DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
ÜBERSICHTSAUFSATZ
Akupunktur in Japan
Kohsi Takano
Aus der Abteilung Pathoneurophysiologie (Vorsteher: Professor Dr. med. Kohsi Takano), Zentrum für Chirurgie und Pathophysiologie der Georg-August-Universität Göttingen
E
in Teil der Bevölkerung und der Ärzte (besonders der praktischen Ärzte) in der Bundesrepublik Deutschland be- trachten die Akupunktur als eine wirkungsvolle medizinische Be- handlungsmethode, aber die mei- sten Schulmediziner und der Ge- setzgeber meinen bisher, daß die Akupunktur eine paramedizini- sche Methode sei. Diese Einschät- zung beruht, soweit ich die Situa- tion überblicke, auf einer falschen Beurteilung der Akupunktur durch ihre Kritiker.Mit diesem Artikel habe ich nicht die Absicht, grundsätzlich gegen kritische Meinungen zu argumen- tieren; ich möchte vielmehr über die anerkannte Anwendung der Akupunktur in Japan, insbesonde- re über die Ausbildung zum Aku- punkteur in einem Land kurz be- richten, in dem die Schulmedizin, ebenso wie in der Bundesrepublik Deutschland, hoch entwickelt ist.
In Japan wurde die Akupunktur zusammen mit anderen Kulturgü- tern, wie zum Beispiel Schriftzei- chen und Religion, im fünften bis siebten Jahrhundert aus China über die koreanische Halbinsel und später direkt aus China einge- führt. In einem kaiserlichen Ge- setz aus dem Jahre 701 ist ein Ka- pitel der Medizin gewidmet. Hier werden die Mediziner unterteilt in Internisten, Chirurgen, Akupunk- teure und so weiter. Nach diesem Gesetz dauerte die Ausbildung der Internisten und Akupunkteure jeweils sieben Jahre, und es gab eine Hierarchie vom Akupunktur- Professor zum Akupunkteur und
Ist die Akupunktur eine Scheinbehandlung oder ist sie es nicht? Akupunktur ge- hört in Japan nicht zum Pa- ramedizinbereich, sondern ist eine Methode der tradi- tionellen Medizin. Sie hat im
Laufe der Jahrhunderte hin- sichtlich ihrer Anwendung und in bezug auf die Ausbil- dung vielfältige Wandlun- gen erfahren. Nach einem Verbot der Akupunktur nach dem zweiten Weltkrieg durch die amerikanische Besatzungsarmee ist in den Universitäten eine Gegenin- itiative entstanden, die sich auch durchsetzen konnte.
Akupunktur-Student. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die therapeutische japanische Medi- zin hauptsächlich durch Phy- totherapie und Akupunktur durch- geführt. Obwohl solche Mediziner aus den chinesischen klassischen Büchern, die teilweise in das zweite Jahrhundert oder noch frü- her zurückreichten, lernen muß- ten, haben sie doch nach ihrer Er- fahrung die verschiedensten Ver- besserungen in ihrer Behand- lungsmethode vorgenommen.
Nach der Wiederherstellung der kaiserlichen Macht im Jahre 1868 hatte sich die neue Regierung entschieden, statt der traditionel- len Medizin die westliche — bevor- zugt die deutsche — anzuwenden.
Da aber die Akupunktur eine be- sondere Bedeutung als Beruf für Blinde hatte, konnte sie weiterhin
bestehen bleiben, wurde aber hauptsächlich in Blindenschulen gelehrt. Seit dieser Zeit dürfen nur approbierte Ärzte oder Nichtme- diziner, welche ein staatliches Ex- amen für die Akupunktur abgelegt haben, diese Behandlungsmetho- de anwenden.
Seitdem ist die Forschung über Akupunktur in so wichtigen Uni- versitäten wie Tokyo, Kyoto, Kana- zawa und Chiba, wenn auch zu- nächst in begrenztem Rahmen, durchgeführt und weiterentwik- kelt worden.
Die meisten Universitäts-Profes- soren, die die deutsche Medizin gelernt hatten, akzeptierten oder förderten die Akupunktur sogar.
Nur zwei Beispiele dafür: Dr. Mi- nura, Professor für Innere Medizin an der kaiserlichen Universität To- kyo, der gleichzeitig Leibarzt des letzten Kaisers (1911 bis 1925) war, hat auch die Wirkungen der Akupunktur untersucht. Im Jahre 1947 wurde die japanische Gesell- schaft für Akupunktur-Lehre ge- gründet, deren Präsident Profes- sor für Physiologie an der Univer- sität Kyoto war.
Nach dem zweiten Weltkrieg hat die amerikanische Besatzungsar- mee die Japaner gezwungen, ver- schiedene Änderungen im Grund- gesetz, in den Ausbildungssyste- men und so weiter vorzunehmen.
