Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
AUSSPRACHE
Die Publikation von Zabransky und Sitzmann erfordert einige Richtig- stellungen, damit bei der bevorste- henden allgemeinen Einführung des Hypothyreose-Screenings nicht Fehlentscheidungen gefällt werden.
In ihrer Darstellung empfehlen die Autoren die Verwendung von Nabel- schnurblut zur Untersuchung auf er- höhte TSH-Werte. Mit der Untersu- chung des Nabelschnurblutes kön- nen zwar schwere Hypothyreosen relativ sicher erkannt werden, je- doch werden leichtere Formen of- fensichtlich übersehen. Die Autoren fanden dementsprechend nur 7 Hy- pothyreosen unter rund 27 000 Neu- geborenen (etwa 1:3900) und in al- len Fällen handelte es sich um schwere Formen.
Wir haben uns, wie auch die meisten ausländischen Institute, für die Un- tersuchung am fünften Lebenstag entschieden und haben so unter et- wa 60 000 untersuchten Neugebore- nen 22 Fälle von primärer Hypothy- reose ermittelt (1:2700). Einer der Gründe für die höhere Nachweisrate in Niedersachsen mag darin zu se- hen sein, daß bei Untersuchung am fünften Lebenstag bereits wesent- lich geringere Erhöhungen des TSH- Blutspiegels Anlaß zu Kontrollunter- suchungen geben (etwa 10 4/ml).
So sind in unserer Serie vier Kinder mit Schilddrüsendystopie oder -dys- plasie, die sich erst mit Verzögerung zu einer manifesten Hypothyreose entwickelt haben, entdeckt worden.
Der TSH-Blutspiegel lag hier zu- nächst unter 20µU/ml. Da andere Laboratorien so niedrige, aber eben doch deutlich erhöhte Werte unter Umständen nicht kontrollieren, er- scheint uns die Behauptung, falsch negative Screeningergebnisse kä-
men nicht vor, nicht berechtigt. We- gen der größeren diagnostischen Si- cherheit empfehlen wir, die Untersu- chung nicht vor dem fünften Le- benstag vorzunehmen.
Alle zuständigen Fachgesellschaf- ten sind sich darin einig, daß die Diagnose der konnatalen Hypothy- reose aus Trockenblut hohe Anfor- derungen an die Qualität der Unter- sucher und an die Laboreinrichtun- gen stellt. Nach Auffassung der Fachgesellschaften sollte deshalb diese schwierige radioimmunologi- sche Untersuchung nur in einer be- schränkten Zahl von Laboratorien, die bestimmte Voraussetzungen er- füllen und der aufwendigen Quali- tätskontrolle gerecht werden, durchgeführt werden.
Die Ausführungen von Zabransky und Sitzmann dürfen nicht so inter- pretiert werden, als ob jedes Labor die Technik beherrschte. Die außer- ordentlich wichtige Nachsorge und Nachuntersuchung der Kinder wür- de außerdem durch Verteilung der Untersuchung auf eine unkontrol- lierbar große Zahl von Laboratorien sicher sehr erschwert.
Als beste Organisationsform hat sich in Niedersachsen, ebenso wie im Ausland, die Ankoppelung des Hypothyreose-Screenings an bereits vorhandene andere Screeningunter- suchungen erwiesen. Dies allein hat es sichergestellt, daß von Anfang an Proben von allen Neugeborenen un- tersucht werden. Auf Grund des dauernden und engen schriftlichen und telefonischen Kontaktes zu den Krankenhäusern werden alle Proben regelmäßig am fünften Tag abge- nommen, sofort eingesandt und un- tersucht. Verzögerungen von drei
bis sechs Wochen, wie von Zabran- sky und Sitzmann behauptet, sind uns nicht bekannt. Die gemeinsame Gewinnung und Einsendung der Proben für das Hypothyreose-Scree- ning und für andere Untersuchun- gen stellt eine erhebliche Arbeitser- leichterung für das Krankenhaus- personal dar. Es hat mit dazu beige- tragen, daß das Hypothyreose- Screening, bezogen auf die Zahl der nachgewiesenen Fälle, trotz der teu- ren Reagenzien und Apparatur in Niedersachsen deutlich preisgünsti- ger durchgeführt wird als das Phe- nylketonurie- und Galaktosämie- Screening.
