P O L I T I K
Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 11½½16. März 2001 AA661
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ir gehen nach Europa, oder Eu- ropa kommt zu uns.“ Die eu- ropäische Inte- gration ist nach Ansicht von Dr.med. Manfred Rich- ter-Reichhelm nicht aufzuhalten. Sie bie- te aber auch Chancen, betonte der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bun- desvereinigung (KBV) beim
Symposium „Freizügigkeit in Europa versus staatliche Reglementierung in Deutschland“ seiner Organisation in Königswinter. Richter-Reichhelm sieht positive Beispiele für die gelungene Umsetzung der Freizügigkeitsregelun- gen auch für Patienten. Die Euregio- Projekte in den Grenzgebieten zu den Niederlanden und Belgien zeigten, dass es durchaus möglich sei, Vereinbarun- gen für die grenzüberschreitende Inan- spruchnahme von medizinischen Lei- stungen zu treffen, die Vorteile für Ver- sicherte und Kostenträger böten (vgl.
DÄ, Heft 10/2001). Außerdem kenne das deutsche Gesundheitssystem weder Wartelisten noch Altersgrenzen für be- stimmte Leistungen. „Dem Wettbe- werb um Patienten aus den EU-Mit- gliedstaaten können wir daher mit rela- tiver Ruhe ins Auge sehen“, so Richter- Reichhelm.
Dennoch werfen die Urteile des Eu- ropäischen Gerichtshofes in Sachen Kohll/Decker Fragen über die Auswir- kungen auf das deutsche Gesundheits- wesen auf. Die Luxemburger Richter hatten 1998 in den beiden Fällen ent- schieden, dass der Grundsatz des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs auch für medizinische Leistungen sowie für Heil- und Hilfsmittel gilt. Strittig ist noch, ob selbiges auch für die Inan- spruchnahme stationärer Leistungen gilt oder auf Sachleistungssysteme wie das deutsche übertragen werden kann.
Darüber wird der Europäische Ge- richtshof demnächst entscheiden. Dazu Richter-Reichhelm: „Europa setzt ei- nen neuen Rahmen. Diesen mit zu ge- stalten und die darin liegenden Chan- cen zu nutzen, gilt es ebenso, wie die na- tionalen Belange zur Absicherung der
Bürger im Krankheitsfall beizubehal- ten.“
Europäische Regelungen wirken sich in erster Linie mittelbar auf das deutsche Gesundheitssystem aus. Für den KBV-Vorsitzenden wirft dies vor allem folgende Fragen auf: Ist das Prin- zip der Sachleistung mit den EU-Be- stimmungen zur grenzüberschreiten- den Gesundheitsversorgung vereinbar?
Sind die Steuerungsinstrumente des deutschen Systems wie Budgets, Be- darfsplanung oder Gesamtvergütung auf Dauer haltbar? Ist das Kollektivver- tragssystem zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und den Leistungser- bringern gefährdet? Fragen, auf die zurzeit niemand eine klare Antwort pa- rat hat.
Der Weg darf nicht in die Staatsmedizin führen
„Europa kann uns zwingen, bestimmte Dinge zu ändern“, sagte Eike Hover- mann, stellvertretender gesundheitspo- litischer Sprecher der SPD. „Wir müs- sen das vorausschauend gestalten.“ Die Tatsache, dass Gesundheitspolitiker und andere Akteure des Gesundheits- wesens in puncto Europa bislang eher reagieren als agieren, hatte bereits am Vortag Dr. Hans Jürgen Ahrens vom AOK-Bundesverband kritisiert: „Wir haben der europäischen Entwicklung zu wenig Bedeutung beigemessen.“
Man müsse keine Europaphobie ent- wickeln. Aber die Politik müsse einen stärkeren Einfluss auf Entscheidungen aus Brüssel ausüben. Trotz der wettbe- werbsfreundlichen Entscheidungen der EU-Gremien war sich Ahrens sicher, dass es keinen unbeschränkten Markt im Gesundheitswesen geben wird. Ge- fährlich seien aber auch Tendenzen, vor dem Hintergrund von Kartellrechtser-
wägungen auf Kosten der Selbstverwal- tung mehr und mehr Befugnisse auf den Staat zu übertragen. Der Weg dürfe nicht in die Staatsmedizin führen.
Einhellig abgelehnt wurde auch eine Harmonisierung der Gesundheitssyste- me innerhalb der EU. „Das ist illu- sionär“, sagte Wolfgang Lohmann, ge- sundheitspolitischer Sprecher der CDU. Dafür herrschten in den Staaten zu unterschiedliche Auffassungen:
„Unser System ist erhaltenswert. Es hat eine Zukunft in Europa“, gab er sich optimistisch. Auch Wolfgang Schmeinck vom Bundesverband der Betriebskrankenkassen erteilte Har- monisierungsbestrebungen eine klare Absage: „Das würde zum einen die Re- gelungsdichte noch erhöhen. Zum an- deren käme von unserem System viel unter die Räder.“ Eine Ansicht, die aufseiten der Ärzte Dr. med. Michael Späth teilte. Der Vorsitzende der Kas- senärztlichen Vereinigung Hamburg sagte: „Ich bin froh darüber, dass die EU keine Vorgaben machen darf.
Rund 80 Prozent der mehrheitlich staatlichen Systeme arbeiten mit War- telisten und Rationierung. Davor wür- de mir grauen.“
Viele Äußerungen ließen darauf schließen, dass zum Bewahrenswerten des deutschen Gesundheitswesens das Sachleistungsprinzip gehört. Dazu Kas- senvertreter Schmeinck: „Eigentlich will hier niemand die Kostenerstat- tung.“ Um aber die Freizügigkeit der Patienten zu erleichtern, könne man über Ausnahmen bei einer Leistungs- inanspruchnahme im Ausland nach- denken. Überzeugt vom Fortbestand der solidarischen Krankenversicherung zeigte sich der Präsident der Bundes- ärztekammer, Prof. Dr. med. Jörg Diet- rich Hoppe: „Die europäischen Bürger wollen eine soziale Versicherung, keine Pflicht zur Versicherung.“ HHeeiikkee KKoorrzziilliiuuss