T H E M E N D E R Z E I T
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A2844 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 4325. Oktober 2002
Strukturelle Veränderungen der so genannten Selbstverwaltungsorgane im Sinne größerer innerer Demokratie und hin zu mehr Serviceleistung wer- den unumgänglich sein. Die Akzeptanz paternalistischer Strukturen schwindet allmählich, stattdessen ist kollektiver und freiheitlicher Führungsstil überfäl- lig.
Der Umbau des Gesundheitswe- sens im Sinne größerer Freiheitsgrade und Selbstbeteiligung der Akteure wird zu mehr Selbstverantwortung und we- niger Staatsbevormundung führen.
Die Ärzteschaft muss sich stärker mit den ökonomischen Randbedingun- gen ihres Tuns vertraut machen – bei Strafe des Untergangs. Wer die Ökono- mie kontrolliert, kontrolliert das Sy- stem – es ist nicht einzusehen, dass Ärz- te auf diese Kontrollfunktion freiwillig verzichten sollten.
❚Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 2840–2844 [Heft 43]
Literatur
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2. Brökelmann J: Wir deutschen Ärzte müssen uns vom Staat emanzipieren. BAO-Mitteilungen, ambulant operieren 3/2000, S. 137 ff.
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4. Gebuhr K, Brendan-Schmittmann-Stiftung: Die ver- tragsärztliche Gegenwart im Lichte des Burnout-Syn- droms; Die wirtschaftliche Entwicklung und die ärzt- liche Selbstverwaltung in der vertragsärztlichen Mei- nung, Berlin, Mai 2002.
5. Kaiser RH, Kortmann A: Ausgewählte Ergebnisse ei- ner Umfrage der Landesärztekammer Hessen zu Ar- beitszeiten und -bedingungen hessischer Kranken- hausärztinnen und -ärzte im Sommer 2001.
6. Ripke T: Der kranke Arzt. Dt Arztebl 97, 2000: A 237 ff.
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7. Schnetzer K: Der Vertragsarzt ist kein Unternehmer und kein Freiberufler. Ärzte Zeitung 10. März 1999 und zahlreiche persönliche Mitteilungen.
8. Unschuld PU: Der Arzt als Fremdling in der Medizin?
Von der Triebfeder zum Getriebenen, 25. Interdiszi- plinäres Forum „Fortschritt und Fortbildung in der Medizin“ der Bundesärztekammer, Köln, Januar 2001.
Anschrift des Verfassers:
Dipl.-Pol. Ekkehard Ruebsam-Simon Facharzt für Allgemeinmedizin
Vorstandssprecher der Nordbadischen Ärzteinitiative Schönauer Straße 48
69118 Heidelberg
E-Mail: ekkehard.ruebsam-simon@dgn.de
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ie Forschung an nichteinwilli- gungsfähigen Patienten in der Notfallmedizin war ein Schwer- punkt der diesjährigen Sommertagung des Arbeitskreises medizinischer Ethik- Kommissionen. Es wurde deutlich, dass klinische Forschung in der Notfallmedi- zin intensiviert werden muss, da die bis- herigen Therapieaussichten (zum Bei- spiel Zustand nach Schlaganfall, Hirn- blutung, Reanimation) ungünstig sind.Nationale und internationale Richtli- nien und Empfehlungen gehen da- von aus, dass vor Studienbeginn eine rechtswirksame Einwilligung vorliegen sollte. Aus klinischer Erfahrung lasse
sich ableiten, dass die Erfolgsaussich- ten umso günstiger sind, je schneller mit der Therapie begonnen werden könne.
Bei sehr kurzen Zeitspannen (zum Bei- spiel ein bis vier Stunden) kann eine rechtswirksame Einwilligung nicht rea- lisiert werden. Wenn jedoch größere Patientengruppen aufgrund der feh- lenden Einwilligung für solche Stu- dien nicht gewonnen werden können, nimmt die klinische Forschung nach Auffassung des Arbeitskreises in die- sem Bereich Schaden.
