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Archiv "Somatisierung und die Somatisierungsstörung" (21.01.1994)

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MEDIZIN EDITORIAL

Somatisierung und

die Somatisierungsstörung

Sven Olaf Hoffmann

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er Begriff der Somatisierung stammt aus der psychoanalytischen Psychoso- matik. Seine gründlichste Bearbeitung in diesem Zusammenhang erfuhr er in einem Beitrag von Schur (1955). Schur verstand un- ter Somatisierung ein — neurosenpsycholo- gisch betrachtet — regressives Ausweichen vor den Konflikten, die mit dem Erlebnis starker Affekte (Angst, Depression, Wut) verbunden sind, zurück auf eine Ebene, auf der körperli- che Empfindung und Affekt eins sind; also gewissermaßen ein ganzheitliches, körperlich akzentuiertes Affekterlebnis als regressiver Versuch der Konfliktentlastung; oder lapi- dar: körperliche Symptome statt seelischer Konflikte.

Diese Bedeutung von Somatisierung bleibt erhalten, wenn etwa Psychotherapeuten sich verständigen, daß ein Patient somatisiere. Sie meinen dann, daß schmerzhafte oder bela- stedde Affekte in der Form von körperlichen Symptomen abgewehrt würden. Benannt wird so also eine Abwehrbewegung. Daneben meint der Begriff einen psychosomatischen Beschwerdekomplex.

Diese zweite Bedeutung, die Phänomeno- logie der Somatisierung, ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer mehr in den Vor- dergrund gerückt und wird meist als Somati- sierungsstörung (somatization disorder) be- zeichnet. Seine starke Verbreitung erfuhr das Konzept allerdings erst durch das DSM-III (die 3. Auflage des Diagnostischen und Stati- stischen Manuals der Amerikanischen Psych- iatrischen Vereinigung). Mit der Renaissance der Phänomenologie entstand so etwas wie ein weltweit gültiger psychiatrischer Code ci- vil. Die gegenwärtige Auflage des Gesetzbu- ches heißt DSM-III-R, und die im Amerika- nischen schon erschienene vierte, genau ge- nommen, eine Vorfassung, wird dann logisch DSM-IV heißen.

Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psy- chotherapie (Direktor: Prof. Dr. med. Sven Olaf Hoffmann), Universität Mainz

Als Somatisierungsstörung definiert das DSM-III-R: „Hauptmerkmale dieser Störung sind rezidivierende und vielgestaltige körper- liche Beschwerden von mehrjähriger Dauer, für die medizinische Hilfen gesucht wurden, die aber offensichtlich nicht durch eine kör- perliche Störung bedingt sind. Die Störung beginnt vor dem 30. Lebensjahr und hat ei- nen chronischen, aber fluktuierenden Ver- lauf." Das DSM-III lebt von seinen operatio- nalen Definitionen. So gibt die diagnostische Operation für die Somatisierungsstörung (300.81) zwei Punkte an:

1. Eine Anamnese vielschichtiger kör- perlicher Beschwerden oder die Überzeu- gung, krank zu sein,

2. mindestens 13 Symptome aus einer Li- ste von insgesamt 31, die verschiedensten Or- gansysteme und Bereiche betreffend, müssen vorliegen. Organische Ursachen oder Angst- anfälle müssen ausgeschlossen sein. Der Pa- tient nahm wegen der Symptome Medika- mente ein, suchte einen Arzt auf oder verän- derte seine Lebensführung. Sieben Sympto- me können als Screening gelten: Dies sind Er- brechen (nicht während Schwangerschaft), Schmerzen in den Extremitäten, Kurzatmig- keit (nicht bei Anstrengung), Amnesie, Schluckbeschwerden, Brennen in den Ge- schlechtsorganen oder im Rektum (nicht beim Verkehr), schmerzhafte Menstruation.

Es gibt natürlich zahlreiche Überschnei- dungen des Begriffes der Somatisierungsstö- rung mit anderen Störungen, am breitesten möglicherweise bei den hypochrondrischen Beschwerden. Hier gilt aber inzwischen die Übereinkunft, daß hypochrondrische Be- schwerden stärker durch ihre chronische Be- sorgnis vor einer Erkrankung charakterisiert sind, als durch das Vorliegen einer eigentli- chen psychosomatischen Funktionsstörung.

In einer Studie (Kirmayer und Robbins 1991) ließen sich anhand mehrerer Variablen die hypochondrisch getönten und die angst- haft-depressiv getönten Somatisierungsstö-

Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 3, 21. Januar 1994 (33) A-113

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MEDIZIN EDITORIAL

rungen ausreichend gut von der eigentlichen Kerngruppe unterscheiden. Ein weiteres Pro- blem ist die Überschneidung mit der tradier- ten Hysterie-Diagnose, die die Somatisierungs- störung in manchen Bereichen geradezu ab- löst. Sieht man sich die Beschreibung des DSM-III an, dann besteht kein Zweifel, daß mit den entsprechenden diagnostischen Ra- stern offensichtlich der polysymptomatische Typ der Hysterie erfaßt wird (die anderen bei- den Typen wären der Konversionstyp und der dissoziative Typ mit seinen charakteristi- schen Bewußtseinsstörungen).