Professor Dr. med. J. Sander Staatliches Medizinal- untersuchungsamt Alte Poststraße 11 Postfach 38 52 4500 Osnabrück
Schlußwort
Der Leserbrief von Herrn Professor Sander enthält leider eine Reihe fal- scher Aussagen.
Es ist deshalb notwendig, diese
„Richtigstellungen" richtigzustel- len, und zwar nicht nur aufgrund unserer eigenen Erfahrungen, son- dern auch durch fundierte Literatur- berichte.
Die TSH-Bestimmung im Nabel- schnurblut (NSB) ermöglicht gerade die Erfassung der klinisch noch un- auffälligen Fälle. Auch die von uns entdeckten Fälle waren klinisch oh- ne Symptome, also keine „schweren Fälle". Die angeborenen schweren Fälle haben klinische Zeichen und werden auch ohne Screening er- kannt. Die TSH-Bestimmung erst am fünften Tag bietet keine größere dia- gnostische Sicherheit. Die TSH-Be- stimmung im Nabelschnurblut er- möglicht in gleicher Weise eine zu- verlässige Abgrenzung pathologisch erhöhter Werte. Bei einem oberen Grenzwert von 50 4/1 beträgt die Rückrufrate nur 0,15 Prozent. Diese Befunde stimmen mit den Angaben von Walfish und Foley, welche die größten und längsten Erfahrungen
Hypothyreose-Screening bei Neugeborenen
Zu dem Beitrag von Professor Dr. Friedrich Carl Sitzmann und Professor Dr. Siegfried Zabransky in Heft 33/1979, Seite 2085 ff.
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Heft 49 vom 6. Dezember 1979 3257ECHO
Zu: „Ergebnisse nach Oberschen- kelamputationen" von Dr. med.
Albrecht Schneider im DEUT- SCHEN ÄRZTEBLATT, Heft 43/
1979, Seite 2810 ff.
Besorgnis
über mehr Raucherbeine
„Die Zahl schwerer arterieller Durchblutungsstörungen der Beine ist in der letzten Zeit besorgniserregend angestie- gen. Ursachen seien der noch immer zunehmende Nikotin- mißbrauch, die schlechte und übermäßige Ernährung und der Mangel an körperlicher Betätigung wie Sport als Aus- gleich zur täglichen Büroar- beit. Die Amputation derarti- ger ,Raucherbeine` ist bis jetzt in vielen Fällen immer noch die letzte Möglichkeit, das Le- ben zu retten." (lnw in: Neue Westfälische und andere Ta- geszeitungen)
Zu: „Die Schwerhörigkeit im Al- ter" von Prof. Dr. Dr. Ernst Lehn- hardt im DEUTSCHEN ÄRZTE- BLATT, Heft 42/1979, Seite 2738 ff.
Neue Hilfe
für alle Schwerhörigen
„Die sogenannte Alters- schwerhörigkeit' hat wenig mit dem Alter des Betroffenen zu tun, sondern ist eine Folge von krankhaften Störungen.
Das haben Wissenschaftler der Hals-Nasen-Ohren-Klinik der Medizinischen Hochschu- le Hannover im Test an mehr als 250 Patienten höheren Al- ters festgestellt. Deshalb ist es nicht gerechtfertigt, auf eine gezielte Behandlung zu ver- zichten. Zumindest das Fort- schreiten der im Alter auftre- tenden Schwerhörigkeit kann nach gründlicher Untersu- chung der Kreislauf- und Stoffwechselsituation einge- dämmt oder verhindert wer- den." (Welt am Sonntag) Zur Fortbildung
Aktuelle Medizin
AUSSPRACHE
in der Durchführung des Screening haben, überein. Gestationsalter. Ge- burtsgewicht, Art der Entbindung, Erkrankungen der Mutter und Ap- garnote beeinflussen den TSH-Ge- halt im Nabelschnurblut nicht. Wohl aber findet man bei Frühgeborenen und Kindern mit Atemnotsyndrom zu einem späteren Zeitpunkt (fünf- ten Tag oder später) nicht Hypothy- reose-bedingte TSH-Erhöhungen.
