Deutsches ÄrzteblattJahrgang 101Heft 4215. Oktober 2004 AA2773
S E I T E E I N S
W
enn der Streit um das richtige Reformmodell für das Ge- sundheitswesen sich – wie derzeit in der Union – zum persönlichen Machtkampf der Vorsitzenden zu- spitzt, gerät die Sache selbst leicht aus dem Blick. Grundkonsens der Politiker scheint zu sein: Jede Re- form, ob nun Kopfpauschale, Bür- gerversicherung oder eine Misch- form, ist besser als das bestehende Versicherungssystem. Dabei wird ein Vorteil der Gesetzlichen Kran- kenversicherung (GKV), den sie bei allen unbestreitbaren Struktur- problemen hat, schlicht vergessen:Sie kommt im Gegensatz zur Ren- ten- und Arbeitslosenversicherung ohne milliardenschwere Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt aus, die jährlich neu beschlossen wer- den müssen. Die seit diesem Jahr
fließenden Bundesmittel dienen der Abgeltung versicherungsfrem- der Leistungen. So ist die Finanz- grundlage der GKV weniger von den Launen der Tagespolitik ab- hängig als andere Sozialversiche- rungszweige.
Aber machen die ständigen Bei- tragssatzsteigerungen nicht einen Systemwechsel zwingend notwen- dig? Vorsicht ist angezeigt. Das Fritz Beske Institut für Gesundheits- System-Forschung kommt in einer neuen Studie zu einer Schlussfolge- rung, die Politiker ungern hören: Die Höhe der Krankenkassenbeiträge ist maßgeblich nicht systembedingt, sondern durch politische Entschei- dungen herbeigeführt worden. Das Institut hat aufgelistet, welche Be- lastungen die Politik der GKV seit 1977 aufgebürdet hat. Dabei kom-
men zahlreiche „Verschiebebahn- höfe“ zugunsten des Staatshaushalts, der Renten- und der Arbeitslosen- versicherung in den Blick, die teil- weise schon Jahre zurückliegen. Die Gesetzgebung der Jahre 1989 bis 2002 führt 2004 bei den Kranken- kassen zu 4,6 Milliarden Euro Ein- nahmeausfällen. So ist die Bemes- sungsgrundlage der Bezieher von Arbeitslosenhilfe seit 1997 dreimal gesenkt worden. Nach Beskes Berechnungen summiert sich die unmittelbare politische Erblast, die die GKV zu tragen hat, auf 0,86 Beitragspunkte. Das heißt: Der Beitragssatz könnte im Schnitt bei 13,24 statt bei 14,1 Prozent liegen.
Der Vorwurf hat einige Berechti- gung: Die Situation, aus der die Politik derzeit einen Ausweg sucht, hat sie selbst herbeigeführt. Heinz Stüwe
Reformdiskussion
Politische Erblast
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iesmal ist die ärztliche Berufs- ordnung ihrer Zeit voraus. Das gilt für die im Mai vom Deutschen Ärztetag in Bremen beschlossene Änderung der (Muster-)Berufsord- nung. Soeben ist der Bayerische Ärz- tetag (Bericht in diesem Heft) dem Bremer Signal gefolgt, Schleswig- Holstein ging bereits voran, zwei weitere Ärztekammern dürften in diesem Jahr noch folgen. Die Be- schlüsse zur Berufsordnung bedür- fen der behördlichen Genehmigung, gelten also noch nicht.Die Novellierung hat es in sich. Es geht um neue Formen der ambulan- ten ärztlichen Versorgung. Was über Jahrzehnte verboten war, soll nun Praxis werden. Geknackt wird die Domäne des ärztlichen Freibe- ruflers, die Bindung der Praxis an ei- nen Ort. Damit wird eine Filialisie-
rung möglich – bis hin zu Praxisket- ten? Den einen graust davor, andere setzen auf solcherlei Expansion.
Angestoßen hat die Entwicklung der Bundesgesetzgeber, indem er mit dem GKV-Modernisierungsge- setz das Medizinische Versorgungs- zentrum (MVZ) kreierte. Das ist eine Poliklinik, die, grob gesagt, fast alles darf, was Freiberuflern bisher verboten ist. Und mit den künftigen MVZ will man gleichziehen, so über- einstimmend die Delegierten des Bayerischen Ärztetages. Anderer- seits wollte man den ärztlichen Frei- berufler nicht preisgeben, Filialen sollten also nur in räumlicher Nähe möglich sein. Ein solcher Wunsch ließ sich aber auf die Schnelle nicht formulieren, und die Juristen hatten zudem grundsätzliche Bedenken.
Also bleibt’s bei Filialisierung,
Praxisketten eingeschlossen, obwohl nicht gewollt.
Nicht gewollt? Die Interessen- lagen sind verwirrend: Ärzte, die am liebsten die Einzelpraxis beibe- hielten. Ärztliche Unternehmer, die endlich nach dem Muster der Klinik- ketten loslegen wollen. Kranken- hausärzte, die die freie Praxis als Zuflucht anstreben und ihre in der Klinik erworbenen Fähigkeiten auch ambulant optimal einsetzen möch- ten. Aber auch Krankenhausärzte, die mit dem Krankenhaus, ergänzt um ein oder mehrere MVZ, in die ambulante Versorgung einsteigen wollen und in den neuen Kooperatio- nen unliebsame Konkurrenz wittern.
Eine Gemengelage also. Ausge- sprochen werden die Interessen sel- ten. So werden sie sich demnächst am
„Markt“ offenbaren. Norbert Jachertz