Die Akupunktur sollte verboten werden, weil die Amerikaner der Meinung waren, sie sei nicht wis- senschaftlich begründet, sondern eine Scharlatanerie (eine Ein- schätzung also, die der von man- 410 (62) Heft 7 vom 13. Februar 1985 82. Jahrgang Ausgabe A
Tabelle 1: Gesetzlich bestimmte Mindeststundenzahl der verschiedenen Fächer, die vor der Prüfung für Akupunktur und Moxibustion verlangt werden. In I sind die nor- malen „Schulmedizinfächer" aufgeführt. Vergleiche: Stundenzahl der deutschen Approbationsordnung für Ärzte (oder mit der für Heilpraktiker!). Teil III enthält die Fä- cher der Allgemeinbildung. Sie werden im „Abiturientenkurs" nicht gelehrt 412 (64) Heft 7 vom 13. Februar 1985 82. Jahrgang Ausgabe A
210
210 210
Anatomie
} 90 60
270 270 270 Japanisch
270
270 270
Sport
Akupunktur Moxibustion Akupunktur + Moxibustion
Physiologie 165 165 165
Pathologie Hygiene Diagnostik
_ Krankheitslehre 140 140 140
Zwischensumme I 785 785 785
Zwischensumme II 880 675 1140
Zwischensumme III 1350 1350 1350
75 90 105 75
90 105
75 90 105
3275 Summe 1, II u. III 3015 2810
Kanpo-Lehre 135 135 135
Meridian-Lehre 105 105 105
Akupunktur-Theorie 60 Moxibustions-Theorie
Medizin-Geschichte 30 30 30
Akupunktur-Praktikum 550
Moxibustions-Praktikum 345 } 780
Sozialwissenschaften 300 300 300
Mathematik
Naturwissenschaften
150 150
150 150
III 150
150
Musik oder Fremd-
sprache 210 210 210
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Akupunktur in Japan
chen der heutigen Gegner in der Bundesrepublik ähnelt). Diesem Vorhaben wurde jedoch nicht nur von vielen Akupunkteuren, son- dern auch von Medizinern Wider- stand entgegengebracht. In die- ser Gruppe waren mehrere Pro- fessoren der Physiologie, Patholo- gie und der Inneren Medizin der Medizinischen Fakultäten der staatlichen Universitäten, und sie ergriffen eine Gegeninitiative. An der Spitze dieser Bewegung stand der Präsident einer Medizinischen
Hochschule. Die fachliche und öf- fentliche Einschätzung der Aku- punktur in Japan hat sich grundle- gend gewandelt. Heute werden sowohl klinische Forschungen über Akupunktur als auch Versu- che am Tier fortgesetzt und aus- geweitet. Durch Mittel der Regie- rung wird diese Forschungsarbeit gezielt unterstützt. Das gegenwär- tige japanische Gesetz zur Aku- punktur datiert aus dem Jahr 1947 und ist auf 24 Seiten niedergelegt.
Danach soll die Mindestdauer für
die Ausbildung der Akupunkteure vier Jahre (beziehungsweise zwei Jahre für „Abiturienten") sein.
In den meisten Schulen dauert die Ausbildung fünf Jahre (bzw. drei Jahre). Nach dieser Ausbildung werden die folgenden Fächer von der regionalen Regierung ge- prüft: Anatomie, Physiologie, Pa- thologie, Hygiene, Diagnostik, kli- nische Fächer, allgemeine tradi- tionelle Medizin, Meridianlehre, Akupunkturtechnik. Die gesetz- lich bestimmte Mindeststunden- zahl in den Ausbildungsfächern wird in Tabelle 1 gezeigt. Aku- punktur und Moxibustion werden in Japan und China fast wie ein Begriff betrachtet, da bei beiden Methoden die gleichen Behand- lungspunkte benutzt werden. Da- her werden beide Methoden mei- stens zusammen in einem Kursus gelehrt. Bei der Moxibustion legt man ein winziges Stück von ge- trocknetem Wiesenbeifuß (japa- nisch: Mogusa) auf den Punkt und zündet es an.
Es gibt eine spezielle Hochschule und 30 Fachschulen für Akupunk- tur, 26 davon bieten einen dreijäh- rigen Kursus für „Abiturienten"
an. Außerdem führen einige staat- liche oder regionale Blindenschu- len auch Kurse für Akupunktur durch. Zur Zeit gibt es in Japan knapp 50 000 Akupunkteure.
Zusammenfassend ist festzustel- len: Die Akupunktur ist eine in Ja- pan nicht selten angewandte und in weiten Kreisen anerkannte The- rapiemethode. Ihre Wirkungsme- chanismen sind Gegenstand ei- ner intensiven wissenschaftlichen Forschung.
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. med.
Kohsi Takano
Abteilung Pathoneurophysiologie Zentrum Physiologie
der Universität Göttingen Humboldtallee 23 3400 Göttingen