Tomasson et al. (1991) versuchten, die Zusammenhänge aufzuklären: Sie verglichen zwei größere Gruppen von Patienten mit So- matisi&ungsstörungen und Konversionsstö- rungen. Diese unterschieden sich nennens- wert. Frauen überwogen in beiden Gruppen massiv, jedoch nur zu 78 Prozent bei der Konversion und zu 95 Prozent bei der Soma- tisierung. Die Somatisierung beginnt in sehr jungem Erwachsenenalter, während die Kon- version zeitlebens auftreten kann. Die Soma- tisierung wirkt insgesamt als die schwerere Erkrankung mit zahlreichen Komorbiditäten und Belastungsfaktoren (Depression, Suizid- versuch, Angst, Scheidung). Man kann aus dieser und weiteren Arbeiten entnehmen, daß zum einen die Somatisierungsstörung oder polysymptomatische Hysterie oder das Briquet-Syndrom, um noch einen Namen einzuführen, phänomenal ausreichend belegt und zumindest einigermaßen von angrenzen- den Störungen abzugrenzen ist. Dennoch besteht keine Frage, daß die psychische Komorbidität der Somatisierungsstörung hoch ist.

Einige Aussagen gewinnen damit an Wahrscheinlichkeit: In einer Übersichtsar- beit betont Kellner (1990), daß es keine ge- schlossene Theorie gäbe, die die Somatisie- rung ausreichend erklären könne. Somatisie- rung sei nicht nur multifaktoriell bestimmt, sondern darüber hinaus auch ein extrem komplexes Phänomen. Die verschiedenen ätiologischen Faktoren differieren zudem von Individuum zu Individuum. Auch Li- powski (1988), der sich ebenfalls seit langem mit der Somatisierung befaßt, kommt zu ähn- lichen Schlüssen. Er definiert Somatisierung als „eine Tendenz, körperliche Beschwerden als Antwort auf psychosoziale Belastungen zu erfahren und zu vermitteln und medizinische Hilfe dafür in Anspruch zu nehmen."

In den bisherigen Abgrenzungen tauch- ten dem Europäer so vertraute Begriffe wie

„funktionelle Syndrome" oder „psychovege- tative Störungen" nicht auf. Woran Ameri- kaner auch immer leiden mögen, das, was in Europa die häufigste psychosomatische Beschwerde ist, scheint es nicht zu sein, oder doch? Hoffnungen, daß diese bewähr- ten diagnostischen Kategorien weiter ver- wandt werden „dürfen", verbinden sich für den Europäer mit der in Vorbereitung be- findlichen 10. Auflage der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen der WHO. Diese ICD-1O ist in deutscher Spra- che bereits erschienen (1991). Als Oberbe- griff für eine Reihe von funktionellen Kör- perstörungen steht hier der Begriff der so- matoformen Störungen (F 45). Diese (schon im DSM-III vorkommende) sprachliche Neueinführung ist als glücklich zu bezeich- nen. „Somatoform" meint Krankheiten, die wie körperliche aussehen, diesen aber pa- thogenetisch nicht entsprechen. Die Defini- tion der somatoformen Störung lautet: „Das Charakteristikum ist die wiederholte Dar- bietung körperlicher Symptome in Verbin- dung mit hartnäckigen Forderungen nach.

medizinischen Untersuchungen, trotz wie- derholter negativer Ergebnisse und Versi- cherung der Ärzte, daß die Symptome nicht körperlich begründbar sind. Sind aber ir- gendwelche körperlichen Symptome (hier müßte es natürlich heißen: Befunde, S. 0. H.) vorhanden, dann erklären sie nicht die Art und das Ausmaß der Symptome und das Leiden und die innerliche Beteiligung des Patienten."

Die Untergruppen sind jetzt die Somati- sierungsstörung (F 45.0), die hypochondrische Störung (F 45.2) und die somatoforme autono- me Funktionsstörung (F 45.3). Diese letzte entspricht den psychovegetativen Störungen beziehungsweise funktionellen Störungen und ist noch einmal nach verschiedenen Or- gansystemen zu differenzieren.

Was ist für den Nicht-Psychosomatiker, den Nicht-Psychiater aus alledem zu schlie- ßen? Folgende Punkte scheinen mir relevant:

• Eine respektable Forschung in bezug auf eine Krankengruppe, die einen immensen Teil der Kosten unseres Gesundheitssystems verursacht, hat eingesetzt.

• Diese Forschung hat zahlreiche (und hier nicht ausgeführte) Ergebnisse erbracht, die verdeutlichen, daß es sich bei der Somati- A-116 (36) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 3, 21. Januar 1994

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MEDIZIN EDITORIAL / FÜR SIE REFERIERT

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sierungsstörung nicht nur um eine komplexe Symptomatologie handelt, sondern daß das Konzept „Somatisierungsstörung" wahr- scheinlich eher einen klassifikatorischen Sammeltopf darstellt, der durch zahlreiche und sich überschneidende nosologische Un- tergruppen gefüllt wird.

• Die Kerngruppe des Somatisierungs- syndroms überschneidet sich sehr viel stärker mit der polysymptomatischen Hysterie (Bri- quet-Syndrom) als mit den psychovegetativen Störungen (funktionelle Syndrome).

• Es gibt ernsthafte Hinweise darauf, daß für die Volkswirtschaft die Folgekosten chronifizierender somatoformer Störungen (darunter das Somatisierungssyndrom) bei der heutigen Struktur der Medizin an die Folgekosten organisch verursachter Erkran- kungen herankommen oder sie sogar über- steigen.

• Auch wenn die Diagnose aufgrund in- ternationaler Übereinkünfte zunehmend ein- heitlicher und damit auch in der Hand des praktischen Arztes und Internisten einfacher wird, stehen die therapeutischen Probleme dieses Krankheitsbildes erst in den Anfängen einer Lösung.

Als letzter Satz sei ein ceterum censeo er- laubt: Psychosomatische Abteilungen oder Funktionseinheiten in den Allgemeinkran- kenhäusern mit einem ausgedehnten Konsil- und Liaisondienst wären die volkswirtschaft- lich günstigste Ad-hoc-Maßnahme. Mit dem

Wohl der Kranken wagt man als Arzt heute kaum noch zu argumentieren.

Deutsches Ärzteblatt

91 (1994) A-113-117 [Heft 3]

Literatur

1. Dilling, H.; Mombour, W.; Schmidt, M. H. (Hrsg.): Weltge- sundheitsorganisation: Internationale Klassifizierung psychi- scher Störungen. ICD-10, Kapitel V (F), Huber, Bern/Göttin- gen/Toronto (1991)

2. Kellner, R.: Somatization. Theories and Research. J. Nerv.

Ment. Dis. 178 (1990) 150-160

3. Kirmayer, L. J.; Robbins, J. M.: Three forms of somatization in primary care — prevalence, co-occurence, and sociodemo- graphic characteristics. J. Nerv. Ment. Dis. 179 (1991) 647-655 4. Lipowski, Z. J.: Somatization — the concept and its clinical ap-

plication. Amer. J. Psychiat. 145 (1988) 1358-1368 5. Schur, M.: Comments an the Meta-psychology of Somatiza-

tion. Psa. Study Child 10 (1955) 119-164

6. Tomasson, K.; Kent, D.; Corywell, w.: Somatization and con- version disorders — comorbidity and demographics at presen- tation. Acta. Psychiat. Scand. 84 (1991) 288-293

7. Wittchen, H. W.; Sass, H.; Zaudig, M.; Koehler, K.: Diagnosti- sches und Statistisches Manual Psychischer Störungen. DSM- III-R (1987), Beltz, Weinheim/Basel (1989)

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych.

Sven Olaf Hoffmann

Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin

und Psychotherapie der Universität Untere Zahlbacher Straße 8

55131 Mainz

Laparoskopische oder offene

Appendektomie?

In zunehmendem Maße wird ne- ben der Cholezystektomie auch die Appendektomie laparoskopisch durchgeführt.

In einer randomisierten Studie wurden je 70 Patienten offen oder la- paroskopisch appendektomiert, wo- bei Alter, Geschlecht, Dauer der

Symptome und Anteil der Patienten mit histologisch verifizierter Appendi- zitis in beiden Gruppen gleich waren.

Die Operationsdauer war bei der laparoskopischen Appendekto- mie mit 70,3 Minuten signifikant län- ger als bei dem offenen Vorgehen (46,5 Minuten). Beidesmal traten keine größeren intraoperativen Kom- plikationen auf. 14 (20 Prozent) der Patienten in der für eine laparoskopi- sche Appendektomie vorgesehenen Gruppe mußten aus verschiedenen Gründen doch offen operiert wer- den. Postoperativ fand sich kein Un- terschied hinsichtlich Schmerzhäu- figkeit, Analgetikabedarf, Nahrungs- aufnahme und Krankenhausaufent- haltsdauer. Auch bezüglich der post-

operativen Arbeitsfähigkeit ergab sich kein Unterschied, während die Zahl der Wundheilungsstörungen nach Entlassung aus dem Kranken- haus nach laparoskopischer Append- ektomie geringfügig niedriger lag.

Die Autoren kommen zu dem Schluß, daß der postoperative Ver- lauf nach laparoskopischer und kon- ventioneller Appendektomie sich nicht unterscheidet.

Tate, J. J. T., J. W. Dawson, S. C. S.

Chung, W. Y. Lau, A. K. C. Li: Laparos- copic versus open appendicectomy: pro- spective randomised trial. Lancet 1993;

342: 633-637,

Department of Surgery, Chinese Univer- sity of Hongkong, Prince of Wales Hospi- tal, Shatin, New Territories, Hongkong.

Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 3, 21. Januar 1994 (37) A-117

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