Diskutiert wurde, ob ein unabhängi- ger Arzt, der nicht an der Studie teil- nimmt, eine Beurteilung über die Eig- nung des Patienten zur Teilnahme an der Studie vornehme sollte, wobei der Arbeitskreis zu dem Fazit kam, dass der Nutzen überwiegen müsse. Ferner müs- se der mutmaßliche Wille des Patienten in Erfahrung gebracht und berücksich- tigt werden. Erst nach schriftlicher Er- klärung des unabhängigen Fachkolle- gen könnte der Patient gegebenenfalls in die Studie einbezogen werden. Von klinischer Seite wurde der Standpunkt vertreten, dass bei Phase-3-Studien (ak- zeptable Sicherheitslage der Prüfsub-
stanz, deutliche Hinweise auf eine the- rapeutische Wirksamkeit) Patienten ohne Vorliegen einer rechtswirksamen Einwilligung an Studien teilnehmen können. Von juristischer Seite wurde die Möglichkeit jedoch kontrovers be- urteilt, ob unter dem rechtlichen Kon- strukt der mutmaßlichen Einwilligung Patienten ohne Vorliegen einer rechts- wirksamen Einwilligung in Studien ein- bezogen werden können. Der Gesetz- geber wurde aufgefordert, eine gesetzli- che Regelung für die Forschung in der
Forschung in der Notfallmedizin
Ruf nach dem Gesetzgeber
Mit der Forschung an nichteinwilligungsfähigen Patienten in der Notfallmedizin sowie der Umsetzung der EG-Richtlinie Good Clinical Practice beschäftigte sich die dritte Sommertagung des Arbeitskreises der medizinischen Ethik-Kommissionen.
Ein Schwerpunktthe- ma der diesjährigen Sommertagung des Arbeitskreises medi- zinischer Ethik-Kom- missionen war die Forschung an nicht- einwilligungsfähigen Patienten in der Not- fallmedizin.
Foto: Peter Wirtz
Notfalltherapie zu schaffen. Wenn die vorhandene Rechtsunsicherheit nicht aufgelöst werden könne, wird die klini- sche Forschung im Bereich der Notfall- medizin in Deutschland weiter an Be- deutung verlieren.
Der Arbeitskreis befasste sich auch mit der EG-Richtlinie Good Clinical Practice 2001/20, die bis Mai 2003 in na- tionales Recht implementiert sein muss.
Die EG-Richtlinie führt zu einer Stär- kung und Erweiterung der Aufgaben von Ethik-Kommissionen. Der Arbeits- kreis hat folgende Forderungen erar- beitet, die bei der Implementierung der Richtlinie in nationales Recht berück- sichtigt werden sollen:
Beschränkung der Anwendung der EG-Richtlinie auf Arzneimittelfor- schung und nicht auf die gesamte Breite der biomedizinischen Forschung;
Festlegen des so genannten Arzt- vorbehalts, das heißt, nur ein Arzt kann Studien durchführen und leiten;
Qualitätsanforderung an die Funktion des klinischen Prüfers nach innerstaatlichen Kriterien;
Gesprächspartner für Ethik-Kom- missionen muss der Arzt bleiben, gege- benenfalls im Auftrag des Sponsors;
klare Regelungen für die Teilnah- me von nichteinwilligungsfähigen Pati- enten an klinischen Studien;
Beibehaltung und Ausbau des eta- blierten Systems der öffentlich-rechtli- chen Ethik-Kommissionen;
bei Multicenterstudien sollte das bewährte System der Mehrfachbefas- sung beibehalten bleiben, das heißt, je- de Ethik-Kommission muss das Recht haben, Prüfprotokoll, vorliegendes Vo- tum und lokale Gegebenheiten zu bera- ten, unter Wahrung der gesetzlich vor- gegebenen Fristen (siehe weiter unten);
Ethik-Kommissionen müssen das Recht einer eigenständigen Prüfung der wissenschaftlichen Dignität haben; alle von der Ethik-Kommission für notwen- dig angesehenen Unterlagen müssen dieser vorgelegt werden; eine bindende Vorbeurteilung der wissenschaftlichen Relevanz und Aussagekraft zum Bei- spiel durch Behörden widerspricht den Aufgaben und dem Selbstverständnis der Ethik-Kommissionen;
Recht der Ethik-Kommissionen, die Einrichtung eines DSMB (Data Safety Monitoring Board) zu fordern;
Etablierung eines effizienten Sy- stems zur Dokumentation und Beurtei- lung von SAE in Kooperation mit Behörden, Sponsor, LKP und Ethik- Kommissionen;
Berücksichtigung einer angemes- senen Kostenordnung;
klare Abgrenzung zwischen der Aufgabenstellung von Behörden und Ethik-Kommissionen.