In den Screeningprogrammen, wel- che auf der Basis der TSH-Analyse im NSB beruhen, wurden etwa gleich hohe Raten an primären Hy- pothyreosen entdeckt. wie bei der Testung am fünften Tag. Es ist dabei aber wichtig, daß man die passage- ren Formen davon abgrenzt. Wir ha- ben im Saarland vom Januar 79 bis September 79 etwa 9000 Neugebo- rene untersucht und dabei drei per- manente Hypothyreosen und zwei passagere Fälle diagnostiziert. Bei der Beurteilung des Berliner Unter- suchungsgutes (73/78) ist zu be- rücksichtigen, daß außer den im Screeningprogramm entdeckten Fällen auch vier weitere Fälle be- kannt wurden, welche aufgrund der klinischen Ausfälle diagnostiziert wurden.
Die Beobachtung von Herrn Sander, daß der TSH-Test am fünften Tag normal ausfallen kann und es den- noch später allmählich zu einer Hy- pothyreose kommt, bestätigt unsere Empfehlung, in allen Fällen eine Zweitunters-uchung zum Zeitpunkt der U3 durchführen zu lassen. Dies hat jedoch nichts mit falsch negati- ver Befundung zu tun. Darunter ver- steht man, daß der TSH-Wert im Normbereich liegt, obwohl eine pri- märe Hypothyreose zum Zeitpunkt der Untersuchung vorliegt. Der wichtigste Vorteil der TSH-Bestim- mung schon im NSB ist die frühest- mögliche Diagnosestellung und der frühzeitigste Therapiebeginn. Eine europäische kollaborative Studie der ESPE (European Society of Pe- diatric Endocrinology) im Juni 1979 hat ergeben: In 16 europäischen Zentren wurden insgesamt 163 Hy- pothyreosen im Screening entdeckt.
Nur 39 Kinder (23,9 Prozent) wurden ab der 2. Woche behandelt. Bei 82
Kindern (50,3 Prozent) wurde die Behandlung in der 3. und 4. Woche begonnen. 42 Kinder (25,7 Prozent) waren 6 bis 9 Wochen alt. Diese An- gaben decken sich mit den Berich- ten aus USA und Kanada. Das durchschnittliche Alter bei Thera- piebeginn betrug 24,3 ± 13,9 Tage (theoretisches Alter 13,5 ± 4,4 Tage).
Bis jetzt haben wir keine gesicherten Daten darüber, ob die Prognose der geistigen und psychomotorischen Entwicklung nicht doch wesentlich besser ist, wenn die Diagnose nicht erst in der 3. und 4. Woche oder gar später, sondern schon in der 1. und 2. Woche post partum gestellt und der Hormonmangel behandelt wird.
Um nicht Gefahr zu laufen, den er- heblichen finanziellen und persönli- chen Aufwand, den ein derartiges Massenscreening erfordert, nicht durch optimale Ergebnisse gerecht- fertigt zu sehen, ist die TSH-Bestim- mung im Nabelschnurblut sicherlich der optimale Zeitpunkt für die Durchführung des Hypothyreose- screening. Diese Organisationsform sollte überall dort angestrebt wer- den, wo dies möglich ist. Als Kom- promiß sollten an anderen Stellen PKU- und Hypothyreosescreening gekoppelt werden.
Literatur
(1) Delange, F.: Neonatal screening for con- genital hypothyroidism in Europe, Acta. En- docrinologica, 90 (1979) Suppl 223 — (2) Foley, T. jr.: Cord blood TSH-Screening, Vortrag, In- ternational Conference an neonatal thyroid screening, Sept. 1979 Quebec, Kanada — (3) R.: Ergebnisse einer kollaborativen Stu- die: Hypothyreosescreening, Vortrag, Jahres- tagung der ESPE, Juli 1979 — (4) Walfish, P. G., et al: Results of a regional cord blood screen- ing programm for detecting neonatal hypothy- roidism, Arch. Childh. 54 (1979) 171 — (5) Za- bransky, S.: Hypothyreosescreening bei Neu- geborenen. Med. Klinik 74 (1979) 1465 im Druck
Prof. Dr. med. S. Zabransky Leiter der Abteilung für Päd. Endokrinologie Universitäts-Kinderklinik 6650 Homburg/Saar Professor Dr. med.
F. C. Sitzmann, Direktor der Universitäts-Kinderklinik 6650 Homburg/Saar
3258 Heft 49 vom 6. Dezember 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT