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Archiv "Transformationsprozess: Alte Strukturen als Erblast" (16.10.2009)

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Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 106

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Heft 42

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16. Oktober 2009 A 2085

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ls der Eiserne Vorhang vor et- wa 20 Jahren fiel und der Transformationsprozess in den Län- dern Mittel- und Osteuropas sowie Zentralasiens begann, waren viele voll der Hoffnung: Es waren Hoff- nungen auf mehr durch den Über- gang vom Kommunismus zu parla- mentarischen Demokratien, es wa- ren Hoffnungen auf endlich weni- ger Staat und mehr Markt. Auch im Gesundheitswesen, das bis zum Um- bruch komplett der Lenkung und Finanzierung durch den Staat unter- legen war, gingen die Wendejahre mit großen Erwartungen einher.

Ärzte hofften auf endlich mehr Gehalt, Internationalität und größe- ren Einfluss, Gesundheitspolitiker auf Geldsegen durch Privatisie- rungsprozesse, Patienten auf eine Versorgung „wie im Westen“. Es sollte sich allerdings herausstellen, dass sich jahrzehntelanges Denken nicht einfach verändern lässt, wie Prof. Dr. med. László Pávic von der Medizinischen Fakultät der Univer- sität in Szeged, Ungarn, im Ge- spräch mit dem Deutschen Ärzte- blatt vor einigen Jahren unterstrich.

Rückblickend haben alle zehn mittel- und osteuropäischen EU-

Mitgliedstaaten den richtigen Weg eingeschlagen, auch die Länder Zentralasiens. Die Regierungen führten Volks- beziehungsweise Bürgerversicherungen mit Pflicht- mitgliedschaft für die Gesamtbe- völkerung ein, zum Teil ( in Tsche- chien und der Slowakei) konnten sich mehrere Krankenkassen etab- lieren, zum Teil (in Polen, Ungarn, Slowenien, dem Baltikum, Rumä- nien und Bulgarien) entstanden na- tionale Einheitskassen mit regio- nalen Ablegern.

Bettenabbau und Schließungen

Die Krankenkasse, so wurde festge- legt, schließt mit den Leistungser- bringern Verträge ab; meist steht sie unter der Aufsicht des jeweili- gen Gesundheitsministeriums. Pri- vate Krankenversicherungen ent- standen nur schrittweise, noch ha- ben sie angesichts fehlender Klien- tel nicht den Stellenwert wie in Deutschland. Die meisten dieser Krankenversicherungssysteme wer- den über Beiträge von Arbeitneh- mern und -gebern finanziert, zum Teil auch überwiegend über Steuern oder über eine Mischfinanzierung.

In nahezu allen Ländern wurde im Zuge der Transformation die Krankenhauslandschaft umstruktu- riert, es kam zu Bettenabbau, Schließungen und zum Teil zur Ein- führung einer Vergütung nach Fall- pauschalen. Ehemals in Poliklini- ken angestellte Ärzte machten sich schrittweise selbstständig, es ent- standen Einzel- und Gemein- schaftspraxen, Regierungen setzten auf Primärarztsysteme. Zudem führten sie, wenngleich unter gro- ßem Protest, in einigen Ländern Zuzahlungen zu Arzneimitteln, zu zahnärztlichen und ärztlichen Leis- tungen ein. Der Anteil der Gesund- heitsausgaben am Bruttoinlands- produkt wurde größer.

Trotz dieser Reformen – und zum Teil gerade deshalb – ging der Transformationsprozess in nahezu allen Ländern Mittel- und Osteu- ropas sowie Zentralasiens mit mas- siven Problemen und einer Unzu- friedenheit aller am Gesundheits- wesen beteiligten Akteure einher.

Die strauchelnden Volkswirtschaf- ten lassen bislang äußert wenig In- vestitionen zu, die vor allem in den Krankenhäusern notwendig sind.

Der chronische Geldmangel mani- TRANSFORMATIONSPROZESS

Alte Strukturen als Erblast

Die osteuropäischen und zentralasiatischen Reformländer haben seit

1990 Krankenversiche - rungen eingeführt und die

medizinische Versorgung neu geordnet. Doch zwischen Wunsch und

Wirklichkeit klaffen Lücken. Fotos:

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16. Oktober 2009 festiert sich in Wartelisten, veralte-

ten medizinischen Geräten und zu niedrigen Gehältern der Ärzte.

Im ambulanten Bereich klagen Ärzte über eine zu hohe Arbeitsbe- lastung, die Zuzahlungen seien noch immer nicht ausreichend. Da viele Krankenversicherungen nach nur wenigen Tagen eines neuen Monats nicht mehr zahlen können, sind Kli- nikkapazitäten bisweilen nur zu 50 Prozent ausgelastet. Ärzte müssen neben ihren Tätigkeiten an staatli- chen Kliniken privat hinzuverdienen.

Allen voran wird das Anspruchs- denken der Patienten kritisiert, ein Überbleibsel aus sozialistischen Zei- ten. „Die Patienten verlangen immer nur das Beste, weil sie es aus sowje- tischen Zeiten gewohnt sind, alles bezahlt zu bekommen“, stellte die Leiterin der Public-Relations-Abtei- lung des Universitätskrankenhauses in Wilna, Litauen, Ausrine Lisaus- kiene, 2006 fest. Doch auch die Pa- tienten haben es nicht leicht: Über Jahrzehnte an Korruption und Miss- wirtschaft gewöhnt, geben viele dem Arzt lieber etwas Geld in die Hand oder bringen Naturalien mit, als dass sie bereit wären, einen höheren Kran- kenversicherungsbeitrag zu zahlen.

Nicht zuletzt mangelt es in vielen Transformationsländern an Konti- nuität in der Politik. Zum Teil kam es innerhalb weniger Jahre zu viel- fachen Wechseln der Gesundheits- minister, die jeweiligen Minister selbst erfreuten sich vor dem Hin- tergrund großer Herausforderungen und Umbrüche wenig Beliebtheit.

Kurzum: In allen Ländern braucht der Fortschritt seine Zeit.

Deutliche Umbrüche

Der Transformationsprozess verän- derte auch die Krankenversorgung tief greifend. Besonders deutlich werden diese Umbrüche auf dem Gebiet der Tuberkulosekontrolle, die in Russland mithilfe von Scree- ningmaßnahmen betrieben wurde.

Da mit dem Ende der Sowjetunion und der Aufspaltung in die Russi- sche Föderation sowie weitere un- abhängige Staaten auch das sowje- tische Gesundheitssystem und seine flächendeckende, zentral organi- sierte Krankenversorgung in ihren bisherigen Formen zusammenbra-

chen, fanden sich die Medikamen- tenvorräte plötzlich in unterschied- lichen Staaten wieder. Eine zentral gesteuerte Versorgung war nicht mehr möglich. Die von der Weltge- sundheitsorganisation (WHO) emp- fohlene Kombinationstherapie (first line drugs) ließ sich nicht mehr flä- chendeckend durchführen. Ärzte vernachlässigten die Kontrolle der Medikamenteneinnahme, das wie- derum trug dazu bei, dass Resisten- zen beim Mycobacterium tubercu- losis entstanden.

Bestehende Kontrollsysteme Vom Anfang der 90er-Jahre bis zur Jahrtausendwende stieg die Zahl neuer Fälle von Tuberkulose (Tb) in diesen Ländern von circa 97 000 (1991) auf rund 250 000. Seitdem haben sich die Zahlen auf hohem Ni- veau stabilisiert. Die steigenden Ra-

ten resistenter und multiresistenter Tuberkulosefälle verkomplizieren die Situation. In den 90er-Jahren wurde auch in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion damit begonnen, das von der WHO entwickelte Modell zur Tuberkulosekontrolle, „DOT“ (direct- ly observed therapy) einzuführen.

Die internationale Strategie stieß dabei auf Gesundheits- und Kon- trollsysteme, die ihre Wurzeln im sowjetischen System hatten. Refor- men fanden seitdem kaum statt.

Russland, das größte der Sowjet- Nachfolgeländer, liegt nach Anga- ben der WHO gegenwärtig auf Rang elf der 22 der „high burden countries“ weltweit. Im Jahr 2006 wurden in Russland etwa 125 000 Tuberkulosefälle und 28 000 Sterbe- fälle registriert, auch aufgrund zu- nehmender HIV-Tb-Koinfektionen.

Das konventionelle System der Tu- berkulosekontrolle aus (post-)sow- jetischer Zeit zeichnete sich durch folgende Charakteristika aus:

1. Diagnostik und Therapie der Tuberkulose werden in krankheits- spezifischen Zentren und Netzwer- ken organisiert. Dazu gehören so- genannte Tuberkulose-Dispensaires und spezialisierte Krankenhäuser mit zum Teil sehr langen Liegezei- ten der Patienten. Solche Netzwer- ke in dieser schwierigen epidemio- logischen Situation zu unterhalten, lässt die Kosten für die Tb-Be- kämpfung explodieren.

2. Die Diagnose erfolgt vor allem klinisch und auf der Grundlage ra- diologischer Befunde. Die mikro- biologische Diagnostik hat zuweilen nicht die Bedeutung, die sie auf- grund ihrer Aussagekraft hinsicht- lich Erregeridentifizierung und der Resistenzsituation haben müsste.

3. Die Therapie erfolgt zumeist individuell und nicht nach Resis- tenzmuster oder nach den WHO- Empfehlungen zur Kombinations- therapie. Dies führt, gepaart mit fehlenden mikrobiologischen Infor- mationen, dazu, dass sich resistente Stämme weiter ausbreiten.

4. Die Bevölkerung wird regel- mäßig durch Röntgenreihenuntersu- chungen auf latente oder offene For- men der Tuberkulose hin untersucht (active case finding). Die WHO emp- fiehlt zwar ein „passive case find- ing“. Ein aktives Screening kann aber in Hochprävelanzländern wie Russland durchaus sinnvoll sein.

Die aktuelle Situation erfordert ein schnelles Handeln. Wichtig wäre es nach Angaben von Dr. med. Timo Ulrichs vom Koch-Metschnikow- Forum (Berlin), eine qualitätskon- trollierte mikrobiologische Diagnos- tik inklusive einer flächendeckenden Resistenztestung auszubauen. Dar- über hinaus gilt es, auf der Grundla- ge der vorhandenen Strukturen prä- ventiv tätig zu werden, Tb-HIV-Koin- fektionen abzuwenden und überkom- mene Maßnahmen wie das aktive Bevölkerungsscreening in manchen Regionen gezielt zu integrieren. Ein- fach das DOT-System nach dem Vorbild afrikanischer Staaten einzu- führen, wäre weniger sinnvoll. ■ Martina Merten In Russland wird

die Bevölkerung regelmäßig durch Röntgenreihenun- tersuchungen auf latente oder offene Formen der Tuber- kulose hin unter- sucht.

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