Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 4722. November 2002 AA3137
S E I T E E I N S
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s ist ein lieb gewonnenes Ritual: Im November überreicht der Sachver- ständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sein Jahresgutachten an den Bundes- kanzler – ausgefeilte Ratschläge, die zu selten Einfluss auf politische Ent- scheidungen haben. Das könnte dies- mal anders werden, zumindest was das Kapitel Gesundheitspolitik be- trifft. Denn mit Prof. Dr. rer. pol. Bert Rürup zählt auch der Vorsitzende der neuen Kommission zur Reform der sozialen Sicherungssysteme zu den fünf „Wirtschaftsweisen“.Die Vorschläge für das Gesund- heitswesen: Den Krankenkassen soll es erlaubt werden, Einzelverträge mit Ärzten und Krankenhäusern zu schließen. Zudem wollen die Sachver- ständigen den Sicherstellungsauftrag an die Kassen übertragen. Die bis- herige Honorierung der Vertragsärz- te könnte ersetzt werden durch eine Kombination von Pauschalen, Ein- zelleistungsvergütungen und einem
ergebnisorientierten Vergütungsteil, meinen die Ökonomen. Um die Zahl der Arztbesuche zu verringern, müsse zudem für jeden nicht präventiven Erstbesuch eine Eintrittsgebühr be- zahlt werden. Damit die Krankenver- sicherungskosten nicht mehr die Ar- beitskosten belasten,wird vorgeschla- gen, die lohnabhängige Beitragsfi- nanzierung in der Gesetzlichen Kran- kenversicherung (GKV) durch ein Kopfpauschalensystem zu ersetzen.
Eine Ausweitung der Finanzierungs- grundlagen lehnen die Experten ab.
Der Rat spricht sich für einen ein- heitlichen, aber reduzierten GKV- Leistungskatalog aus. Leistungen, die als nicht dringend notwendig bewertet werden, sollten privat ab- gedeckt werden. Auch Leistungen nach Unfällen könnten aus dem Lei- stungskatalog gestrichen werden.
Für den Arzneimittelvertrieb und innerhalb der privaten Krankenver- sicherung befürworten die Ökono- men mehr Wettbewerb. So sollen
privat Krankenversicherte bei einem Anbieterwechsel die Alterungsrück- stellungen mitnehmen dürfen. Um die Wettbewerbsintensität beim Arz- neimittelvertrieb zu erhöhen, sol- len die Preisbindung zweiter Hand und das Versandhandelsverbot weg- fallen. Zudem sollen Apotheker auch mehrere Apotheken besitzen dürfen.
Im Herbst 2003 wird die Rürup- Kommission ihren Bericht zur Re- form der sozialen Sicherungssyste- me vorlegen. In welche Richtung die Änderungsvorschläge für das Gesundheitswesen zielen werden, scheint vorbestimmt: Der Trend geht zur Staatsmedizin. Ob dies noch ver- hindert werden kann, ist fraglich.
Ähnlich wie bei der Hartz-Kommis- sion für den Arbeitsmarkt ist zu be- fürchten, dass wiederum eine demo- kratisch nicht legitimierte Experten- runde ein fertiges Reformkonzept erarbeiten darf, das einer Gesetzes- vorlage gleichkommt. Jens Flintrop
Sachverständigenrat
Trend zur Staatsmedizin
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in gefundenes Fressen für die Sen- sationspresse – da wird mehr als 25 Jahre nach ihrem Selbstmord das Gehirn der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof am Institut für Psychiatrie der Universität Magdeburg ausfindig gemacht. Dort sollte der Frage einer möglichen Schuldunfähigkeit Mein- hofs wegen eines Hirnschadens nachgegangen werden. Dagegen sind die Gehirne der RAF-Terroristen Baader, Ensslin und Raspe, die jahre- lang am Institut für Hirnforschung der Universität Tübingen aufbewahrt wurden, inzwischen spurlos ver- schwunden. Und schon wird der Ruf nach dem Gesetzgeber laut, der füreindeutige Vorschriften sorgen soll.
Vergessen wird dabei, dass in diesen Fällen – anders als bei den klinischen Sektionen – die Obduktionen und Organentnahmen gemäß Strafpro- zessordnung auf bundesgesetzlicher Grundlage erfolgten. Gesetzlich nicht geregelt ist allerdings, was nach der Obduktion mit den entfernten Leichenteilen zu geschehen hat.
Ob gesetzliche Bestimmungen überhaupt geeignet sind, in einer solchen Gemengelage aus öffentli- chem Interesse, Forschungsinteresse und Achtung der Totenruhe den rechten Weg zu weisen, ist zweifel- haft. Hier wäre es Aufgabe der Ärz-
te, in ihren Gremien Regelungen zu entwickeln, die immer wieder aufs Neue den sich verändernden Ein- stellungen in der Bevölkerung zum Umgang mit Verstorbenen Rech- nung tragen.
Die aktuelle Diskussion darüber, ob das Transplantationsgesetz verfas- sungskonform ist, weil es die Bundes- ärztekammer zur Regelung der Or- ganverteilung ermächtige, lässt aller- dings vermuten, dass künftig strenge- re Anforderungen gestellt werden, wenn es um die Kompetenz der Ärz- te geht, in gesamtgesellschaftlicher Verantwortung mit medizinethischen Fragen umzugehen. Thomas Gerst