

Gewiß: Niemand will eine Einheitsakupunktur. Auch un- terschiedliche Ansichten über theoretische Aspekte sind völ- lig legitim. Aber ist es zuviel verlangt, die Unterschiede so- wohl zwischen den einzelnen Gesellschaften als auch gegenüber der chinesischen Praxis wenigstens zu kennen? Und eventuelle Abweichun- gen nicht bloß von einem Lehrer oder einer Vorlage kritiklos zu überneh- men, sondern als abweichend zu er- kennen und zu vertreten?

Davon – wie auch von der Ge- wohnheit, die Quellen wichtiger Aus- sagen anzugeben – ist die deutsche Akupunktur noch weit entfernt.

Festzuhalten bleibt: Die Aku- punktur ist ein ökonomisches und wirksames Verfahren. Für Schmerz- zustände, Gelenkbeschwerden, Pa- resen, bestimmte Allergieformen und funktionelle Störungen wird sie früher oder später zum normalen In- ventar der Schulmedizin gehören.

Daß sie dann auch an Hochschulen unterrichtet werden sollte, versteht sich von selbst. Vielleicht hat sie es so- gar verdient, eines Tages in den Rang einer Zusatzbezeichnung erhoben zu werden. Aber bis dahin ist es ein wei- ter Weg.

Hans-Joachim Lehmann Geiserichstraße 7 12105 Berlin A-1898 (26) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 31–32, 3. August 1998

T H E M E N D E R Z E I T KOMMENTAR

Zusatzbezeichnung Akupunktur

Noch immer ein weiter Weg

M

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