Schließlich wurden rechtliche und in- haltliche Rahmenbedingungen vorge- stellt, damit bei Multicenterstudien Qualitätssicherung sowie die wesentli- chen Aufgaben von Ethik-Kommissio- nen angemessen umgesetzt werden können. Auf breite Zustimmung stieß folgende Handlungsoption: Nach dem Zuständigkeitsprinzip des Leiters der klinischen Prüfung wird die votierende Ethik-Kommission festgelegt, die ein bundesweit gültiges Votum erteilt. Die lokalen Ethik-Kommissionen können sich in den Beratungsvorgang einbrin- gen, um zum Beispiel auf besondere Ri- siken hinzuweisen und gegebenenfalls Änderungsvorschläge zu unterbreiten.
Ein solches Verfahren trägt zur Vertrau- ensbildung in der Öffentlichkeit bei und stärkt die Motivation potenzieller Studienteilnehmer. Die votierende Ethik-Kommission wird innerhalb der vorgegebenen Fristen auf Grundlage der eingegangenen Stellungnahmen so- wie ihrer eigenen Beratung ein bundes- weit gültiges Votum erstellen.
Abschließend wurden Konsequen- zen besprochen, die sich aus der Novel- lierung von Strahlenschutz- und Rönt- genverordnung ergeben. Den Ethik- Kommissionen kommt eine Gutachter- funktion zu. Ihr Votum (Stellungnah- me) wird dem Bundesamt für Strah- lenschutz vorgelegt, das die Geneh- migung für die Studie erteilt; die Über- wachung der Studiendurchführung er- folgt durch Landesbehörden. Es ist ein Versicherungsschutz nach Atomgesetz und atomrechtlicher Deckungsvorsor- geverordnung nachzuweisen, wodurch kaum realisierbare Bedingungen ge- schaffen wurden. Eine Lösungmöglich- keit kann durch eine Freistellungsver- pflichtung der Bundesländer erfolgen, einzelne Bundesländer haben dies be- reits getan.
Prof. Dr. med. Ignaz Wessler Ethik-Kommission der LÄK Rheinland-Pfalz
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Schlusswort
Mit großem Interesse haben wir die vielfältigen und widersprüchlichen Re- aktionen auf unseren Artikel im DÄ re- gistriert. Die Freizeitregelung nach Be- reitschaftsdiensten ist eine Errungen- schaft, die nicht infrage gestellt wird. In dem vorgestellten Modell „48 + 12“
werden 48 Stunden maximale wöchent- liche Arbeitszeit für die Patientenver- sorgung einschließlich der Dienstzeiten und zusätzlich 12 Stunden maximale wöchentliche Arbeitszeit für Forschung und Lehre vorgesehen. Zahlreiche Le- serreaktionen zeigten die Unkenntnis, dass in der wöchentlichen Höchstar- beitszeit die Bereitschaftsdienstzeiten zu berücksichtigen sind.
Die Vorschläge zum Arbeitszeitmo- dell „48 + 12“ werden von einer breiten Mehrheit der operativ Tätigen an der Medizinischen Hochschule Hannover getragen. Die teilweise in den nicht- operativen Disziplinen umgesetzten Schichtarbeitsmodelle halten wir für die Lösung der Probleme in den opera- tiven Fächern für ungeeignet, da auf ab- sehbare Zeit nur ein limitierter Pool hoch qualifizierter und ausreichend er- fahrener Chirurgen vorhanden sein wird, um die operative Qualität zu si- chern.
Die ausführlichen und teilweise kontroversen Diskussionen innerhalb der Ärzteschaft bezüglich des Arbeits-
zu dem Beitrag
Bedrohliche
Konsequenzen in den chirurgischen Fächern
von
Dr. med. Harald Schrem Dr. med. Lutz Mahlke Dr. med. Stefan Machtens Dr. med. Christian Hagl in Heft 19/2002
und den Leserbriefen dazu in Heft 33/2002